20. Juli 2019

银色的声音沉默了。 Zum Tod von Yao Li



姚莉(1922年9月3日-2019年7月19日) / Yao Li (3.9.1922 – 19.7.2019)


银色的声音沉默了 - "Die Silberne Stimme ist für immer verstummt." 

Genau genommen stimmt dieser Satz natürlich nicht. Denn zum einem war die Stimme von  姚莉 (Yao Li), die gestern in Hong Kong im Alter von 96 Jahren gestorben ist, seit einem halben Jahrhundert "verstummt". Nach dem Tod ihres fünf Jahre älteren Bruders Yao Min, 姚民, Yao Min, am 30. März 1967, hat sie keine Schallplattenaufnahmen mehr eingespielt (obwohl sie bis zu ihren "offiziellen Bühnenabschied" 1975 noch als Sängerin auftrat, während sie als Managerin für EMI Music Records Hong Kong tätig war). Und zum anderen bleiben natürlich die mehr als 400 Lieder, die sie während ihrer Plattenkarriere ab Ende der 1930er Jahre aufgenommen hat.


Und doch: mit dem Tod der "Silberstimme", 銀嗓子, yín sǎngzi, dem speziellen Bühnennamen, den ihr das Publikum im Shanghai der späten 1930er Jahre beigelegt hatte, geht unwiderruflich ein Ära zu Ende - oder vielmehr: die letzte Verbindung zu einer Ära, die mit der Machtübernahme der Kommunisten Maos im Sommer 1949 auf dem chinesischen Festland ihr Ende fand - und die ihrerseits ihre Existenz einer prekären Nische, einer Ausnahmesituation in dne politischen Wirren im China der Jahre zwischen dem Ende des Kaiserreichs der Qing-Dynastie 1911 und dem Reich der roten Kaiser darstellte: nämlich dem Shanghai jeder Jahre,  das als "Chinas Tor zur Welt" eine rasante Modernisierung durchlief, westliche Errungenschaften und Lebensstile zuerst zum Standard werden ließ und als erste Stadt die Aura, den Flair einer pulsierenden Weltmetropole entwickelte - mit all den Schatten- und Lichtseiten, die man - nicht nur im Osten, sondern auch im "Alten Europa" wie der "Neuen Welt" in jener Jahren mit der anscheinend außer Rand und Band geratenen Modernisierung verband. Bis heute ist das Shanghai jener gut 25 Jahre, und besonders in seinen letzten 15 Jahren, in ganz China ein Pendant zum Paris, New York oder Berlin der "roaring twenties", der Metropole als hemmungslos hedonistisch entgrenztes Babylon, als rasend leer- und heißlaufendes Experimentierfeld einer Moderne ohne Morgen, aber auch des Versprechens einer neuen Zeit nie gekannter Möglichkeiten, die ohne Unterbrechung bei Tag und Nacht einen Tanz auf dem Vulkan aufführte, während sich die Schatten des politischen Verhängnisses unaufhaltsam rundum verdichteten. (Wer die zutiefst zwiespältige Reaktion chinesischer Intellektueller auf dieses Neuland, diesen grellen Bruch mit den bergenden Traditionen, nebst der flankierenden Begeisterung, nicht mehr darin gefangen sein zu müssen, aus der Sicht eines Zeitgenossen als Leser unmittelbar nachempfinden möchte, dem sei die Lektüre der ersten drei Kapitel von Mao Duns Roman 子夜 (Zi ye, Mitternacht) empfohlen - dessen Protagonist, ein in hohem Alter stehender Dorflehrer, dessen Schüler ihm im Zuge der Weltwirtschaftskrise, die auch das China der republikanischen Ära heimsucht und der politischen Wirren des Bürgerkriegs der Warlords, die den größten Teil des Landes unter sich aufgeteilt haben, nicht mehr mit ausreichend Mitteln wie Reis,, Kleidungsstoff, Brennholz zum Lebensfristen versorgen können und der zerrissen von der Notwendigkeit, seiner Tochter und ihrer Familie zur Last zu fallen, mit der Bahn am Shanghaier Hauptbahnof eintrifft. Die Fahrt in der Fahrradrikscha durch die Stadt, die ihm als Höllenritt durch ein grelles, bizarres Inferno erscheint, in dem käufliche Lust grell geschminkt am Straßenrand feilgeboten wird, Opiumhöhlen und Spielcasinos ihr Angebot mit Leuchtschrift an den Nachthimmel schreiben - das ist ein Paradebeispiel dafür, daß das, was Alvin Toffler vier Jahrzehnte später als "future shock", als Zukunftsschock, bezeichnet hat, keineswegs ein Phänomen der letzten 50 Jahre darstellt und sich nicht auf "den Westen" beschränkt.)

