25. Juni 2016

Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit?

„We’re out“, titelte der Internet-Auftritt der Daily Mail bereits vor Beendigung des Auszählvorganges zum Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union. Ungeachtet des nun vorliegenden Endergebnisses und der in den Medien teilweise verbreiteten Weltuntergangsstimmung ist diese Aussage natürlich grundfalsch. Der Inselstaat ist nach wie vor Mitglied des supranationalen Verbundes und wird das auch noch einige Zeit bleiben.


­
Aus europarechtlicher Perspektive hat der Austrittsprozess ohnehin noch gar nicht begonnen. Gemäß Art. 50 Abs. 1 bis 3 EUV kann jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorgaben beschließen, aus der Union auszutreten, und teilt der einen Austrittsbeschluss fassende Mitgliedstaat diese Absicht dem Europäischen Rat mit, worauf Trennungsverhandlungen aufgenommen werden. Wenn diese nicht binnen zwei Jahren oder einer im Einvernehmen bestimmten längeren Frist abgeschlossen werden, sind die Verträge im Hinblick auf den Austrittskandidaten nicht mehr anwendbar.

Es ist völlig einleuchtend, dass ein bloßes Abstimmungsergebnis noch nicht den von Art. 50 Abs. 2 Satz 1 EUV geforderten Startschuss für die Gespräche über die Scheidungsfolgen darstellen kann. Denn ob ein Austrittsbeschluss den Vorgaben der nationalen Verfassung genügt – wie von Abs. 1 leg. cit. gefordert – das kann natürlich nur die dazu berufene einzelstaatliche Instanz beurteilen. Im Rahmen seiner unionsrechtlichen Treuepflicht (Art. 4 Abs. 3 EUV) kann das austrittswillige Land den Beginn der Zweijahresfrist also selbst bestimmen. Eine Pflicht, den innerstaatlichen Willensbildungsprozess zu überstürzen, damit die anderen Mitglieder schnell Gewissheit haben, wird man aus dieser Norm nicht ableiten können.

Die bereits erwähnte Anordnung, dass die Verträge (gemeint ist damit gemäß der jedenfalls in Österreich sogenannten „Herzog-Mantel-Theorie“ das gesamte Unionsrecht, zur näheren Erläuterung darf mit Nachsicht für das Falschzitat auf Schillers „Fiesco“ verwiesen werden) auf den hinfortstrebenden Mitgliedstaat nicht mehr anwendbar sind, wenn binnen zwei Jahren oder einer vereinbarten längeren Frist kein Abkommen über die künftigen Beziehungen geschlossen worden ist, wirkt lebensfremd. Die Grundfreiheiten und die Zollunion können nicht von einem Tag auf den anderen übergangslos beendet werden, und man kann nicht einen Staat über Nacht von einer hochintegrierten, auf unzählige gesatzte Normen gestützten Union in das gewohnheitsrechtslastige Nebelmeer des allgemeinen Völkerrechts stürzen, es sei denn, man hat es auf herostratischen Ruhm abgesehen. Schreckenspotenzial entfaltet die Vorstellung, dass nach dem Buchstaben der viel zu oft gebrochenen Verträge mangels einer einvernehmlichen Fristerstreckung von einem Tag auf den anderen unverrichteter Verhandlungsdinge - um es im Schäuble-Talk zu formulieren - "over" sein könnte, aber wohl schon, und zwar nicht nur jenseits, sondern auch diesseits des Ärmelkanals.

Wie sollen nun die Beziehungen der Union zu ihrem verlorenen Sohn inhaltlich gestaltet werden? Darüber schweigt sich Art. 50 EUV, der die prozedurale Seite recht detailliert regelt, weitgehend aus. Gemäß Abs. 2 Satz 2 leg. cit. handelt die Union mit dem Ausscheider das Abkommen über die Einzelheiten des Austrittes auf Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates aus. Niklas Luhmann hätte hier wohl von einer „Legitimation durch Verfahren“ gesprochen. Es steht zu vermuten, dass sich die Union zunächst hartleibig zeigen und einer Rosinenpickerei durch das Vereinigte Königreich eine Absage erteilen wird, um einen Domino-Effekt zu verhindern. Aber ob man das auf lange Sicht durchhalten wird? Wie wird man möglichen weiteren Austrittskandidaten klarmachen können, dass manche Ex-Mitglieder gleicher sind als andere und der Brexit, falls er sich als formelles Out und materielles Ziemlich-viel-In gestalten sollte, eben nicht die Blaupause für künftige Artikel-50-Verhandlungen darstellt?

Möglicherweise hat sich das Vereinigte Königreich mit dem Pro-Exit-Votum seinen Fukushima-Moment geschaffen. „Nach der kollektiven Besoffenheit der Kater“, um Zettels Worte zu entlehnen. Wenn die Sinn Fein vorbringt, Nordirland werde durch ein „demokratisches Defizit“ – nämlich die Überstimmung durch die Mehrheit der Engländer und der Waliser – aus der Union hinausgedrängt, dann wird ein alter Anti-EU-Vorwurf auf die britische Union projiziert. Dass der katholische Pan-Hibernismus durch das Brexit-Referendum Auftrieb erhält, dürfte ausgemacht sein.

Für die Schotten könnte der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU die historische Chance bieten, unabhängig zu werden und zugleich im europäischen Staatenverbund zu verbleiben. Hätte sich das UK als Mitglied der EU gegen die Aufnahme eines sezedierenden Schottlands gemäß Art. 49 letzter Satz EUV verwehren können, so fällt diese Barriere natürlich weg, wenn Rumpfbritannien selbst draußen vor der Tür steht. Ob sich Edinburgh hinsichtlich einer EU-Mitgliedschaft dann hinten anstellen muss oder ob es Brüssel, Berlin und Paris (als Affront gegen London) zulassen, dass das kleine Land in die Rechte und Pflichten des scheidenden Königsreichs eintritt, wird die politische Realität erweisen und diesbezüglich ungeachtet aller rechtsdogmatischen Erwägungen zweifellos ein Präjudiz für vergleichbare Fälle schaffen. Denn was man Caledonia gewährt, wird man zum Beispiel Katalonien nicht verweigern können.

Von den wirtschaftlichen Verwerfungen und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, welche die Ungewissheit über die zukünftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur Union mit sich bringen kann, ganz zu schweigen.
Ob man die künftigen Entwicklungen nun durch die besorgte Brille des EU-Bürgers oder aus der desinvolvierten Perspektive des Betrachters der Zeitläufte sieht: Wir gehen spannenden Zeiten entgegen.
Noricus

© Noricus. Für Kommentare bitte hier klicken.