12. Juni 2018

"Only Trump could go to North Korea"

"Only Nixon could go to China." Vor 46 Jahren, im Februar 1972, stand dieser politische Slogan für ein Ereignis, das die politische Landkarte in Ostasien, und in langfristiger Hinsicht: der ganzen Welt, veränderte: den einwöchigen Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon im China des Großen Steuermann Mao Tse-tung, im sechsten Jahr der unseligen Kulturrevolution, beim Versuch, die alte Gesellschaft, die alte Kultur Chinas endgültig zu vernichten und an ihre Stelle den geschichtslosen Neuen Menschen zu setzen, jener letzte utopische Paroxysmus, der drei Millionen Menschen das Leben kostete, in jenem China, das die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1949, seit die "roteste aller roten Sonnen" das neue Reich der Mitte auf dem Tiananmenplatz ausgerufen hatte, zu seinem größten Feind erklärt hatte. Zum einen wegen des militärischen und strategischen Bündnisses mit der nationalchinesischen (Exil)Regierung Tschiang Kai-cheks auf Taiwan, den die USA während des Zweiten Weltkriegs als Bündnispartner im Kampf gegen Japan unterstützt hatten (diesem Bündnis verdankt China übrigens den Sitz im Sicherheitsrat der nach Kriegsende gegründeten Vereinten Nationen) - sondern als Inbegriff des Kapitalismus, der Marktwirtschaft, des Gewinnstrebens und vor allem des Individualismus. Vorausgegangen war dem von Außenminister Henry Kissinger arrangierten Treffen die sogenannte "Pingpong-Diplomatie" - die gegenseitigen Besuche der National-Tischtennismannschaften im Jahr zuvor, die eine allererste Bresche in die Mauer zwischen den seit Jahrzehnten gekappten Beziehungen schlugen. Das war noch nicht das Ende des Kalten Krieges zwischen den beiden "Systemen", es war nicht das Ende der Kulturrevolution, des Gefängnisses für alles, was ein menschliches Wesen ausmacht, den der Maoismus darstellte. Dazu brauchte es den Tod Maos vier Jahre später, den Rückbau des Zwangs, die ökonomischen Reformen von Mao Nachfolger Deng Xiaoping ab 1978, der davon unabhängigen wachsenden Tuchfühlung zwischen den beiden chinesischen Staaten und den Modus vivendi, der nicht mehr auf die Zerstörung und bedingungslose Vernichtung des Gegenübers zielte. Aber es war der erste Riß in der Mauer. Heute ist die Volksrepublik China eine wirtschaftliche Supermacht, ein Staat, der seine industrielle Revolution, die ihn ins Herz des 21. Jahrhunderts befördert, in einem atemverschlagenden Tempo nachholt - etwas, das der Sozialismus niemals eingelöst hat, der nur eine verheerte Natur und verheerte Menschen zurückließ - es ist, bei allen Defiziten und gebliebenen Einengungen, die wohlhabenste und, man kann es nicht genug betonen: die freieste Gesellschaft, die China - wohlgemerkt: das Reich der Mitte, nicht die umgebende Diaspora von Taiwan, Hongkong oder Singapur - in den zweieinhalb Jahrtausenden seiner Geschichte je erlebt hat. Zum ersten Mal nimmt China nicht nur am wachsenden Fortschritt teil, jenem Prozeß, der im Europa der Renaissance erfunden wurde, an der wissenschaftlichen permanenten Revolution des Weltwissens: zum ersten Mal steht es auch der Welt offen.



Die Parallelen zu dem Treffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump und Kim Jong-un am heutigen Tag in Singapur zum damaligen Treffen der Staatsführer sind frappierend. Ein totalitäres System, eine formierte Gesellschaft in einem für frühere Generationen unvorstellbaren Maß, das jegliche Individualität auslöschen will, dessen "kollektiver Wille" sich in den Weisungen eines einzelnen Führers kristallisiert, ein verarmtes, zerstörtes Land mit gigantischer Armee, in scheinbar unverbrüchlicher Erbfeindschaft zu Marktwirtschaft, zur Freiheit. Ein Antagonismus, der unauflösbar scheint, wie in Stein gemeißelt, den man nur aushalten, aber nicht überwinden kann. Auf der anderen Seite ein "Parallelstaat", ein erfolgreiches, modernes Staatswesen, ein Global Player, getrennt durch tödliche Mauern. (Im Fall von Taiwan und der Volksrepublik China handelte es sich freilich um eine Meeresstraße, die Formosastraße; die Fortifikationen auf den vorgelagerten Inseln machten sie aber nicht weniger tödlich.)

