17. Juni 2018

Georges Simenon, auteur du "Lolita"



"Lolita, light of my life, fire of my loins. My sin, my soul. Lo-lee-ta: the tip of the tongue taking a trip of three steps down the palate to tap, at three, on the teeth. Lo. Lee. Ta. She was Lo, plain Lo, in the morning, standing four feet ten in one sock. She was Lola in slacks. She was Dolly at school. She was Dolores on the dotted line. But in my arms she was always Lolita. Did she have a precursor? She did, indeed she did."
- Vladimir Nabokov, Lolita (1955), Kap. 1

Vor nunmehr vierzehn Jahren, im März 2004, war es für die kleine Welt der belles lettres eine kleine Sensation, zumindest ein weltweit vermerktes divertimento, als der Germanist und Schriftsteller Michael Maar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Nachweis erbrachte - soweit sich dergleichen in einem so volatilen Gebiet wie den Geheimissen des künstlerischen Kreativität eben dingfest machen läßt - daß Nabokovs Nymphet, seine Kindfrau, die die pädophile Obsession seines Ich-Erzählers aus den Sphären des neurotischen Verbrechens an einem Kind und der der Libertinage erotischer Literatur in ihrer dunklen Ausprägung, die seit den Tagen des Marquis de Sade kalkuliert und ebenso obsessiv immer wieder mit ultimativen Tabubrüchen spielt, in die Sphäre der Literatur, der Weltliteratur transformierte - daß Dolores Haze, genannt Lolita, in der Tat eine Vorläuferin besaß. Nicht nur im Kosmos des Romans ("In point of fact, there might have been no Lolita at all had I not loved, one summer, an initial girl-child. In a princedom by the sea," lautet der nächste Satz, mit dem Humbert Humbert seine fatale sexuelle Fixierung auf präpubertäre Mädchen in einem Anklang an Edgar Allen Poes "Annabel Lee" - und dessen Kindbraut Virginia Clemm, die dieser heiratete, als sie 13 war - erklärt), und auch nicht im Oeuvre seines exilrussischen Autors, sondern in einem bis dahin völlig vergessenen Text eines ebenso verschollenen Autors: in der Erzählung "Lolita" von Heinz von Lichberg, die 1916 in dem Band Die verfluchte Gioconda, im Darmstädter Falken-Verlag in einer Auflage von 1000 Exemplaren verlegt, als neunte von insgesamt fünfzehn kleinen Erzählungen erschienen ist. (Michael Maar, "Was wußte Nabokov?" FAZ vom 19. März 2004, S. 37; und ders., "Den Mann, der 'Lolita erfand,'" FAZ vom 26. März 2004, S. 46)

Lichberg (1890-1951), der mit bürgerlichem Namen Eschwege hieß und sein Lebtag - mit Ausnahme der Jahre 1937 bis 1945, als er im Dritten Reich im deutschen Geheimdienst im Amt Canaris tätig war, da er der deutschen Reichsschriftkammer wohl zu halbseiden war - als Journalist für diverse Zeitungen mittlerer Auflagenstärke gearbeitet hat (vor dem Krieg etwa für den Berliner Lokal-Anzeiger, danach für die Lübecker Nachrichten), hat seine knapp fünfzehn Buchseiten umfassende Story auf den Spuren E.T.A. Hoffmanns angelegt: ein verrätseltes Geschehen, das sich letztlich nicht kommensurabel auflöst: die Geschichte eines Studenten aus der deutschen wilhelminischen Provinz, der bei einem Spanienurlaub in Alicante dem Bann einer dämonischen Kindfrau verfällt, die die Verkörperung eines Familienfluchs ist, der deren Frauen in jeder Generation heimsucht, der unweigerlich mit ihrem Tod endet - oder aber, auch diese Möglichkeit deutet der Text sub rosa an, sein Verbrechen an dem Mädchen durch eine solche Mystifizierung verleugnet.

