26. August 2013

Öffentlicher Friede, geheimer Krieg - der progressive Weg im Vergleich zur neokonservativen Strategie. Nebst eines Kommentars.


"Öffentlicher Friede", diesen Begriff kennt man in Deutschland eher aus der Rechtssprache. Ein wenig schwammig, trotzdem in zahlreichen Gesetzestexten vertreten, darunter auch dem Strafrecht. Die Polizei hat die Aufgabe, die öffentliche Ordnung zu erhalten, den "öffentlichen Frieden" zu wahren. Seinem Schutz dienen auch Tatbestände wie der Landfriedensbruch, der nicht notwendiger Weise ein unschuldiges Opfer braucht; in dessen Tatbestandsdefinition der Begriff allerdings nicht vorkommt, es wird stattdessen von öffentlicher Sicherheit geredet.
In Zukunft könnte "öffentlicher Friede" allerdings noch eine weitere Bedeutung erhalten, nämlich als scheinbar konträres Gegenstück zum "geheimen Krieg", die jedoch eine symbiotische Beziehung eingehen.
­Die folgende Analyse und Interpretation der unterschiedlichen Vorgehensweisen Barack Obamas und seines Vorgängers, George W. Bush, stammt aus dem frei online zugänglichen Artikel "Public Peace, Secret War: The Snooping Scandals and The President’s War Strategy" des amerikanischen "The American Interest". Ich teile die dortige Analyse, soweit ich es derzeitig überblicken kann, uneingeschränkt. Ich gebe die wesentlichen Aspekte im folgenden wieder und möchte sie gerne um einige eigene Anmerkungen und Gedanken ergänzen.

Laut dem "American Interest" dient die geheimgehaltene und kürzlich aufgedeckte Überwachung, zusammen mit den ebenfalls umstrittenen Drohnenprojekten, der Überwindung des öffentlich bewussten Kriegszustandes und der damit einhergehenden Kriegsmentalität in öffentlicher und veröffentlichter Meinung und der Bevölkerung.

Unter George W. Bush hat die Exekutive der USA und ihre Öffentlichkeitsarbeit unter der Prämisse eines offen deklarierten und geführten Krieges gearbeitet. Wie in jedem Krieg gab es natürlich geheime Projekte, verdeckte und - sagen wir mal - inoffizielle Operationen. Aber dass ein Krieg geführt wurde war öffentlich, war offiziell. Dass es sich aus Sicht der Regierung um einen Konflikt handelte, der den Begriff Krieg verdiente, mit all seinen Konsequenzen, prägte auch die öffentliche Wahrnehmung und damit auch die Meinung eines Großteils der Bevölkerung zur Bewertung einzelner Maßnahmen.

Nicht nur der rechtliche Kriegszustand mit seinen Konsequenzen, sondern insbesondere auch die dadurch hervorgerufene Kriegsmentalität in der Bevölkerung, also die kriegerische, militärische Mentalität, welche den öffentlichen Diskurs prägte, wurde von progressiven Kräften und insbesondere der progressiven Elite als problematisch wahrgenommen. Die damit einhergehende Mentalität der Bevölkerung und damit zwangsläufig auch die Mentalität des ebenfalls nur aus Menschen bestehenden Regierungsapparates wurde im Grund genommen sogar als weit problematischer betrachtet, als die Aufweichung traditioneller, in Friedenszeiten gefestigter Rechtsprinzipien. Diese Mentalität weckt nämlich, so die progressive Sorge, einen Teil der Bevölkerung, der als Jacksonians bezeichnet wird: Sehr stark außenpolitisch  engagiert, sollten sie ihr Land in Gefahr sehen, sind sie im Weltbild progressiver Vordenker ansonsten eher mit ihren Bibeln und Waffen beschäftigt. Worauf sie sich aus progressiver Sicht doch bitte wieder konzentrieren sollen, während sie die Außenpolitik progressiven Denkern und Präsident Obama überlassen mögen.

Etwas weniger freundlich formuliert: Bush, der Cowboy aus Texas, hat den bible belt mit seinen weißen, protestantischen Cowboys geweckt. Wenn es nach Obama ginge, mögen die sich doch bitte wieder ihren Bibeln, Waffen und sich selbst zuwenden und sich ihre (Kirchen-)Gemeinden einrichten, wie sie wollen, aber die Außenpolitik ihm und den seinen überlassen.

