5. November 2009

Claude Lévi-Strauss, Wissenschaftler und Denker. Ein Nachruf

Claude Lévi-Strauss war ein Denker. Er war einer der letzten empirischen Wissenschaftler, die man mit Fug Denker nennen kann. Freud war auch ein Denker. Jean Piaget war ein großer Denker. Burrhus Frederic Skinner war es; zwar nicht der Begründer, aber der bedeutendste Vertreter des Behaviorismus.

Empirische Wissenschaftler, die zugleich Denker sind, findet man vorzugsweise im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Philosophie. Also dort, wo Wissenschaften noch nicht erwachsen geworden sind; wo sie sich noch nicht völlig von der Philosophie gelöst haben. Im Zwanzigsten Jahrhundert folglich vor allem in den Humanwissenschaften. In der Soziologie, der Psychologie, der Linguistik, der Anthropologie.

"Anthropologie" hat sich unter dem Einfluß des Englischen inzwischen auch in Deutschland als Name des Faches eingebürgert, das ursprünglich Ethnologie hieß. Die Anthropologie war im Deutschen zuvor nur ein Zweig der biologischen Humanwissenschaft gewesen, der sich vor allem mit der Evolution des Menschen beschäftigt. Zugleich wurde und wird das Wort für jene Disziplin der Philosophie verwendet, der es um das Wesen des Menschen geht.

Auch noch der Ethnologie durch eine Umtaufe diesen Namen zu geben, war keine glückliche Entwicklung. Aber sie hat sich nun einmal vollzogen; nennen wir also Lévi-Strauss einen Anthropologen.



Wissenschaften beginnen deskriptiv. Am Anfang steht die Beobachtung. Dann versucht man, die Beobachtungen zu systematisieren; sie in ein begriffliches System zu fassen. Aristoteles hat das als erster für viele Wissenschaften getan.

Auf dieser Ebene ist man immer noch beim Beschreiben; aber nun bei einem geordneten Beschreiben. Man beschreibt, aber jetzt innerhalb eines konzeptuellen Gerüsts.

Schreitet die Wissenschaft weiter fort, dann wächst die formale Komplexität. Man analysiert dann Strukturen und Funktionen; man sucht nach spezifischen, formalisierbaren Gesetzmäßigkeiten.

Dieser Übergang hat sich in den einzelnen Wissenschaften zu unterschiedlichen Zeiten vollzogen. In der Physik begann er an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert mit den Arbeiten Galileis. In den Humanwissenschaften setzte er im 19. Jahrhundert ein und reichte weit ins 20. Jahrhundert hinein.

Einer der ersten Psychologen, der empirische Daten mathematisch zu beschreiben versuchte, war Gustav Theodor Fechner Mitte des 19. Jahrhunderts. Die formale Linguistik wurde an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch Ferdinand de Saussure begründet. Sein Zeitgenosse Sigmund Freud suchte die Psychologie der Persönlichkeit auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Für die Entwicklungspsychologie leistete das im 20. Jahrhundert Jean Piaget. Für die Anthropologie ganz wesentlich Claude Lévi-Strauss.



Wie jede Wissenschaft war die Anthropologie zunächst eine deskriptive Disziplin. Völkerkunde interessierte bereits die Antike. Händler und Reisende berichteten von fremden Völkern; ihrem Aussehen, ihren Sitten, ihrer Sprache. Schon Herodot hat das gesammelt; später dann Plinius d.Ä.

Diese Art einer beschreibenden, oft anekdotischen Völkerkunde findet man bis ins Zwanzigste Jahrhundert; Margaret Mead war ihre vielleicht bekannteste Vertreterin. Der Forscher reist zu fremden Völkern; beobachtet sie, findet Informanten und beschreibt, wie das jeweilige Volk oder der Stamm lebt, wie die Menschen denken und welche Glaubensinhalte sie haben.

Das entspricht dem Stand der Physik vor Galilei und demjenigen der Entwicklungspsychologie vor Piaget, die sich damit begnügte, zu beschreiben, wie Kinder heranwachsen.

Piaget aber analysierte den Entwicklungsprozeß allgemein hinsichtlich seiner Strukturen und Funktionen. Sein theoretischer Schwerpunkt lag bei den Funktionen wie dem Wechselspiel von Assimilation (der Aufnahme von Information und ihrer Integration in Schemata) und Akkommodation (der Anpassung dieser Schemata an Erfahrungen). Lévi-Strauss leistete Ähnliches für die Anthropologie. Bei ihm lag der Schwerpunkt aber bei Strukturen. Das hat der von ihm begründeten Forschung den Namen "Strukturalismus" eingetragen.

So wie de Saussure und Freud Zeitgenossen waren, waren es rund zwei Generationen später auch Piaget und Lévi-Strauss. Piaget wurde 1896 geboren und starb 1980. Lévi-Strauss wurde 1909 geboren und starb am 30. Oktober 2009; in der Nacht vom vergangenen Samstag zum Sonntag. Bekannt wurde sein Tod aber erst am Dienstag dieser Woche, also vorgestern.



Es ist bei solchen Wissenschaftlern, die zugleich Denker sind, nicht selten, daß sie aus anderen Disziplinen kommen als derjenigen, welcher eine wissenschaftliche Grundlage zu geben sie sich zum Ziel setzen. Freud arbeitete zunächst als Biologe und Physiologe, bevor er zur Psychologie kam. Piaget war von Haus aus Biologe. Lévi-Strauss studierte Philosophie und entwickelte dabei ein Interesse für Soziologie.

Das veranlaßte ihn zu einem Forschungsaufenthalt in Brasilien in den Jahren 1935 bis 1939, während dem er sich der Erforschung verschiedener Indianerstämme widmete.

