„We’re out“, titelte
der Internet-Auftritt der Daily Mail bereits vor Beendigung des
Auszählvorganges zum Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs
in der Europäischen Union. Ungeachtet des nun vorliegenden Endergebnisses und der in den Medien teilweise verbreiteten Weltuntergangsstimmung
ist diese Aussage natürlich grundfalsch. Der Inselstaat ist nach wie vor
Mitglied des supranationalen Verbundes und wird das auch noch einige Zeit
bleiben.
Von den wirtschaftlichen Verwerfungen und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, welche die Ungewissheit über die zukünftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur Union mit sich bringen kann, ganz zu schweigen.
Ob man die künftigen
Entwicklungen nun durch die besorgte Brille des EU-Bürgers oder aus der
desinvolvierten Perspektive des Betrachters der Zeitläufte sieht: Wir gehen
spannenden Zeiten entgegen.
Aus europarechtlicher Perspektive hat der
Austrittsprozess ohnehin noch gar nicht begonnen. Gemäß Art. 50 Abs. 1
bis 3 EUV kann jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen
verfassungsrechtlichen Vorgaben beschließen, aus der Union auszutreten, und
teilt der einen Austrittsbeschluss fassende Mitgliedstaat diese Absicht dem
Europäischen Rat mit, worauf Trennungsverhandlungen aufgenommen werden. Wenn
diese nicht binnen zwei Jahren oder einer im Einvernehmen bestimmten längeren
Frist abgeschlossen werden, sind die Verträge im Hinblick auf den Austrittskandidaten
nicht mehr anwendbar.
Es ist völlig einleuchtend, dass ein bloßes Abstimmungsergebnis noch nicht den von Art. 50
Abs. 2 Satz 1 EUV geforderten Startschuss für die Gespräche über die
Scheidungsfolgen darstellen kann. Denn ob ein Austrittsbeschluss den Vorgaben
der nationalen Verfassung genügt – wie von Abs. 1 leg. cit. gefordert – das
kann natürlich nur die dazu berufene einzelstaatliche Instanz beurteilen. Im
Rahmen seiner unionsrechtlichen Treuepflicht (Art. 4 Abs. 3
EUV) kann das austrittswillige Land den Beginn der Zweijahresfrist also selbst
bestimmen. Eine Pflicht, den innerstaatlichen Willensbildungsprozess zu
überstürzen, damit die anderen Mitglieder schnell Gewissheit haben, wird man
aus dieser Norm nicht ableiten können.
Die bereits erwähnte
Anordnung, dass die Verträge (gemeint ist damit gemäß der jedenfalls in
Österreich sogenannten „Herzog-Mantel-Theorie“ das gesamte Unionsrecht, zur
näheren Erläuterung darf mit Nachsicht für das Falschzitat auf Schillers „Fiesco“
verwiesen werden) auf den hinfortstrebenden Mitgliedstaat nicht mehr anwendbar
sind, wenn binnen zwei Jahren oder einer vereinbarten längeren Frist kein
Abkommen über die künftigen Beziehungen geschlossen worden ist, wirkt lebensfremd. Die
Grundfreiheiten und die Zollunion können nicht von einem Tag auf den anderen
übergangslos beendet werden, und man kann nicht einen Staat über Nacht von
einer hochintegrierten, auf unzählige gesatzte Normen gestützten Union in das
gewohnheitsrechtslastige Nebelmeer des allgemeinen Völkerrechts stürzen, es sei
denn, man hat es auf herostratischen Ruhm abgesehen. Schreckenspotenzial
entfaltet die Vorstellung, dass nach dem Buchstaben der viel zu oft gebrochenen
Verträge mangels einer einvernehmlichen Fristerstreckung von einem Tag auf den
anderen unverrichteter Verhandlungsdinge - um es im Schäuble-Talk zu
formulieren - "over" sein könnte, aber wohl schon, und zwar nicht nur
jenseits, sondern auch diesseits des Ärmelkanals.
Wie sollen nun die Beziehungen
der Union zu ihrem verlorenen Sohn inhaltlich gestaltet werden? Darüber
schweigt sich Art. 50 EUV, der die prozedurale Seite recht detailliert regelt,
weitgehend aus. Gemäß Abs. 2 Satz 2 leg. cit. handelt die Union mit dem
Ausscheider das Abkommen über die Einzelheiten des Austrittes auf Grundlage der
Leitlinien des Europäischen Rates aus. Niklas Luhmann hätte
hier wohl von einer „Legitimation durch Verfahren“ gesprochen. Es steht zu
vermuten, dass sich die Union zunächst hartleibig zeigen und einer
Rosinenpickerei durch das Vereinigte Königreich eine Absage erteilen wird, um
einen Domino-Effekt zu verhindern. Aber ob man das auf lange Sicht durchhalten wird? Wie wird man möglichen
weiteren Austrittskandidaten klarmachen können, dass manche Ex-Mitglieder
gleicher sind als andere und der Brexit, falls er sich als formelles Out und
materielles Ziemlich-viel-In gestalten sollte, eben nicht die Blaupause für
künftige Artikel-50-Verhandlungen darstellt?
Möglicherweise
hat sich das Vereinigte Königreich mit dem Pro-Exit-Votum seinen
Fukushima-Moment geschaffen. „Nach der kollektiven Besoffenheit der Kater“, um Zettels Worte zu entlehnen. Wenn die Sinn Fein vorbringt, Nordirland werde durch ein
„demokratisches Defizit“ – nämlich die Überstimmung durch die Mehrheit der
Engländer und der Waliser – aus der Union hinausgedrängt, dann wird ein alter Anti-EU-Vorwurf auf die britische Union projiziert.
Dass der katholische Pan-Hibernismus durch das Brexit-Referendum Auftrieb erhält,
dürfte ausgemacht sein.
Für die Schotten könnte der
Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU die historische Chance bieten,
unabhängig zu werden und zugleich im europäischen Staatenverbund zu verbleiben.
Hätte sich das UK als Mitglied der EU gegen die Aufnahme eines sezedierenden
Schottlands gemäß Art. 49 letzter Satz EUV verwehren können, so fällt diese
Barriere natürlich weg, wenn Rumpfbritannien selbst draußen vor der Tür steht.
Ob sich Edinburgh hinsichtlich einer EU-Mitgliedschaft dann hinten anstellen
muss oder ob es Brüssel, Berlin und Paris (als Affront gegen London) zulassen,
dass das kleine Land in die Rechte und Pflichten des scheidenden Königsreichs
eintritt, wird die politische Realität erweisen und diesbezüglich ungeachtet
aller rechtsdogmatischen Erwägungen zweifellos ein Präjudiz für vergleichbare
Fälle schaffen. Denn was man Caledonia gewährt, wird man zum Beispiel Katalonien nicht
verweigern können.
Von den wirtschaftlichen Verwerfungen und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, welche die Ungewissheit über die zukünftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur Union mit sich bringen kann, ganz zu schweigen.
Noricus
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