Um dies zu bewerkstelligen muss die Kriegsmentalität in der Bevölkerung, geschürt durch die Kriegsrhetorik seines Vorgängers und den offiziellen Kriegszustand, beendet werden. Wozu wiederum der Krieg offiziell beendet werden muss.

Einen hierzu notwendigen Schritt unternahm Barack Obama in seiner Rede vom 23. Mai diesen Jahres, in der er indirekt den "Krieg gegen den Terror" für beendet erklärte. Die Gefahr durch terroristische Organisationen soll nicht mehr als eine militärische Auseinandersetzung gesehen werden, sondern als ein besonders anstrengender Polizeieinsatz gegen eine besonders militante Form der organisierten Kriminalität. Doch damit ist es nicht getan. Damit die Kriegsmentalität abnimmt, dürfen auf keinen Fall neue größere Anschläge innerhalb der USA stattfinden und auch Anschläge außerhalb der Vereinigten Staaten und kleinere Vorkommnisse innerhalb der USA dürfen nicht zu häufig die öffentliche Wahrnehmung eines Kriegszustandes liefern. Auch macht es Barack Obama verletzlich, sollte es zu einem weiteren großen Anschlag innerhalb der USA kommen. Er geht mit seinen Äußerungen daher ein großes politisches Risiko ein.

Obama befindet sich also in der Zwickmühle, einerseits Kriegsrhetorik, Kriegsmentalität und ein Gefühl des Ausnahmezustandes  eindämmen zu wollen, andererseits unter allen Umständen das Ausbleiben neuer, erfolgreicher Anschläge auf amerikanischem Boden sicherzustellen (und hiermit sind keine kleinen Anschläge von Einzelgängern wie in Boston gemeint, bei denen nur eine Hand voll Menschen sterben).

Doch wie stellt man das sicher? Zum Beispiel durch Maßnahmen wie im Krieg. Entsprechend versucht die Administration sich alle notwendigen Informationen zu beschaffen, denn sie muss zu einer umfassenden Einschätzung der Lage befähigt sein. Ein möglichst guter Überblick über die Lage ist die natürliche Voraussetzung.

Der Präsident muss aber nicht nur exzellent informiert sein. Er muss auch auf Grund seiner Informationen wirksam handeln können. Er muss einen sich abzeichnenden Anschlag konsequent unterbinden können.

Hierzu behält sich auch Präsident Obama einen Katalog an militärischen Maßnahmen vor, die in einem innerstaatlichen Polizeieinsatz unter rechtsstaatlichen Bedingungen zweifelhaft bis eindeutig unzulässig wären. Um die Gefahr eines neuen Anschlages umfassend zu bannen, müssen im Zweifel auch amerikanische Staatsbürger, die im Verdacht stehen, gegen ihr eigenes Land Krieg zu führen, von Drohnen ausgeschaltet werden. Was nichts anderes heißt als sie allein auf Grundlage eines militärischen Befehls zu töten.

Dies steht natürlich in einem gewissen Widerspruch zum öffentlichen Anspruch, militärisches Vorgehen durch Polizeimaßnahmen zu ersetzen und die Gefahr durch Terrorismus nicht mehr als eine militärische Gefahr mit all ihren rechtlichen und mentalen Konsequenzen, sondern als eine Art von "ziviler" Kriminalität zu betrachten.

Obama versucht diesen Widerspruch zu lösen, in dem er die von ihm selber als notwendig erachteten außerordentlichen Maßnahmen möglichst weit aus der öffentlichen Wahrnehmung fernhält, wie gezielte Drohnenschläge,  oder vollständig im Verborgenen hält, wie die Überwachungs- und Abhörprojekte der amerikanischen Geheimdienste, während er in der Öffentlichkeit ein ziviles Klima verbreiten will, und deshalb zivile Polizeimaßnahmen und zivile Gerichtsverfahren propagiert.

Obamas Strategie hat einen entscheidenden Nachteil: Sie funktioniert. In dem er die allgemeine Wahrnehmung zivilisiert, die Kriegsmentalität von sich weißt und größere Anschläge erfolgreich vermeidet untergräbt er durch seine Öffentlichkeitsarbeit die Rechtfertigung seiner verborgenen Maßnahmen. Diese Schwäche ist seiner Strategie inhärent, sollte sie aufgehen und sie geht auf.