Und natürlich ist der "Moloch", das "Babylon" nur die eine Seite der Medaille. Die rasante Modernisierung, der Anschluß an die technologische Zukunft, die Öffnung zu den Klängen, den Sprachen, den schieren Möglichkeiten außerhalb des Korsetts der alten Strikturen der eisernen Traditionen: das ist die andere. Ein besondere Volte kommt für das Shanghai im letzten Jahrzehnt dieser überhitzten Zeit hinzu, weil es ab 1937 (dem Jahr, in dem nach chinesischer Rechnung der zweite Weltkrieg mit dem Ausbruch des offenen Krieges durch Japan) eine weitgehend besetze Stadt war - die Japaner hatten im November 1937 nach zwei Monaten der "Schlacht um Shanghai", des "Stalingrads am Yangtse", das auf beiden Seiten 200.000 Soldaten das Lebens kostete, den größten Teil der Stadt besetzt - mit Ausnahme der beiden westlichen Konzessionen - der internationalen (die 1933 aus der Zusammenlegung der englischen und amerikanischen entstanden war, und der französischen), die durch die "ungleichen Verträge" nach der verheerenden Niederlage im zweiten Opiumkrieg 1864 den Westmächten zugestanden werden mußten. Die (Teil)-Regierung unter Wang Jingwei, mit Sitz im ebenfalls japanisch eroberten Nanjing war ein offener Vasall Japans. Dennoch war das Kulturleben jener Jahre - wenn man vom Verbot der Kritik an den Japanern absieht - von den politischen Verhältnissen erstaunlich unberührt: Genau ab 1937 entstanden die ersten großen Filme, die bis heute die Tradition des chinesischen Kinos begründen (mit 馬路天使, "Engel der Straße" von Yuan Muhzi als erstem Exempel) - oft erstaunlich kritische Sozialdramen, zumeist aber musikalische Komödien mit je einem Dutzend schmissiger Liedeinspielungen, die ihre Schauspielerinnen zu den ersten großen Stars des chinesischen Showbusiness machten. Die Ähnlichkeiten des Kulturlebens in diesem Jahren mit seinem Pendant im westlichen Paris nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht im Sommer 1940 sind mehr als frappant.

Und der "Soundtrack" jener Zeit, jener fiebrigen Jahre, ihre akustische Signatur, sofort wiedererkennbar, ein Vorrat als zeitlosen Liedern, die zu Evergreens geworden sind, ist der Shidaiqu, 時代曲, (der Name ließe sich, etwas unbeholfen, wörtlich etwa als "Lieder der jetzigen, der neuen Generation" übersetzen) - jenes einzigartigen Amalgams aus westlichen Spielweisen, den Phrasierungen des Jazz, und chinesischen Texten, lokalen Volksliedmelodien und Instrumentierungen zwischen Blues und Swing. Eine erstaunliche Anzahl dieser Schlager gehört bis heute zu den immer wieder eingespielten Evergreens der chinesischer Populärmusik. Und Yao Li, um den Bogen zum Auftakt dieses historischen Exkurses zurückzuspannen, war die letzte Überlebende dieser Ära, der letzte Star jener Jahre - wobei "Stern" als Vokabel eins zu eins genommen werden darf: 星, xing bezeichnet im Mandarin nicht nur die Lichtpunkte am Nachthimmel (im Singular wie im Plural, da das Chinesische keinen Numerus besitzt), sondern auch die Sterne auf Bühne und Leinwand, die Stars   eben. Yao Li gehörte zum Siebengestirn, den sieben größten "singenden Sternen" des Shidaiqu, den 七大歌星 (Qī (七, sieben) dà (大, groß) gē (歌, Gesang, Musik) xīng) - neben 白光, Bai Guang (1921-1999),(ihr Bühnenname bedeutet "Weißes Licht", aber wie die meisten des Siebengestirns war sie dem Publikum unter einem Spitznamen bekannt, in diesem Fall 低音歌后, "Königin der tiefen Stimme"), 白虹, Bai Hong ("Weißer Regenbogen") (1920-1992), 龔秋霞, Gong Xiuqia (1916-2004), die als Älteste als 大姐, "große Schwester" bekannt war, 李香蘭, Li Xianglan (1920-2014), 吳鶯音, Wu Yingyin (1922-2009), der "Königin der Kopfstimme", und 周璇, Zhou Xuan (1920-1957), dem größten und bis heute berühmtesten Kino- und Gesangstars jener Ära, der "goldenen Stimme", 金嗓子 (jīnsǎng zi). Frl. Yaos Sobriquet "silberne Stimme" war als Kontrast zu Zhou intendiert, die als junge Hauptdrastellering im oben erwähnten "Engel der Straße" zu so etwas wie einem chinesischen Superstar geworden war.