Niemand hätte noch vor einem halben Jahr eine solche Entwicklung für möglich gehalten. Zu lange hat sich Nordkorea nach der absoluten Autarkie der Juche-Ideologie ausgerichtet, nach dem Abschließen-und-Schlüssel-Fortwerfen gegen den Rest der Welt, jener grausamen Parodie des "geschlossenen Handelsstaats" in Sinne Fichtes, der ganz sich selbst genügt - und auf Handel verzichtet, der durch die Strikturen einer absoluten Kommandowirtschaft ersetzt wurde - wie es sonst in der Geschichte der (nominell) linkstotalitären Regime des 20. Jahrhunderts nur bei Albanien der Fall war (das übrigens der letzte Bündnispartner Nordkoreas nach dem Bruch mit der Sowjetunion nach dem Beginn der Entstalinisierung und nach dem Bruch mit der Volksrepublik China nach dem Tod Maos darstellte). Zu unversöhnlich die beständigen Vernichtungsdrohungen, die fortwährenden Ankündigungen, einen Atomkrieg gegen den südlichen Nachbarn, gegen Japan und sogar die USA zu beginnen. Vergessen wir nicht, daß die momentane Entwicklung von der höchst konkreten Drohung der NK-Führung, die auf Guam stationierten US-Streitkräfte mit Nuklearbomben zu vernichten, ihren Ausgang genommen haben. Die Hunderttausende von Hungertoten, die die nordkoreanische Führung nach dem Tod der Großen Führers Kim Il-sung 1994 in Kauf nahm, anstatt seinen Kurs auch nur um Haaresbreite zu ändern (je nachdem, welche Quelle man befragt, finden sich Opferzahlen zwischen eine Viertelmillion und 800.000), schienen eine eindeutige Sprache zu sprechen. Kein Kompromiß, keine Veränderung.

Mit dem heutigen Tag ist das Geschichte. Und es ist fast schon, als sei das nur ein böser Traum gewesen. Ein Albtraum, der die Geschichte Ostasiens sechseinhalb Jahrzehnte, drei volle Generationen belastet, seinen schwarzen Schatten auf sie geworfen hat. Das Treffen zwischen Kim und Trump markiert einen Einschnitt, hinter den die nordkoreanische Führung nicht zurück kann: zu offen und klar hat sich Kim Jong-il, in einer Person inkarnierte Lenkung dieses Staates, absoluter Autokrator, zu dem neuen Kurs, zur Abrüstung, zum Dialog, zur Kooperation bekannt - zu einem Miteinander, nicht einem Gegeneinander ohne Schnittmenge. Natürlich ist das Abkommen, das heute in Singapur - und, wie symbolisch, dem wohlhabendsten (Stadt-)Staat der Sinosphäre, dem alles überstrahlenden Symbol für die Wertschöpfung, den Wohlstand, den Freiheit und Marktwirtschaft erst ermöglichen, der größtmögliche Kontrast zur absoluten Armut des landesweiten Lagers namens Demokratische Volksrepublik Nordkorea - vage, ohne konkreten Zeitplan; es sind Vorgaben, die jederzeit leicht zu torpedieren wären. Materiell hat dies die nordkoreanische Seite nicht viel gekostet. Ideologisch aber umso mehr. Der heutige Tag stellt einen absoluten Bruch mit allem dar, was die Beziehungen dieses Staates in den letzten 65 Jahren ausgemacht hat, seit sich die Frontlinie im Koreakrieg am Yalu-Fluß auf dem 53. Breitengrad festfraß und die Kriegshandlungen in den Verhandlungen ab dem Februar 1952 in Paris und im Sommer 1953 vorerst eingestellt wurden - ohne Friedensabkommen, mit der Drohung, jederzeit wiederaufgenommen werden zu können. Dieser permanenten Bedrohungslage verdankt sich die amerikanische Militärpräsenz in Südkorea; auch die Bereitschaft, sich ihr jederzeit stellen zu können. Die Abkürzungen der amerikanischen Seite bei den gemeinsamen Manövern mit dem südkoreanischen Militär, auf Bitte des Nordens, der Verzicht auf die Präsenz der Fliegenden Festungen von Typ der B-52, waren eine weitere symbolische Vorleistung der USA. Die tatsächliche Einsatzbereitschaft tangiert so etwas nicht, aber es ist ein Zeichen, daß man bereit ist, zurückzustecken, öffentlich und symbolisch. Was heute in Singapur begonnen hat, ist ein neuer Abschnitt in der Beziehung Nordkoreas zu seinen Nachbarn und zur Schutzmacht USA. Natürlich könnte die Führung tricksen, täuschen, alle Versprechungen brechen, an der atomaren Rüstung festhalten. So wie sie es in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch getan hat. Aber das wäre ein fataler, finaler Schritt. Er wäre nicht zu kitten, es würde alle Chancen, aus dem Impassé, aus der in Stein gemeißelten Sackgasse der letzten 70 Jahre herauszukommen, vernichten: so sicher, wie es ein künstlicher Sonnenaufgang über Pjöngjang täte, in dessen Inferno fusionierender Wasserstoffatome die Führung dieses Staates verdampfen würde.