Kommentar:
Obamas Strategie hat ihren Reiz, gerade aus der Sicht einer progressiven Schicht, deren größte Sorge der politische Einfluss eines politischen Gegners ist, nicht weil dieser Gegner antidemokratischer Gesinnung wäre, sondern weil er eine andere, fremde Mentalität repräsentiert, welche den eigenen Vorstellungen der Atmosphäre in einer zivilisierten Gesellschaft zuwider läuft.

Der von Bush eingeschlagene Kurs kann kein Dauerzustand sein. Permanente Sonderrechte für die Exekutive, wie von der Bush-Administration beansprucht, verändern auf Dauer den Charakter einer gewaltenteiligen Republik.

Für einen beschränkten Zeitraum mag so etwas gerechtfertigt sein.




Falls aber die legislative Befugnis sich infolge irgendeiner geheimen Verschwörung gegen den Staat oder infolge irgendeines Einverständnisses mit äußeren Feinden für gefährdet hielte, könnte sie der exekutiven Befugnis die Verhaftung verdächtiger Bürger für eine kurze und beschränkte Zeit gestatten. Die Betroffenen würden ihre Freiheit nur zeitweilig verlustig gehen, damit die Freiheit für immer bewahrt wird.

Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de, Vom Geist der Gesetze, Übersetzung von Kurt Weigand, Stuttgart 1993


Auf lange Sicht kann es jedoch die politische Kultur nachhaltig verändern.

Auch Kanada hatte auf Grund terroristischer Entführungen in den 70er Jahren zeitweise die habeas-corpus-Rechte ausgesetzt. Zwar ist der War Measures Act inzwischen aufgehoben und Kanada hat inzwischen eine Grundrechtecharter in seiner geschriebenen Verfassung, doch die notwithstanding clause ermöglicht auch weiterhin die temporäre Aufhebung der meisten Grundrechte, darunter auch das Recht auf Haftüberprüfung. Die kanadische Demokratie hat es überdauert. Eine oberflächliche Betrachtung führt nicht weiter, um das zu erklären. Es reicht nicht die Aufhebung der habeas-corpus-Rechte in Kanada mit der Reichstagsbrandverordnung zu vergleichen und zynisch-rhetorisch zu Fragen "Wo ist denn da noch der Unterschied?"

Der Unterschied liegt in der politischen Kultur und der mentalen Verfassung des Staates, sowohl seines Staatsvolkes, als auch seines Staatsapparates.

Es gibt Ausnahmesituationen, auf die das geschriebene Recht und das mit bisheriger, alltäglicher Erfahrung gewachsene Rechtssystem nicht spontan angemessen reagieren können. Deshalb kennen fast alle Verfassungen, auch die westlicher Demokratien, Bestimmungen bezüglich eines Notstandsrechtes und Ausnahmebefugnissen. Länder, in denen solche nicht oder kaum in geschriebener Form in der Verfassung stehen, wie der Schweiz oder die USA, leiten sie aus ungeschriebenen oder nur angedeuteten Grundsätzen her und die Verwaltung und Gerichte lassen es, in einem gewissen Rahmen, als self-evident truth stehen. Von der Situation im Vereinigten Königreich ganz zu schweigen. Sowohl die Schweiz als auch die USA sind aber stabile Demokratien. Der Missbrauch einer Argumentation durch eine Diktatur schränkt den rechten Gebrauch nicht ein.

Doch liegt der Grund für diesen an praktischer Notwendigkeit und vernunftbegründeter Flexibilität orientierten Umgang in eben genau dem Charakter der Lage als Ausnahmesituation, also als eine Situation, die von den bisher gebildeten Grundannahmen, auf die das Rechtssystem aufbaut, überraschend oder zumindest unvorbereitet abweicht. Dies kann aber nicht mehr der Fall sein, wenn dieser Zustand zum Dauerfall wird.

Doch kann aus rechtsstaatlicher Sicht Obamas Strategie eine praktikable Lösung sein?

Ich denke nicht. Wie ich vorhin ausgeführt habe, kann die Frage der Stabilität des Rechtsstaates nicht unabhängig von der Kultur betrachtet werden, der er entspringt. Wenn Bush offensiv seine Maßnahmen als notwendige Kriegsmaßnahmen, angeordnet als Commander in Chief, verteidigt oder der Schweizer Bundesrat die Berufung auf Notstandsrecht verkündet, so ist dies in die öffentliche politische Kultur des Landes eingebaut und damit auch ihren Ansprüchen und Maßgaben unterworfen. Und die Maßnahmen müssen im Rahmen dieser Kultur politisch gerechtfertigt werden und sind dem öffentlichen Beratschlagen über politische Konsequenzen unterworfen.