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(Sechs der Sterne des Siebengestirns: der v.l.n.r:  Bai Hong, Yao Lee, Zhou Xuan, Li Xianglan, Bai Guang, Wu Yingyin; das Photo ist eine Autogrammkarte, die ihre Plattenfirma RCA Shanghai 1944 an Fans verschickte, die um Autogramme baten. Bildquelle: Wikipedia)

Yao Li, 1922 in Shanghai geboren, nahm ihre erste Schallplattenaufnahme mit 14 auf und wurde 1937, nachdem Zhou Xuan auf sie aufmerksam geworden war, von Pathé, einer der beiden großen Plattenfirmen im Shanghai jener Jahre (und das meint: der gesamten chinesischen Plattenindustrie, das Konkurrenzunternehmen war die Shanghaier Dependance der Londoner RCA Victor) unter Vertrag genommen. Ihr Bruder, Yao Min, 1917 geboren, war ebenfalls ein populärer Sänger - einer der wenigen in einem Metier, das zum größten Teil weiblichen Stars vorbehalten war - wobei sich die männlichen Aufnahmen sehr oft auf Duette mit Partnerinnen beschränkten. Sein eigentlicher Verdienst besteht aber als Komponist. Der Protokollant hat es nicht nachgezählt, aber mindestens die Hälfte der Melodien der Schlager, der Jazzballaden, der Foxtrots und Tangos des Shidaiqu und der in den 1950er bis Mitte der 1960er in Hongkong aufgenommenen Stücke stammt aus seiner Feder - sind dürften Hunderte von Melodien sein.

Yao Lis erster großer Hit war 1940 ein Lied, das es bislang als einziges geschafft hat, in einer westlichen Coverversion eine gewisse Bekanntheit zu erlangen: 玫瑰玫瑰我愛你 - méiguī méiguī wǒ ài nǐ: "Rose, Rose, ich liebe dich". Die englischsprachigen Version wurde 1951 von Frankie Lane als "Rose, Rose I Love You" aufgenommen  - der Text hat freilich nichts mehr mit dem Original von Wu Cun zu tun:



Hier ein kleiner Ausschnitt aus einem Fernsehinterview aus dem Jahr 2017 über die Anfänge ihrer Karriere und ihre erste Engagements (mit englischen Untertiteln):



"Ciro's" durfte übrigens im Shanghai der späten Dreißiger Jahre den Ruf für sich beanspruchen, der gehobendste Nachtklub zu sein - neben dem legendären "Black Cat". - erbaut zwischen Mai und August 1936 mit der Hausnummer 444 an der wohl bekanntesten Straße des alten Shanghai, der Bubbling Well Road in der Internationalen Konzession, die sich Bund in gerade Ostrichtung fünfeinhalb Kilometer durch die Länge der alten Konzession zieht und auch heute eine der beliebtesten Einkausstraßen Shanghais darstellt (heute 南京路/Nanjing Lu) von Shanghais reichstem Tycoon, Victor Sassoon, dem die Stadt auch das den Bund beherrschende prächtige Cathay Hotel verdankt (beide Gebäude wurden vom Londoner Architekturbüro Palmer and Turner im Art Deco-Stil entworfen); die Baukosten beliefen sich auf die für die damalige Zeit astronomische Summe von eine Viertelmillion Yuan. Sassoon ging es darum, den bis dahin prächtigsten Klub, den Paramount Ballroom, auszustechen und die upper crust der Shanghaier Hautvolée als Gäste zu gewinnen.




"恭喜恭喜" - als Beispiel für ein Duett zwischen Bruder Yao und Schwester Yao und als Beispiel für westliche Instrumentierung - Django Reinhardt hat ja unüberhörbar Pate gestanden, erschien im Oktober 1945 aus Anlaß des Siegs über Japan; seither hat sich der Titel (der "Glückwunsch! Glückwunsch!" bedeutet) von seinem Anlaß emanzipiert und ist in China - sowohl auf dem Festland der Volksrepublik wie auf der Insel - so ziemlich der einzige Standardtitel, der den Beginn der neuen Jahres markiert.




