7. Juni 2018

Halt die Taube fest!

Seit hunderten von Jahren stehen sich im Park zwei Statuen gegenüber: Ein junger Römer und eine Göttin, beide nackt. Da erscheint eines Tages eine gute Fee und erfüllt den beiden ihren größten Wunsch - sie dürfen für einige Stunden ihre Sockel verlassen. Die beiden verschwinden im Gebüsch. Rascheln, flüstern, kichern. "Wir haben noch zehn Minuten", japst er schließlich. "Gut. Dann hältst du jetzt die Tauben fest, und ich scheiße drauf!"

Dieser zugegeben mit einem meterlangen Bart ausgestattete Witz erklärt aus meiner Sicht wunderschön den eigentlichen Hintergrund rund um Gaulands Vogelschiss-Äußerung. 

Es wurde ja viel debattiert - kalkulierte Provokation oder altersbedingte Unzurechnungsfähigkeit etc. - aber der Kern der Sache ist aus meiner Sicht ein anderer - nämlich die unbestreitbare Fixierung der Rechten auf den Holocaust. Einer der wenigen, die das ebenfalls wahrnehmen, ist Dushan Wegner. Inmitten seines aus meiner Sicht grässlichen Pamphletes findet sich einige brillante Analysen, die trotz der fragwürdigen Parallelen (aus meiner Sicht ist die Kernaussage des Textes, "Merkels heutige Schuld" in eine Reihe mit der Schuld der Nazis zu stellen, und damit auch nicht besser als Gauland) für sich genommen  stehen bleiben:
Jene, welche den (heutigen) Deutschen die Identität als Deutsche ausreden wollen, sind Brüder im Geister jener, welche die Schuld der Deutschen, kollektiv, auch heute, am Holocaust bestreiten. Wir kommen als Deutsche nicht an der kollektiven und damit in gewisser Weise auch individuellen Schuld der Deutschen vorbei. Wer diese Schuld ernst nimmt, wer die Worte versteht, wer auch nur eine Ahnung vom Ausmaß dieser Schuld hat, der wird sie nicht einfach so abnicken. Wer die Schuld der Deutschen als solche für sich annimmt und dabei auch nur halb versteht, was er sagt, der muss mit dieser Schuld ringen. Doch, nicht jeder Deutsche „ringt“ auf gleiche Weise mit der Schuld.
Gauland, Jahrgang 1941, entstammt der Generation "Gnade der späten Geburt" (Kohl). Dieses unglückliche Zitat trifft aber das Lebensgefühl deutlich weniger als das Strauß-Diktum von 1968: „Wir können nicht dauernd in der Gestaltung unserer Zukunft durch die Schatten der Vergangenheit belästigt werden.“* Diese Generation wurde im Großen und Ganzen sozialisiert durch Kriegsverluste und Vertreibungserfahrung sowie durch den Mantel des Schweigens, der über Zehntausenden von Täterbiografien der Eltern ausgebreitet wurde. Entgegen der heutigen Lesart auf der Rechten haben die Sieger eben nicht die deutsche Nation dem "Schuldkult" unterworfen (auch Israel nicht). Die  Vergangenheitsbewältigung setzte verspätet ein, und zwar auch nicht durch die 68er (die konnten mit dem "Judenknacks" überhaupt nichts anfangen) und hat versucht, die in den meisten Fällen unterbliebene oder vorzeitig beendete Bestrafung der Tätergeneration nachzuholen. 

Und so wurden zwanzig Jahre später wiederum deren Kinder, ohne persönliche Beteiligung sowohl in der eigenen Biografie als auch in der der Eltern, von postnational gesinnten Lehrern in KZ-Gedenkstätten gekarrt und nach dem Motto "Viel hilft viel" mit Leichenbergen und Zeitzeugenberichten traktiert, noch bevor sie damit begonnen hatten, sich regelmäßig zu rasieren.

Die inkriminierte Veranstaltung stellt ein "Treffen der Generationen" dar, und die offenkundige Gemeinsamkeit dieser beiden Generationen ist das Unbehagen, ja Angewidertsein vom Thema Holocaust. Warum? Die Vogelschiss-Metapher ist tatsächlich nur dann intuitiv verständlich, wenn man als Komplementär das Denkmal dazu denkt. Die deutsche Geschichte, die deutsche Identität, die von den drei AfD-Generationen Gauland, Höcke und JA als von außen durch Zuwanderung bedroht und von innen durch Schuldkult zerfressen wahrgenommen wird, hat einen Makel - den Holocaust. Er besudelt die Reinheit der deutschen Geschichte, genau so sehr wie die Zuwanderung die Homogenität des deutschen Volkes besudelt. Nicht nur das, ohne ersteres ist letzteres ihrer Meinung nach nicht denkbar. 