Das knapp vier Minuten lange, im Stil eines Science-Fiction-Film aufgemachte Video, das Trump heute zum Auftakt ihres Treffens seinem Verhandlungspartner gezeigt hat und das hier anzuschauen ist:

http://time.com/5309671/donald-trump-video-kim-jong-un/  sowie hier
https://www.facebook.com/WhiteHouse/videos/1710505219037204/

- bringt diese Wahl schlagend auf einen Punkt: bei Minute 2 und 13 Sekunden sieht man jene bekannte nächtliche Satellitenansicht auf die beiden Staaten, die sich die koreanische Halbinsel teilen: im Süden ein gleißendes Lichtermeer, der Norden ein Meer von Finsternis: Hoffnungslosigkeit und Rückständigkeit, die dem Gesichts des Menschensterns eingeschrieben ist. Nach gut 20 Sekunden, schwarz-weiß-Bilder, die die Schreckvisionen des Kalten Kriegs bebildern: die Raketen, die aus ihren Silos aufsteigen, die Tod und Vernichtung sähen, ohne Vorwarnung, blitzt bei Minute 2:31 dasselbe Bild noch einmal auf - und diesmal flammt schlagartig der Norden ebenfalls auf: nicht im Atombrands, sondern in der Lichtflut des Fortschritts, der Wohlstands, der sein Zeichen unter die Sterne schreibt. Das ist visuelle Magie. Man mag es für kitschig halten, für "hollywoodesk". Das ist vollkommen gleichgültig. Es gibt genau einen einzigen Adressaten, an den sich dieses Filmchen richtig: Kim jong-il. Deswegen wird er auch als Partner für ein neues Zeitalter auf Augenhöhe mit dem Präsidenten der größten Weltmacht, der größten, wirkungsmächtigsten und mustergültigen Demokratie gezeigt. Denn das ist er in diesem Fall. Es obliegt ihm, diesen eingefrorenen Albtraum zu beenden. Man mag auch beklagen, daß Kim und sein Regime, wenn hier wirklich ein neus Zeitalter für Nordkorea anbrechen sollte, ungeschoren davon kommen werden, daß sie nicht für Jahrzehnte von Blut und Sklaverei zur Verantwortung gezogen werden. Sondern daß sie die größten Nutznießer der gewendeten Verhältnisse, vielleicht des einsetzenden Wohlstand sein werden. Man kann das beklagen. Aber die Weltgeschichte hat kein Gewissen, sie verläuft nicht nach diesen Kriterien, sie ist keine moralische Anstalt (auch wenn gerade die Deutschen sich seit Jahrzehnten einreden, sie seit nichts anderes, dies sei das einzige gültige Kriterium ihres Ablaufs, ihr Telos, ihr Daseinszweck. Das ist ein Irrtum, ein Blindheit, eine fatale Lüge). Die Alternative dazu wäre ein Weiter-So, mit der Aussicht auf weitere 60 Jahre Sackgasse, mit der einzigen Erwartung des Zusammenbruchs, irgendwann, in Erschöpfung und Hunger.

Heute ist in Singapur Weltgeschichte geschrieben worden. Und wir können sagen: wir waren Zeuge. Und wir dürfen hinzusetzen : "Only Trump could go to North Korea."



U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.