22. August 2011

Marginalie: Unsere schwarzen Schafe - die Opfer der deutschen Volksgemeinschaft. Noch einmal zum Nicht-Skandal um Christian v. Boetticher

Warum ist Mobbing so verbreitet, warum gibt es in so vielen Gruppen und sonstigen sozialen Gemeinschaften "den Außenseiter", "den Prügelknaben", "das schwarze Schaf"? Weil das gemeinsame Ablehnen eben etwas Gemeinsames ist, also etwas, das den Zusammenhalt der Gruppe fördert. Jedenfalls ist das eine in der Sozialpsychologie und Politologie weithin vertretene Annahme.

Es gibt da freilich Abstufungen. Es gibt Zeiten, die toleranter gegenüber Außenseitern sind als andere; es gibt kulturelle und nationale Unterschiede. Es gibt auch innerhalb einer nationalen Kultur Differenzierungen. Die Briten beispielsweise haben traditionell viel Verständnis für den eccentric, den Exzentriker mit seinem spleen. Zugleich haben sie aber die Neigung, kollektiv über einen Politiker herzufallen, der die moral standards verletzt hat; wie auch ihre Vettern jenseits des Atlantik. Bill Clinton hat das zu spüren bekommen, jüngst der Abgeordnete Anthony Weiner.

Deutschland war nie eine besonders tolerante Gesellschaft. Außenseiter hatten es bei uns immer schwer. Wir Deutschen neigen - das Ausland bescheinigt es uns immer wieder - zur nationalen Harmonie, zum Konsens. Ohne diese Neigung wäre der kollektive Taumel, in dem sich Deutschland entschloß, eine Aussteigernation zu werden, überhaupt nicht denkbar (siehe "Was dann?" - Aussteigernation Deutschland; ZR vom 28. Mai 2011).

Es scheint, daß ein Preis für die deutsche nationale Harmonie diese erbarmungslosen Feldzüge sind, die gegen Andersdenkende oder anders Handelnde geführt werden. Ob Filbinger oder Jenninger, ob Engholm oder Späth - wer erst einmal in der Rolle des schwarzen Schafs ist, der hat keine Chance mehr. Auch nicht für ein Comeback, wie man es in anderen Ländern in Ungnade gefallenen Politikern nach einer angemessenen Frist zugesteht.

Jetzt hat es also Christian von Boetticher getroffen. Meine Meinung zu diesem "Fall", der aus meiner Sicht keiner ist, habe ich vor knapp einer Woche dargelegt (Christian von Boetticher ist nichts vorzuwerfen. Und also? Deutschland auf dem Weg zurück zum Muff der Adenauerzeit? Schlimmer!; ZR vom 16. 8. 2011). Ich komme noch einmal darauf zurück, weil jetzt die Reaktionen des Opfers bekannt werden. In FAZ.Net findet man sie zusammengefaßt:
Wenige Tage nach seinem Rücktritt hat sich der frühere schleswig-holsteinische CDU-Chef Christian von Boetticher zu Wort gemeldet und schwere Vorwürfe gegen die eigene Partei erhoben. In verschiedenen Interviews beklagt er seine "öffentliche Hinrichtung" im Zusammenhang mit der Affäre um seine frühere Beziehung zu einer 16-Jährigen Schülerin. (...)

Von den Medien fühlt sich von Boetticher verfolgt. "Für mich war das eine öffentliche Hinrichtung auf Basis moralischer Wertungen", sagte er der Zeitschrift "Focus". Er verstecke sich seit Tagen an geheimen Orten. "Ich fühle mich wie Dr. Kimble auf der Flucht".
Man kann das verstehen. Der eben noch Geachtete, der Spitzenmann seiner Partei, wird in dem Augenblick, in dem ihm die Rolle des Außenseiters zugewiesen wird, zum Objekt medialer Herabwürdigung. Auch noch der schäbigste Schreiber darf sein Mütchen an ihm kühlen, von Florian Gathmann ("Lolita-Affäre") bis Ralf Wiegand ("Lolitagate"). Alles, was er sagt, kann nun gegen ihn verwendet werden.

Er ist der Gelieferte, der Gelackmeierte. Niemand - jedenfalls niemand, der noch Karriere machen will - stellt sich mehr an seine Seite; man könnte ja kontaminiert werden. So geht es nicht nur Politikern; so ist es beispielsweise auch Martin Walser ergangen, und vor allem im letzten Jahr dem Buchautor Thilo Sarrazin.

Autoren kommen über so etwas meist hinweg. Für Politiker ist es das Aus. Noch einmal FAZ.Net über Christian v. Boetticher:
Für die Zukunft habe er noch keine konkreten Pläne, er wolle sich erst einmal sammeln und zur Ruhe kommen. Er könne sich vorstellen, als Anwalt zu arbeiten, in die Wirtschaft zu wechseln oder in die Vereinigten Staaten zu gehen. Eine Entscheidung sei aber noch nicht gefallen.
Es geht nicht allein um solche Einzelschicksale. Es geht auch darum, daß in einem Land, in dem jeder Politiker, der sich auch nur die geringste persönliche Blöße gibt, gnadenlos fertiggemacht wird, nur noch diejenigen Politiker gedeihen, die keine Blöße haben können, weil es ihnen an Persönlichkeit mangelt.

Es wird geschliffen, es wird abgeschliffen. Übrig bleiben die Angepaßten, die perfekt Funktionierenden, die grauen Apparatschiks. Diejenigen, die sich stets nach allen Seiten absichern. Diese Einheitsgestalten, die perfekt die Rolle des Politikers ausfüllen, weil außerhalb dieser Rolle bei ihnen das blanke Nichts ist. Diejenigen also, die diese harmoniesüchtige deutsche Volksgemeinschaft verdient hat.
Zettel



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