Nun besteht die AfD nicht wesentlich aus Holocaustleugnern, was aber die Schwierigkeit mit sich bringt, dass das Thema nicht einfach weggewischt werden kann, und der Makel bleibt. Andere Strategien wie "Whataboutism" ("die Amis sind auch stolz auf sich, trotz der Indianer") verfangen nicht wirklich, denn die Frage nach der "Singularität" ist aus meiner Sicht eine Scheindebatte. 

Wem ein KZ-Besuch mit dazugehöriger Pädagogik zu Recht zu anstrengend ist, dem empfehle ich, einmal in Prag den Neuen Jüdischen Friedhof in Žižkov zu besuchen (nicht den alten in Josefov, durch den nur Touristenmassen durchgeschleust werden). Das ist ein wunderbar friedlicher Ort mit schönem alten Baumbestand und eine Ruheoase direkt gegenüber einer belebten Straße. Es gibt dort kaum ein Familiengrab, auf dem nicht eine Gedenktafel für Familienmitglieder angebracht war, die in einem KZ ermordet worden sind. Offen gestanden habe ich dort viel mehr über die Dimension dieses Verbrechens gelernt als in Auschwitz. Auschwitz zeigt die Grausamkeit, und Grausamkeit ist niemals singulär. Singulär ist für mich - vielleicht nur als Symbol, aber Geschichte ist die Geschichte von Symbolen - die Normalität und Selbstverständlichkeit der Tatsache, dass es einem damals zwangsläufig an den Kragen ging, wenn man einer bestimmten Gruppe zugehörig war.

Nun bin ich alles andere als ein Nationalist, aber selbst wenn - hier ein zweiter richtiger Gedanke von Wegner - das Bewusstsein um die deutsche Schuld im Holocaust steht einem deutschen Patriotismus nicht im Wege: 
Gesellschaften, die Schuldgefühle kennen, sind – in Prinzip – stärker und dadurch überlebensfähiger, denn Menschen versuchen, entstandenen Schaden wiedergutzumachen – und neuen Schaden zu verhindern.
Nichts liegt dem Denken dieser Patrioten ferner, und ich frage mich ernsthaft, woran das liegt. Vielleicht ist es ja doch in einem gewissen deutschen Idealismus begründet - was nicht makellos ist, zählt nicht. Immerhin scheint ein nicht geringer Anteil der Deutschen Verhältnisse, die an aus meiner Sicht durchaus lebens- und liebenswerte Länder wie UK oder Frankreich erinnern, als failed states oder vom nationalen Selbstmord zerstört zu empfinden. Na gut, andere empfinden es halt als Staatsversagen, wenn ein anderes Land mehr Windmühlen baut. Same, same, but different.

Und das hat eben auch für die deutsche Geschichte zu gelten. Gauland hat Höcke nach dessen "Mahnmal-der-Schande"-Rede als "Nationalromantiker" bezeichnet. Warum er jetzt ins gleiche Horn stößt (gerade wenn man den Kontext wie auf afdbundestag.de zitiert betrachtet, trieft diese Rede vor Nationalromantik), darüber haben sich viele Kommentatoren schon die Köpfe heiß geredet. Dass er nur vor einem Saal voll junger Patrioten, die ein - vorsichtig formuliert - eher unverkrampftes (Roman Herzog) Verhältnis zur Symbolik des Nationalsozialismus dem Affen Zucker geben wollte, scheint mir unwahrscheinlich. 

Aber ist das wirklich relevant? Die Tatsache ist doch die: Nicht nur Gauland und Höcke, sondern auch die sogenannten gemäßigten Teile der AfD treten mit dem Vorsatz an, die deutsche Geschichte nicht nur auf besagte zwölf Jahre zu reduzieren. In Wirklichkeit aber sind sie mindestens genau so sehr darauf fixiert. Da sie die Geschichte nicht reinwaschen können, bauen sie den Popanz vom "Schuldkult" auf.

Und hier schließt sich der Kreis zu meinem Taubenwitz vom Anfang. Denn die beiden Statuen sind lediglich darauf fixiert, die Vögel für ihre Besudelung zu bestrafen, anstatt ihre begrenzte Zeit - trotz besudeltem Zustand - positiv für eine gepflegte eigene Vögelei zu nutzen.

Genau so macht es die AfD, und man kann nur konstatieren: Seit 2. Juni wird zurückgeschissen. 



*Im Vergleich zum berühmteren, aber von Strauß dementierten „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen“ ist oben genanntes Zitat tatsächlich belegt.  
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*Meister Petz*

© Meister Petz. Titelvignette: Bronze statue of Robert Burns coated with angels & pigeon droppings, Union Terrace, Aberdeen, 1892 by local sculptor Henry Bain Smith, photo courtesy Jane Cartney. (CC BY-SA 3.0). Für Kommentare bitte hier klicken.