Mehr als solche Indizienbeweise, Parallelen von Namensgebung, Motivführung, Umständen lassen sich natürlich für eine solche Einflußnahme eines Textes auf einen anderen selten beibringen. Daß Nabokov Lichberg gelesen hat, ist nicht unmöglich, aber außerhalb der textuellen Verweise eben nicht gesichert. Aber Literatur entsteht nun einmal, neben der Wirklichkeit, die sie in ein Letternuniversum transformiert, aus anderen Texten. Und natürlich sagt das Vorhandensein eines solchen Vorläufers nichts über die Qualität des jeweiligen Produkts aus: im Fall von Lichberg eine kleine Fingerübung, im Fall Nabokovs die Eintrittskarte in den Parnaß der weltliterarischen Unsterblichkeit. 

Im Werk Nabokovs gibt es nun eine eindeutige Vorläuferin: die Protagonistin seines letzten auf Russisch verfaßten Erzähltextes nach dem Abschluß seines letzten und umfangreichsten aus Russisch verfaßten Romans Die Gabe von 1937: Волшебник/Volshebnik, im Oktober und November 1939 im Pariser Exil geschrieben, bevor der Verfasser mit seiner Ehefrau Vera und seinem Sohn Dmitri im Mai der nächsten Jahres mit einem der letzten Schiffe aus dem besetzen Frankreich in die USA flohen. Nabokov hat diese längere Erzählung nur einigen guten Freunden vorgelesen; als er 1947 als Dozent als der Cornell University mit der Abreit an seinem dritten auf Englisch verfaßten Roman begann (nach The Real Life of Sebastian Knight, 1941 und Bend Sinister, 1947), glaubte er das Manuskript verloren. Im Februar 1958, fast drei Jahre nach der Veröffentlichung im Pariser Verlag Olympia Press, dessen Eigentümer Maurice Girodias die Lücke des französischen Gesetzgebung ausnutzte, fremdsprachige Texte keinerlei Zensurbedingungen zu unterwerfen, um erotische Werke zu publizieren, entdeckte er den Text bei der Durchsicht alter Papiere und schrieb erfreut an seinen Freund, den Autor und Kritker Edmund Wilson, daß ihn diese Lektüre höchst erbaut und amüsiert habe - im Gegensatz zur Arbeit an Lolita, dessen Text im im Lauf der fünf Arbeitsjahre einfach zu nahe gewesen sei und oft das Stigma des Bemühten, sich Voranquälenden angenommen habe. Zu Nabokovs Lebzeiten ist die Novelle nie erschienen; die erste Englisch Übersetzung durch Dmiteri Nabokov, der durchweg als Übersetzer der russischen Texte seines Vaters zeichnet, erschien 1986 unter dem Titel The Enchanter beim New Yorker Verlag G. P. Putnam; die deutsche Version ein Jahr später unter dem Titel Der Zauberer im Rowohlt Verlag, übertragen von Nabokovs deutschem Herausgeber Dieter E. Zimmer.

Der Inhalt der fast statisch anmutenden Novelle ist schnell umrissen: ein namenloser Russe verliebt sich in seinem Exilland Frankreich in ein blutjunges, präpubertäres Mädchen, heiratet ihre als unattraktiv und geistig mittelmäßig beschriebene und kränkliche Mutter, um in ihrer Nähe sein zu können. Nachdem diese Mutter an den Folgen einer Operation stirbt, beschließt er, mit seiner Stieftochter auf eine womöglich endlose Reise zu gehen, um sie sich, irgendwann, gefügig zu machen. Allerdings kann er sich nicht beherrschen und wird in der ersten Nacht, die sie in einem billigen Hotel an der Côte d'Azur verbringen, dem schlafenden Mädchen gegenüber zudringlich und kann seine Hände nicht unter Kontrolle halten. Die Entsetzensschreie des erwachten Mädchen, das Erwachen des gesamten Hotels lassen ihn die Flucht ergreifen, und das Scheitern seiner perversen Vision, seines ganzen Lebensplans finden ihr Ende, indem er vor einen Lastwagen auf der Straße vor den Pension läuft und den Tod findet. Hier zeigen sich schon die Parallelen zum späteren Roman: die (Schein-)Ehe mit der unattraktiven älteren Witwe, ihr Tod als Gelegenheit, aus dem Luftschloß der Obsession eine Tat werden zu lassen, der endlose Trip, Höllenfahrt und Delir zugleich, und das unausweichliche Ende: Humbert Humbert entkommt dem elektrischen Stuhl, den ihm der Mord an seinem Nebenbuhler um die Gunst Lolitas, Clare Quilty, eingetragen hat, nur durch einen tödlichen Herzanfall. Wie bei so vielen Texten Nabokovs handelt es sich auch bei Lolita eine Kommunikation d'outre tombe.