Ein weiteres Duett der beiden, aus dem Jahr 1949: 愛相思 - "Sehnsucht nach Liebe":



Yao Li Gesangsstil zeigt - darin dem anderer Sängerinnen wie Zhou Xuan und Li Xianglan vergleichbar, die typische Entwicklung des Shidaiqu. Ursprünglich - bis etwa  1937-38, also gut zehn Jahre, nachdem die ersten Lieder dieses "neuen Stils" entstanden waren, orinetierte sich die Stimmlage der meist blutjungen Sängerinnen an dem Traditionen der klassischen Peking-Oper: ausgesprochen hohe Tonlagen, gute zwei Oktaven über der "normalen" Singstimme und ohne große Modulation. Das führt bei frühen Aufnahmen zu einem sehr artifiziellen Eindruck (der in der Pekingoper ein sehr bewußt eingesetzten Stilmittel darstellt), vor allem aber zu eiem äußerst reduzierten Umfang. Ab Anfang der 1940er Jahre, unter dem Einfluß der gastierenden (und der ersten einheimischen) Jazzbands i den zahlreichen Nachtclubs Shanghais werden Sopranlagen gesungen, notabene: den den gleichen Sängerinnen; bei Yao Lis Aufnahmen, die sie nach ihrer Flucht 1950 ins freie Hongkong aufnahm, nachdem unter den Kommunisten alles Nicht-Klassenkämpferische als "gelbe Musik", als bourgeoise Dekadenz, verfemt und verboten wurde, überwiegen immer tiefere Stimmlagen, von Sopran bis fast in den Alt mutierend. Als Beispiel zum einen dafür, zum anderen, um einen Eindruck von der Art der Musiknummern in den Filmen der Zeit (auf die besonders das Studio der Shaw Brothers spezialisiert war, bevor sie in den späten 1960er Jahren zum Inbegriff für die beiden "chinesischen"  Genres wurden: die Knochenbrecher-Streifen á la Bruce Lee und die Schwertkämpfer-Epen des Wuxia, dessen frappante Parallelen zum westlichen Genre Western einmal an anderer Stelle zu würdigen wären), hier ein Beispiel aus dem Film 葡萄仙子, "Die Traubenfee" von 1956 (der Titel 一家八口一張床, "Acht in einer Familie und nur ein Bett" bezieht sich, allerdings ins Situationskomische verlagert, die furchtbare Armut und Wohnungsnot, die seit Ende der 1940er in der Kronkolonie herrschte, nachdem in dem Jahren nach der Machtübernahme der Kommunisten mehr als drei Millionen Chinesen nach Hongkong geflohen waren, das zuvor nur eine knappe halbe Million Einwohner aufwies - was dazu führte, daß dem Bezirk Shek Kip Mei auf der Halbinsel Kowloon mit seinen wahnwitzig gestaffelten winzigen Behelfswohnungen - wo sich in der Tat mituntwr ein Dutzwnd Bewühner die gut 30 Quadratmeter tilen mußten) nachgesagt wurde, zeitweise in die Jahren der am dichtesten besiedelte Fleck der ganzen Erde zu sein..:




Als Beispiel für Yao Lis späten Gesangsstil, 一年又一年, "Jahr für Jahr", von 1961., erschienen als EP bei EMI Hongkong unter der Nummer CPA 149; die Melodie stammt von Yao Min, der Text von Chen Dieyi: 




我們並非相逢在眼前,我們也曾早晚常相見。
為什麼不過是見一面頭一點,就這樣一年又一年。
我們並非相逢在眼前,我們也曾早晚常相見。
為什麼不過是見一面頭一點,不能夠情意倆纏綿。
心裡分明是長掛念,我有話要說一遍。

又怕說出來也枉然,祇能夠把話兒嚥。

(Die Melodie legt schon nahe, daß dies eher eine melancholische Lebensklage ist.)

Warum sind wir nicht offen zueinander, warum sind wir nicht ehrlich?
Warum verstellen wir uns vor den Augen der anderen, Jahr um Jahr?
Wir leben nebeneinander her, wir mögen einander  nicht mehr.
Mein Herz ist schwer wie Blei, und ich möchte das offen sagen können.
Doch ich fürchte, das das unmöglich ist.
Es bleibt mir nur, die Worte zu verschlucken.