Dies waren die einzigen Jahre, in denen Lévi-Strauss sich mit Feldforschung befaßte. Wie es bei großen Theoretikern nicht selten ist, lag ihm die empirische Arbeit nicht. Auch Jean Piaget hat nur in einem relativ kleinen Teil seines Forscherlebens selbst Daten gesammelt. Als Lévi-Strauss Jahrzehnte später über seine damalige Feldforschung berichtete, begann sein Buch Tristes tropiques (Traurige Tropen) mit einem banalen Satz, der seltsamerweise berühmt wurde: "Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende".

Für schnöde empirische Forschung sind diese Wissenschaftler eben viel zu sehr Denker. Piaget suchte Psychologie, Erkenntnistheorie und sogar Logik und Mathematik miteinander zu verknüpfen. Lévi-Strauss wollte mehr sein als nur ein Völkerkundler.

Während seiner Emigration in den USA knüpfte er in New York enge wissenschaftliche Kontakte zu dem Linguisten Roman Jakobson, der in seinem wissenschaftlichen Werk auf de Saussures formale Analyse der Sprache aufbaute.

Um Strukturen ging es beiden. Der Anthropologe Lévi-Strauss wollte nicht diese und jene Stammesgesellschaft erforschen, sondern er wollte die Strukturen herausfinden, die generell in solchen Gesellschaften herrschen; zum Beispiel in Bezug auf die Verwandtschaft. Der Linguist Jakobson wollte nicht die eine oder die andere Sprache (langue) untersuchen, sondern wie schon de Saussure die Struktur von Sprache als solche (langage). Darin trafen sich die beiden, und aus ihrer Zusammenarbeit entstand das, was man heute Strukturalismus nennt.

Ein nichtssagendes, ein vielleicht sogar irreführendes Etikett. Denn jeder Wissenschaft geht es natürlich um das Aufdecken von Strukturen. Die Chemie ist, wenn man so will, ein einziger Strukturalismus; von der Struktur des periodischen Systems bis hin zu Struktur von Molekülen. Die Physik untersucht Strukturen der Materie, die Astronomie Strukturen des Kosmos.

Lévi-Strauss und Jakobson waren Strukturalisten, weil sie ihren jeweiligen Gegenstand auf einer höheren wissenschaftlichen Stufe angingen als diejenigen, die ihr Augenmerk nur auf einzelne Stammeskulturen und einzelne Sprachen richteten. Sie interessierten sich für das Allgemeine, das Gemeinsame, also das Abstrakte. Somit zwangsläufig für Strukturen.



Strukturen sind in menschlichen Gesellschaften ubiquitär. Lévi-Strauss hat sich mit zweien davon besonders eingehend befaßt: Mit den Strukturen der Verwandtschaft und mit denjenigen, die in der Mythologie zu finden sind. Den Verwandtschaftsverhältnissen hat er das erste Buch gewidmet, das ihn berühmt machte: Les Structures élémentaires de la parenté (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 1949). Sein umfangreichstes Werk Mythologies befaßte sich über vier Bände hinweg (1964-1971) mit einem einzigen indianischen Mythos, dessen Verbreitung und Veränderungen er akribisch untersuchte.

Daß er zur Weltberühmtheit wurde, lag freilich nicht nur an diesen Arbeiten zu konkreten wissenschaftlichen Themen, sondern an Lévi-Strauss' Neigung, seine Ergebnisse zu verallgemeinern, sie mit denen anderer Wissenschaften zu verknüpfen, sie zur Philosophie zu überhöhen. Er war eben ein studierter Philosoph, und er war ein sehr französischer Denker, ein Pariser Intellektueller kat'exochen.

Als Wissenschaftler suchte er, wie auch anders, nach Gesetzmäßigkeiten: Wie Menschen sich verhalten, was sie denken, das wird durch allgemeine Strukturen bestimmt.

Diese beschneiden natürlich ihre Freiheit. Das Ich ist "nicht Herr im eigenen Haus", hatte Freud gesagt, der den jungen Lévi-Strauss stark beeinflußt hatte. Mit dieser für einen Wissenschaftler trivialen Auffassung widersprach Lévi-Strauss freilich, als er sie in den sechziger Jahren in La pensée sauvage explizierte, der existenzialistischen Ideologie der Freiheit. (Der Titel des Buchs ist ein unübersetzbares Wortspiel; pensée bedeutet sowohl Denken als auch Stiefmütterchen; sauvage heißt "der Wilde", aber auch "wildwachsend").

Das führte zu eine jener Kontroversen, wie sie im französischen Geistesleben so häufig sind. Ist der Mensch nun frei, geht also die Existenz der Essenz (dem Wesen, der individuellen Beschaffenheit) voraus, wie es die Ikone des Existenzialismus, Jean-Paul Sartre, verkündete? Haben wir die Freiheit, uns selbst zu "entwerfen"? Oder sind wir Gefangene der Strukturen unserer Gesellschaft, unserer Mythen, die letztlich Strukturen des Denkens sind?

Das sind Fragen, über die sich trefflich streiten läßt; zu denen jeder seine geschliffene Meinung beitragen kann. Dergleichen lieben sie, die Franzosen; vor allem die Intellektuellen in den Cafés des Quartier Latin.

Und die anderen machen es ihnen nach, allen voran die Amerikaner und die Deutschen. Der Begriff "Strukturalismus" hat dadurch eine große Beliebigkeit gewonnen. Er ist weit über das wissenschaftliche Werk von Claude Lévi-Strauss hinausgewachsen, oder vielmehr hinausgewuchert. Nicht ohne dessen eigene Schuld, der eben der Versuchung, dem Denken seinen freien Lauf zu lassen, nur selten widerstehen konnte.



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