Wenn Obama der Ansicht wäre, ein funktionierender Rechtsstaat setze eine zivilisierte, rechtsstaatliche Prinzipien fordernde Kultur voraus, so hätte er recht. Und auf den ersten Blick scheint dies der Grundgedanke hinter Obamas progressiver Strategie zu sein. Doch Obama sieht das Problem nicht in Ausnahmerechten, die nicht durch eine freiheitlich gesinnte Öffentlichkeit  beschränkt werden. Er traut zwar dieser Öffentlichkeit nicht und sieht sie von einer ihm fremden und ungewohnten Mentalität geleitet, der er den Umgang mit dem Konzept der Notsandmaßnahmen wegen eines Kriegszustandes nicht zutraut, die Ausnahmerechte hält er aber trotzdem für notwendig und möchte nicht auf sie verzichten. Er möchte diese aber nicht durch die kulturelle Tradition gebunden wissen, da er eben jener misstraut und sie im übrigen mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln so gut er kann ändern möchte. 

Wollte Obama die rechtsstaatliche Mentalität bewahren und retten, so müsste er transparente, rechtsstaatliche Mittel in einem öffentlichen Prozess ausarbeiten. Hält er dagegen seine Landsleute, die ihn wiederholten mehrheitlich gewählt haben, für unfähig Angesichts einer Gefährdung vom Verstand geleitet, gemäßigte Abwägungen zu treffen, liegt es aus seiner Sicht nahe genau so zu handeln, wie er es jetzt tut.

Noch nie wurden so viele Menschen unter einem US-Präsidenten wegen Geheimnisverrates angeklagt, wie unter Obama. Mehr noch, unter Obama werden mehr Menschen wegen Geheimnisverrat verfolgt als unter allen seinen Vorgängern zusammen und das mit besonderem Eifer. Gab es eine Explosion an Whistleblowern nach 2008? Oder hat Obama es mit seiner Strategie nötiger als Bush die volle Informationskontrolle zu behalten?


In den Science-Fiction-Serie "Star Trek" und ihren Spin-Offs wird die Erde als Teil eines umfassenderen utopisch-idealistischen Gebildes dargestellt, der "Vereinigten Föderation der Planeten". Diese besitzt Gewaltenteilung, eine Verfassung mit Grundrechten, ähnelt in ihrem Aufbau grob einer Mischung aus Vereinte Nationen und USA und hebt sich von den anderen skrupellosen Großmächten mit ihren berüchtigten Geheimdiensten ab - und hat selber einen inoffiziellen Geheimdienst, der im Gegensatz zu den anderen Großmächten ohne offiziellen Auftrag und autonom ohne Kontrolle durch offizielle Staatsorgane im Hintergrund agiert: Sektion 31.

Luther Sloan, der Vizepräsident dieser Sektion bringt die Grundidee hinter diesem Fremdkörper im idealistischen Staatsaufbau der Föderation gegenüber einem idealistischen Arzt der Sternenflotte wunderbar auf den Punkt:



"The Federation needs men like you, doctor. Men of conscience. Men of principle. Men who can sleep at night... You're also the reason Section Thirty-One exists -- someone has to protect men like you from a universe that doesn't share your sense of right and wrong."

Vollständig vergleichbar ist die Realität damit natürlich nicht. Es geht nicht um einen vollkommen autonomen Geheimdienst, der nicht einmal der offiziellen, gewählten Exekutive untergeordnet ist. Vielmehr geht es um die Mentalität eben genau jener offiziellen, gewählten Exekutive. Obamas Mentalität scheint mir durch das obige Zitat gut erfasst zu sein: Die Bevölkerung möge doch bitte eine idealistische Haltung einnehmen und sich ihres guten Gewissens und ihrer moralischen Überlegenheit erfreuen, um damit das von ihm gewünschte gesellschaftliche Klima für eine möglichst ideale Gesellschaft zu schaffen, die seiner Utopie entspricht - er trifft dann schon die harten Entscheidungen für sie. Entscheidungen für die es besonderer Persönlichkeiten bedarf. Der Rest braucht ein unbeflecktes Gewissen, damit die Gesellschaft dem Ideal entspricht.

Techniknörgler


© Techniknörgler. Mit Dank an Kallias für Verbesserungsvorschläge beim formulieren und Korrekturlesen. Für Kommentare bitte hier klicken.