Es könnte aber sein, daß neben Heinz von Lichbergs/Eschweges kleiner Erzählung noch ein weiterer Text mit zur Genese des nabokovianischen Narrativersums beigetragen hat: Georges Simenons (1903-1989) non-Maigret-Roman Chemin sans issue, im Januar 1938 in Simenons Stammverlag Gaston Gallimard erschienen. Die erste englische Übersetzung erschien 1946 unter dem Titel Blind Alley, die erste deutsche Fassung erst 1991 beim Diogenes Verlag in Zürich als Sackgasse. Wie bei allen non-Maigrets (118 Romane und 139 Erzählungen zählt die Wikipedia) handelt es sich um den weniger gelesenen Teil seines Werks; die schiere Menge an Texten führt darüber hinaus zu einer Unübersichtlichkeit, aus der kein Roman als besonders einprägsam erscheint; viele zeitgenössische Kritiker sahen darin den Versuch des Autors, sich als "ernsthafter" Literat zu positionieren und dabei, sehr zum Nachteil der Bücher, auf die Klammer des kriminalistischen Prozederes und den Anker des Person des Kommissars zu verzichten, ohne die Zentrierung um Mord und Eifersucht, verfehlte Lebenspläne und Hoffnungslosigkeit aufzugeben. 



Chemin sans issue, im Sommer 1936 in Porquerolles auf der schäbigeren Seite der Côte d'Azur entstanden, spielt auch zu jeder Zeit und an jenem Ort: weitab vom Glanz und der Mondänität der jeunesse dorée, der Schönen und Reichen. Die Protagonisten sind Vladimir und Blinis, zwei Russen, die vor den Wirren der Oktoberrevolution fast zwei Jahrzehnte zuvor geflohen sind und nach einem unsteten Wanderleben jetzt in St. Jean eine dürftige Endstation, aber immerhin einen sicheren Hafen gefunden haben: in den Diensten der verwitweten Millionärserbin Jeanne Papelier in ihrer Villa in Super-Cannes: als Chauffeur, Faktotum und, selten, als Besatzung ihrer Yacht - eine Ehre, die sie Vladimirs nutzlosem Marinediplom aus Zarenzeiten verdanken. Vladimir hat es zum angelegentlichen Beschäler seiner unattraktiven Dienstherrin im Alter um die Fünfzig gebracht; er fürchtet aber aber, daß Blinis demnächst seine Stelle einnehmen wird, da es ihm immer weniger gelingt, seine Abneigung gegen Jeannes Trunksucht, ihre jähzornigen Launen, die sich in Tobsuchtsausbrüchen gegen jedermann in ihrer Nähe äußert, und ihre geistige Leere vor ihr zu verbergen. Die einigermaßen sichere Stellung zögert freilich einen offenen Bruch hinaus, läßt aber gleichzeitig den Pegel der Frustration und des unterdrückten Ärgers beständig weiter ansteigen. Der dramatische Umschlag erfolgt, als Jeannes minderjährige Tochter Hélène nach Abschluß ihres Internatsaufenthalts zu ihnen stößt. Blinis gewinnt mit seinem einnehmenden Wesen und seinem putzigen, unbeholfenen Französisch schnell das Vertrauen und die Freundschaft der jungen Dame; Vladimir hingegen trifft der coup de foudre, die sexuelle Obsession. Er überlegt verzweifelt, wie er Jeanne heiraten könnte, um in Hélènes Nähe bleiben zu können. Der Trick, auf den er verfällt, beseitigt gleichzeitig die befürchtete Konkurrenz Blinis' als Nebenbuhler: das Diamantenkollier, Jeannes ein und alles, das Vladimir, der als ihr Galan im Haus unbeschränkt ein- und ausgeht, entwendet hat, findet sich erwartungsgemäß bei Blinis. Jeanne verzichtet auf einen Prozeß, den sie angesichts ihrer unsteten Lebensführung und angesichts der schütteren Beweislage nicht glaubt gewinnen zu können; aber Blinis wird aus ihrem Kreis verstoßen. Damit nimmt das Verhängnis aber seinen Lauf: Hélène macht aus ihrer Abneigung gegen die Annäherungsversuche Vladimirs keinen Hehl; er ist dennoch der einzige, an den sie sich in ihrer Notlage wenden kann: sie bittet ihn, eine heimliche Abtreibung zu organisieren, da sie von Blinis schwanger ist: auch im Frankreich der 30er Jahre, und gerade in jenem Milieu, ist die soziale Ächtung immer noch der Preis für den Fehltritt. Hélène stirbt unter den Händen der Engelmacherin (so wie auch Dolores Haze an den Folgen ihrer Fehlgeburt stirbt); Jeanne hat in der Zwischenzeit kombiniert, daß Blinis nicht der Dieb gewesen sei kann; als sie Vladimir als einzig möglichen Täter zur Rede stellt, sieht er den einzig möglichen Ausweg für sich darin, sie umzubringen. Der Roman endet mit seiner Flucht aus Frankreich mit dem Ziel Prag und der Illusion, an die er sich klammert, dort das Freundschaftsverhältnis mit Blinis, eingedenk der schwierigen gemeinsam durchstandenen Zeiten in den frühen Jahren des Exils wieder kitten zu können - eine Hoffnung, die der Leser als letzten verzweifelten Strohhalm erkennt.

