17. Januar 2011

Zitat des Tages: Der Iran, der Irak, die USA - und jetzt Tunesien

The United States now faces a critical choice. If it continues its withdrawal of forces from Iraq, Iraq will be on its way to becoming an Iranian satellite. (...)

If Iraq becomes an Iranian ally or satellite, the Iraqi-Saudi and Iraqi-Kuwaiti frontier becomes, effectively, the frontier with Iran. The psychological sense in the region will be that the United States has no appetite for resisting Iran. (...)

In other words, with the most strategically located country in the Middle East — Iraq — Iran now has the ability to become the dominant power in the Middle East and simultaneously reshape the politics of the Arabian Peninsula.


(Die USA stehen jetzt vor einer kritischen Wahl. Wenn sie den Abzug ihrer Truppen aus dem Irak fortsetzen, dann wird der Irak auf dem Weg sein, ein Satellit des Iran zu werden. (...)

Wenn der Irak ein Alliierter oder Satellit des Iran wird, dann werden die irakisch-saudische und die irakisch-kuweitische Grenze faktisch die Grenze zum Iran sein. Der psychologische Eindruck in der Region wird sein, daß die USA keine Lust darauf haben, dem Iran zu widerstehen. (...)

Mit anderen Worten: Zusammen mit dem Land des Nahen Ostens mit der wichtigsten strategischen Lage - dem Irak - hat der Iran jetzt die Fähigkeit, die Vormacht des Nahen Ostens zu werden und zugleich der Politik auf der arabischen Halbinsel eine neue Gestalt zu geben.)

George Friedman am 11. Januar bei Stratfor.


Kommentar: Lesern von ZR ist diese Analyse nicht neu (siehe Die Gefahr eines Kriegs im Nahen Osten wächst; ZR vom 21. 8. 2010, und "Wir geraten unter iranische Besatzung". Präsident Obama erhält die Quittung für seine Irakpolitik; ZR vom 19. 10. 2010). Die Ereignisse in Tunesien, die Friedman noch nicht berücksichtigen konnte, geben ihr aber einen neuen Aspekt; und eine neue Brisanz.

Friedmans Aufsatz trägt den Titel "The Turkish Role in Negotiations with Iran", die Rolle der Türkei in den Verhandlungen mit dem Iran. Denn am 21./22. Januar beginnen diese Verhandlungen wieder; auf der anderen Seite des Verhandlungstischs sitzen die fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats sowie Deutschland. Verhandelt wird in Istanbul; und Friedman diskutiert die Frage, ob die Türkei willens und fähig sein könnte, als Ordnungsmacht der Region an die Stelle der USA zu treten.

Vielleicht ist die Türkei beides (siehe "Diese Region hat das Potential, die Welt zu gestalten". Erdoğan über die imperialen Pläne der Türkei; ZR vom 13. 1. 2011). Aber der Sturz von Präsident Ben Ali in Tunesien fügt der ohnehin schwierigen Situation in der Region eine weitere Komponente hinzu.

In der Wochenendausgabe der Washington Post untersuchen Liz Sly und Leila Fadel die Auswirkungen der Entwicklung in Tunesien auf die arabischen Länder:
For the first time in the history of a part of the world long calcified by autocratic rule, a dictator had been forced from office by a popular revolt, and it was all broadcast live on television

Leaders braced for the fallout. Elites analyzed the potential for the revolution to spread. Ordinary people celebrated, marveled, gossiped and wondered: Will it happen here? What can we do? And, perhaps most important, who will be next?

Only one certainty stood out: The turmoil in tiny Tunisia, long ignored as a sleepy outpost of relative stability on the fringe of a volatile region, will have profound ramifications for the rest of the Arab world.

Erstmals in der Geschichte dieses Teils der Welt, der durch autokratische Regierungen verkrustet ist, wurde ein Diktator durch einen Volksaufstand aus dem Amt gejagt, und alles war live im Fernsehen zu sehen.

Staatenlenker bereiteten sich auf den Fallout vor. Eliten analysierten die Möglichkeit, daß die Revolution sich ausbreitet. Gewöhnliche Bürger feierten, staunten, gaben Gerüchte weiter und fragten sich: Wird es hier geschehen? Was können wir tun? Und, vielleicht am wichtigsten: Wer ist als nächster dran?

Nur eines ragte als sicher heraus: Der Aufruhr im winzigen Tunesien, das lange als verschlafener Außenposten relativer Stabilität am Rand einer unsteten Region galt, wird tiefe Auswirkungen auf die übrige arabische Welt haben.
Gestern habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß die Revolution in Tunesien keineswegs zu einer demokratischen Entwicklung führen muß, sondern ebenso Islamisten an die Macht bringen könnte ("Das Schlimmste kann kommen"; ZR vom 16. 1. 2011).

Liz Sly und Leila Fadel weisen darauf hin, daß Islamisten in Saudi-Arabien, in Jordanien, in Ägypten und in Syrien die heftigsten Opponenten der jeweiligen Regimes sind. Vor allem in Ägypten ist die Moslem-Bruderschaft stark. Die Autorinnen zitieren einen jordanischen Analytiker, Labib Kamhawi:
Change could come not for the better but for the worse, if fundamentalist forces succeed in taking over. (...) Tunisia was not that important at the end of the day. But what if a more important ally, such as Egypt or Saudi Arabia, was at stake? Would the Americans risk serious change in a more important country?

Es könnte eine Veränderung nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren geben, wenn fundamentalistische Kräfte an die Macht kommen. (...) Am Ende wird Tunesien nicht so wichtig gewesen sein. Aber was, wenn ein wichtigerer Alliierter, etwa Ägypten oder Saudi-Arabien, auf dem Spiel stehen würde? Würden die Amerikaner einen grundlegenden Wandel in einem wichtigeren Land riskieren?



Präsident Obama hat bisher keinen Hinweis darauf geliefert, daß er überhaupt die bisherige Machtposition der USA im Nahen Osten aufrechterhalten will. Er will raus aus dem Irak, um jeden Preis; unter anderem dürfte er sich davon einen Vorteil erhoffen, wenn 2012 seine Wiederwahl ansteht.

Er wird damit den Irak dem Iran überlassen. Wenn dann noch revolutionäre Situationen in Ländern Arabiens, ausgelöst durch die Ereignisse in Tunesien, hinzukommen sollten, dann könnte der Nahe Osten im Jahr 2011 sehr unruhig werden.



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