21. Juni 2010

Marginalie: Niebels "Eklat". Die vermutlichen Hintergründe des Theaterdonners

Wenn es um Israel geht, dann purzeln die Meinungen aus den Zeitungsspalten wie die Zigarettenschachteln aus dem Automaten. Je nachdem, wo man gedrückt hat, ist es die Marlboro oder eine Lucky Strike.

Auf der viertägigen Nahost-Reise des Ministers für Entwicklungshilfe hat es einen Eklat gegeben. Niebel wollte am gestrigen Sonntag von Israel aus nach Gaza einreisen, um dort ein Klärwerk besuchen, für dessen Bau die Bundesregierung knapp vierzig Millionen Euro bereitgestellt hat. Er wollte auch Gespräche mit Vertretern des Hilfswerks der Vereinten Nationen führen.

Israel hat ihm die Einreise nach Gaza verweigert. Der Minister zeigte sich empört. Der "Leipziger Volkszeitung" sagte er, die Verweigerung der Einreise sei ein "großer Fehler" gewesen. Dann wurde er grundsätzlich. Die Blockade Gazas durch Israel sei "kein Zeichen von Stärke, sondern eher ein Beleg unausgesprochener Angst". Er sei "betrübt", sagte Niebel, daß "es Israel momentan auch seinen treuesten Freunden so schwer macht, sein Handeln zu verstehen". Und es sei "für Israel fünf Minuten vor Zwölf, um die Uhr noch anzuhalten".

Israel kommentierte den Vorfall kühl. Die israelische Zeitung Haaretz gestern in ihrer Internet-Ausagabe:
Israeli Foreign Ministry spokesman Yigal Palmor said the move was part of Israel's long-standing policy on Gaza, which the Islamist group Hamas controls. "We do not allow senior politicians into Gaza because Hamas will manipulate such visits to gain legitimacy," said Palmor.

Der Sprecher des israelischen Außenministeriums Yigal Palmor sagte, daß die Entscheidung Teil der seit langem bestehenden Politik Israels hinsichtlich Gaza sei, das von der Hamas beherrscht wird. "Wir erlauben führenden Politikern nicht die Einreise nach Gaza, weil die Hamas solche Besuche manipuliert, um Legitimität zu erlangen".



Noch bevor überhaupt geklärt ist, wie es zu dem Eklat kommen konnte, stehen die Meinungen vieler Kommentatoren schon fest. Die Schachteln purzeln aus den Automaten.

In "Welt-Online" schreibt die pro-israelische Andrea Seibel, stellvertretende Chefredakteurin der "Welt":
Ein leibhaftiger deutscher Minister will in Gaza eine mit deutschen Steuergeldern finanzierte Kläranlage besichtigen. Normalerweise ist das Aufgabe eines Referenten. Die Israelis waren nicht amüsiert, sondern sagten Nein. Und der Minister entrüstete sich. (...) Ist dem Minister nicht bewusst, in welch prekärer Zeit er Einlass nach Gaza begehrte? Fehlt es dem Minister an Urteilsvermögen, wenn er öffentlich betont, es sei "für Israel fünf vor zwölf"? Oder will er Deutschland emotional gegen Israel aufbringen?
In sueddeutsche.de hingegen entrüstet sich der gar nicht pro-israelische Peter Münch, derzeit Korrespondent des Blatts in Jerusalem:
Ein Affront ist das gegenüber der Bundesregierung, ein Akt imperialer Willkür - und für die israelische Regierung ebenso beschämend wie entlarvend. (...) Dies zynische Kalkül jedoch darf niemand akzeptieren, und es gibt durchaus Möglichkeiten, diese Art der Blockade zu brechen - auch für Niebel. Er hat in Israel seiner Wut deutlich Luft gemacht, doch das ist wohlfeil. Denn er könnte mehr tun als zu schimpfen: Er könnte schnellstens versuchen, auf anderem Weg nach Gaza zu kommen. Schließlich hat Ägypten die Grenze in Rafah geöffnet.
Er möchte also gern Öl ins Feuer gießen, jener Peter Münch, der schon zuvor durch israelfeindliche Berichterstattung aufgefallen ist. Und Andrea Seibel andererseits hat Niebel in Verdacht, er wolle Deutschland emotional gegen Israel aufbringen.

Die Emotionen, sie gehen in der Tat hoch. Wie auch anders beim Thema Israel. "Zeit-Online" hat gestern Abend zusammengestellt, wie sie sich empören, wie sie kritisieren und es besser wissen, die Politiker, die Funktionäre. Euromünzen rein, Zigarettenschachtel raus.



Versuchen wir es einmal nüchtern zu sehen.

Erstens ist Dirk Niebel ein ausgewiesener Freund Israels.

Er hat als junger Mann ein Jahr in Israel gelebt, in einem Kibbutz. Er war lange Mitglied der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe und ist seit 2000 Vizepräsident der Deutsch-israelischen Gesellschaft.

Kurz nach seinem Amtsantritt hat er auf die Frage, welche Schwerpunkte er als Minister setzen werde, geantwortet: "Meine Amtsvorgängerin hat bewusst mit Israel nicht kooperiert. Ich will das Gegenteil und mit Israel Projekte in Afrika und Zentralasien durchführen".