Als Vergleich die "Unplugged"- Version des gleichen Titels, die Tsai Chin 2006 aufgenommen hat:





Manche dieser Stücke dürften auch für Hörer, die nicht ein einzige Silbe Mandarin ihr eigen nennen, eine durchaus bedenkliche Ohrwurm-Wirkung entfalten. Von 1959:



那個不多情, "nàgè bù duōqíng" - "Das ist doch keine Leidenschaft!" Aufgenommen am 10. August 1946 und am 16. November 1946 bei EMI Shanghai als A-Seite der 78er 36535 erschienen; Text und Melodie stammen von Jin Gang.





青天朗朗是天晴,畫眉叫叫要出林,
鮮化兒開放要比美,青春的少年那個不多情。
噯呀噫多儿喂呀,噯呀噫多喂,
青春的少年那個不多情。

天上的烏雲追白雲,田邊的麻雀追鵪鶉,
樑上的貓兒追老鼠,年輕的妹妹追的甚麼人。
噯呀噫多儿喂呀,噯呀噫多喂,
年輕的妹妹追的甚麼人。

Der Frühling ist herrlich - die Drosseln singen im Wald
Die Kinder tollen im Freien - aber meinen Liebsten läßt das alles kalt.
Die Kinder sind ausgelassen, man kann es kaum fassen
Aber den Jungen, den ich im Auge habe, kehrt das nicht.

Am Himmel haschen die dunklen Wolken die hellen Wolken.
Die Spatzen haschen nach einander auf den Feldern.
Die Katzen haschen über die Dächer und haschen nach Mäusen.
und das kleine Schwesterchen hascht nach Jungs.
Ei-ei-ei, wie die Kinder toben.
Eieiei, wie das Schwesterlein hinter den Jungs her ist...

Zum Schluß ein weiteres Duett, 迎春歌, "Willkommen, Frühling!", eingespielt am 22. Juni 1943 für RCA und am 15. Mai 1944 als A-Seite der 78er  42231 erschienen - weil an diesem Stück von Jin Yugu (ja, es gab auch anderen Komponisten) die Uptempo-Swingphrasierung gut zu hören ist:





*     *     *


Der Protokollant hat sich, als er sich vor gut zweieinhalb Jahren dazu entschlossen hat, mit dem alten Vorhaben, die mit der chinesischen Sprache doch einmal ernst zu machen, vorgenommen, irgendwann, wenn ihm die aktive Beherrschung der Valeurs, der Nuancen, der idiomatischen Feinheiten im aktiven Sprachgebrauch in hinreichendem Maß zu Gebote stehen - was ja eine ganz andere Schuhnummer darstellt als nur das passive Erkennen gängiger Phrasen (formal ausgedrückt: wenn er sich zutraut, das HSK-Niveau 4 zu meistern) - seine Kenntnis dazu zu verwenden, Frau Yao, als letzter Überlebender dieser Musiksparte, als kleinen Dank für das, was in ihrer Musik mitschwingt, einen kleinen Fanbrief zukommen zu lassen, in seiner besten chinesischen Kalligraphie - den ersten und einzigen Fanbrief, den er in seinem Leben geschrieben hat. Als eine winzige, beschiedene Geste des Dankes und Respekts von der anderen Seite des Erdballs, als Gruß über zwei Generationen hinweg, als ein kleines Signal: nein, es ist dies alles nicht verschollen, es wird gehört und geschätzt, auch nach 70 Jahren, auch im 21. Jahrhundert noch..Dazu wird es nun nicht kommen. Aber nichts kann uns hindern, weiter diese Lieder zu spielen, und uns an ihrem Schwung und ihrer Melancholie, den beiden Seiten dieser Form der Unterhaltung, zu erfreuen. "Ein Schlager von Rang ist mehr 1950 als 500 Seiten Kulturkrise," befand Gottfried Benn, vor nunmehr auch drei vollen Generationen 1951 in seinem Gedicht "Kleiner Kulturspiegel". Und in diesen Liedern ist mehr Shanghai als in Dutzenden naseweise Korrespondentenberichte ahnungsloser Westkorrespondenten, die sich von der glitzernden hypermodernen Skyline von Pudong blenden lassen und denen die Vergangenheit auf der anderen Seite des Huangpu ein böhmisches Dorf mit weit mehr als sieben Siegeln ist. 


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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.