Natürlich läßt sich aus solchen Parallelen im Textgeschehen nicht herleiten, daß Nabokov diesen Text als Vorlage oder Anregung für den Erzählkomplex verwendet hat, aus dem dann, eineinhalb Jahrzehnte später, ein literarisches Skandalon und der Beweis wurde, daß das Sujet eines Textes völlig unabhängig von moralischem Kalkül oder Lebensberatung zu goutieren ist. Daß er den Text zur Kenntnis genommen haben könnte, bleibt Konjektur. Anders als im deutschen Exil in Berlin seit 1922, nach dem Abschluß seiner Studien in Cambridge, hat sich Nabokov allerdings um eine intensive Kenntnis der französischen Sprache bemüht - die ihm von klein auf durch seine Kindermädchen vertraut war; aufgrund der jährlichen Sommerurlaube der Familie in Frankreich konnte er früher lateinische Lettern als Kyrillische lesen, wie er in seiner Autobiographie Speak, Memory berichtet. Das Kapitel "Mademoiselle O" erschien 1936 in der Literaturzeitschrift Mésures und wurde auf Französisch verfaßt. Daß Simenon oft zur Aufbesserung und zum (erneuten) Sattelfestwerden in diesem Idiom gelesen wurde, ist nicht ungewöhnlich; sein streng und mit Absicht beschränkter Wortschatz von 2000 Worten und die gewollte Geradlinigkeit seines Stils haben seine Texte dazu prädestiniert; Simenon lehnte jede stilistische Prätention ab: nichts, gar nichts sollte sich zwischen den Leser und den Text schieben und ablenken. Janwillem van de Wetering etwa kam, eine Generation später, zum Verfassen von Kriminalromanen, weil er als Vertreter im väterlichen Textilhandel in Paris tötig werden sollte, und zum Erwerb belastbarer Konversationsfähigkeiten ein Jahr lang nichts als Simenon im Original las.

Das literarische Treiben eines Exilrussen namens Vladimir in einem Roman des zu seiner Zeit meistgelesenen französischen Autors könnte das Interesse eines Exilrussen namens Vladimir, der zu jener Zeit glaubte, in Paris seine endgültige Zuflucht gefunden zu haben, und der Zeit seines Lebens wie ein Besessener las (auch wenn die meisten Werke vor seinen gestrengen Urteilen weniger als nichts wert schienen), durchaus geweckt haben. Aber das bleibt, naturgemäß, reine Vermutung. Und es besteht, leider, keine Hoffnung, das eine spektrale Kommunikation, aus den Bereichen jenes "unentdeckten Lands, aus des Bezirk / kein Wanderer wiederkehrt" (wie es in berühmtesten Monolog des Dänenprinzen in der ersten Szene des dritten Akts heißt), hier einen geisterhaften Fingerzeig liefen wird, so wie es in Nabokov vorletzter, auf Englisch verfaßter, Kurzgeschichte, "The Vane Sisters" von 1952, der Fall ist.





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Ulrich Elkmann

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