Die Vermutung, ausrechnet Niebel wolle Deutschland emotional gegen Israel aufbringen, ist abwegig.

Zweitens: Von einem "Akt imperialer Willkür", wie das Peter Münch behauptet, kann keine Rede sein. Israel verfolgt seit dem Amtsantritt von Netanyahu mit guten Gründen die Politik, führende ausländische Politiker nicht nach Gaza einreisen zu lassen; denn jede solche Reise wertet notwendigerweise die Herrschaft der Hamas auf. Israel hat gegenüber Niebel nichts getan, als dieser Politik treu zu bleiben.

Wenn ein Freund Israels wie Niebel sich durch eine vernünftige Maßnahme Israels derart getroffen fühlt - was ist dann passiert?

Wir wissen es bisher nicht. Bei einem solchen Eklat gibt es immer zwei Möglichkeiten: Er kann entweder aus Mißverständnissen, aus diplomatischem Ungeschick auf einer oder auf beiden Seiten resultieren. Oder er kann innerhalb eines politischen Kalküls gewollt gewesen sein. Beides ist hier möglich.

Glaubt man Clemens Verenkotte vom ARD-Hörfunkstudio Tel Aviv, dann hatte Niebel seit Beginn der Reiseplanungen vor einigen Wochen der israelischen Regierung seine Absicht kundgetan, die Kläranlage in Gaza zu besuchen. Die israelische Regierung hatte - laut Verenkotte - nicht ja und nicht nein gesagt. Sie hat aber - siehe unten - in den letzten Tagen die Möglichkeit einer Lockerung der Blockade des Gaza-Streifens angedeutet. Offenbar ging Niebel bis vorgestern davon aus, daß man ihn würde einreisen lassen. Sein Zorn mag daher rühren, daß ihm das dann plötzlich verwehrt wurde.

Hatten Niebel und seine Mitarbeiter die Signale aus der israelischen Regierung falsch verstanden? Oder wollten sie, indem sie ungerührt den Besuch des Klärwerks vorbereiteten, Jerusalem in Zugzwang bringen, die Delegation reisen zu lassen, zwecks Vermeidung eines Eklats, wie er jetzt eingetreten ist? Dann hatten sie offenbar zu hoch gepokert.

Oder hat die Regierung Netanyahu sich erst kurzfristig entschlossen, Niebel und seine Leute nicht nach Gaza zu lassen? Sieht man dort vielleicht den Eklat sogar ganz gern? Auch das könnte plausibel sein.

Seit heute morgen um kurz nach drei Uhr steht in Haaretz als Aufmacher ein Artikel mit der Überschrift "Government approves plan to dramatically ease Gaza blockade" - die Regierung habe einen Plan gebilligt, die Blockade Gazas drastisch zu lockern. Diese Entscheidung des Sicherheitskabinetts fiel am gestrigen Sonntag; einen Tag, nachdem Israel Niebel die Einreise nach Gaza verweigert hat.

Laut Haaretz hat sich diese Entscheidung um einige Tage verzögert, weil noch Gespräche mit Ägypten und der Palästinensischen Autonomiebehörde liefen, deren Zustimmung Israel einholen wollte.

Vorausgegangen waren intensive diplomatische Aktivitäten während des ganzen Wochenendes. Es gab Marathon-Sitzungen zwischen israelischen Regierungsmitgliedern und Vertretern Ägyptens und der USA; Tony Blair war als Sprecher des "Nahost-Quartetts" eingeschaltet. Daniel Shapiro, der Nahost-Chefberater Präsident Obamas, war in den vergangenen Tagen in Israel, um mit israelischen und palästinensischen Verantwortlichen über Gaza zu sprechen. Obamas Nahost-Sonderbotschafter George Mitchell besuchte derweil Ägypten mit dem Auftrag, Präsident Hosni Mubarak mit ins Boot zu holen.



Dirk Niebel hatte das Pech, daß sein geplanter Klärwerk-Besuch mit diesen hektischen diplomatischen und politischen Aktivitäten zusammenfiel. Was nun Israels Regierung bewog, ihn nicht nach Gaza einreisen zu lassen, läßt sich nicht sagen. Vielleicht wollte man mitten in den Verhandlungen kein Signal setzen. Vielleicht war der Eklat auch ganz gern gesehen, als Zuckerl für diejenigen auf dem rechten Flügel des politischen Spektrums in Israel, die jetzt gegen die Entscheidung der Regierung angehen werden. Da kann man viel spekulieren.

Wie auch immer - Niebel sollte sich nicht persönlich getroffen fühlen; Deutschland sollte sich nicht getroffen fühlen. Und vor allem sollte sich Niebel nicht von den Feinden Israels vereinnahmen lassen. Israel seinerseits sollte mit Gelassenheit abwarten, bis der Sturm im deutschen Wasserglas sich gelegt hat.

Denn mehr ist das nicht. Passiert ist nichts. Es hat nur ein wenig theatergedonnert.



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