19. November 2009

Zettels Meckerecke: Der vergeßliche Frank Schirrmacher. Ein Autor entdeckt die Schrecken der Technik

Frank Schirrmacher hat sich etwas von der Seele geschrieben. Nicht im eigenen Blatt, der FAZ, sondern in "Spiegel- Online". Was er sich da von der Seele geschrieben hat, der Frank Schirrmacher, das kommt mir vor wie eine Zeitreise. Eine Zeitreise zurück zur Befindlichkeit der abendländischen Seele, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts und bis in dessen Mitte hinein.

Damals gab es ein großes Erschrecken über das "Maschinenzeitalter", in das die Menschheit nun eingetreten sei. Filme wie Fritz Langs "Metropolis" (1927) und Chaplins "Modern Times" (1936) zeigten mal heiter- beklemmend, mal nur beklemmend, wie der Mensch zum Sklaven der Maschine wird; Jacques Tati hat das später in "Playtime" (1967) noch einmal aufgegriffen.

Die eindrücklichste philosophische Befassung mit diesem Thema findet man bei Günther Anders in "Die Antiquiertheit des Menschen". Analysiert wird dort, wie die Maschine dem Menschen zunehmend überlegen wird, so daß er sie im Wortsinn "bedienen" muß und darob in eine "prometheische Scham" versinkt; die Scham des Schöpfers nämlich darüber, daß sein Werk ihm überlegen geworden ist.



Nun also Frank Schirrmacher. Er beschreibt einen Zustand, den wir alle kennen:
Ich bin unkonzentriert, vergesslich, und mein Hirn gibt jeder Ablenkung nach. Ich lebe ständig mit dem Gefühl, eine Information zu versäumen oder zu vergessen. Und das Schlimmste: Ich weiß noch nicht einmal, ob das, was ich weiß, wichtig ist oder das, was ich vergessen habe, unwichtig.
Ja, so geht es.

Aber Frank Schirrmacher führt das nicht darauf zurück, daß er nun auch schon über fünfzig ist, oder auf die Überlastung eines Herausgebers der FAZ. Sondern schuld sind die Maschinen. Natürlich nicht mehr die klobigen, die man bei Chaplin und Fritz Lang sah. Nein, jetzt sind es die elektronischen Maschinlein; die Handys, Notebooks, Netbooks: "Das Problem ist meine Mensch- Computer- Schnittstelle".

Die nämlich, schreibt Schirrmacher, führe zu einer permanenten Überforderung seiner Aufmerksamkeit. Und es folgt - der Artikel ist recht lang - noch allerlei Sonstiges über die Macht der Computer und der Handys und des Internet und vor allem von Google. Ein Schreckensbild, daß einem wahrlich angst und bange werden kann.

Aber gemach. Wir müssen das alles nur in den Griff kriegen, tröstet uns Schirrmacher gegen Ende seines Artikels:
Aber was Menschen verzweifelt lernen müssen, ist, welche Information wichtig und welche unwichtig ist. Das ist womöglich die große Stunde der Philosophie. (...) Es geht im besten Fall darum, Menschen das tun zu lassen, was sie am besten können - und das zu entrümpeln, was die Computer uns abnehmen.
Ja, wer hätte das gedacht. Gebt dem Menschen, was des Menschen ist und dem Computer, was des Computers ist. Ich werde also auch künftig, wenn ich einen Text schreibe, den Rechner benutzen und nicht den Füller oder den Gänsekiel. Wenn ich hingegen überlege, was ich schreibe, dann werde ich meinen Kopf verwenden, und nicht Textbausteine aus dem Internet klauen. So möge es sein!



Schirrmacher stolpert von einer Trivialität in die andere.

Ja, natürlich, uns erreichen ständig weit mehr Informationen, als wir verarbeiten können. "Reizüberflutung" war einmal das Stichwort dafür. Das war noch vor der Zeit der Computer und der Handys; damals waren das Radio, die Jukebox und die Lichtreklamen in den Großstädten die Objekte der Besorgnis.

Zwei Jahrtausende zuvor dürften die Hinterwäldler aus Germanien sehr erschrocken gewesen sein über die Reizüberflutung, der sie beim Betreten einer pulsierenden römischen Stadt ausgesetzt waren.

Und noch viel früher waren auch unsere evolutionären Vorfahren, die im tropischen Regenwald hangelnden Brachiatoren, keineswegs sicher vor Reizüberflutung. Da krächtzte, trompetete und summte es hier und dort; da huschte dieses und jenes Getier durchs Gesichtsfeld; da lockte eine schöne Banane; da wollte auch ein Hordenkumpan dringend beachtet werden; da mußte man zugleich immer auf der Hut vor Freßfeinden sein. Das kann kein Affenhirn alles gleichzeitig verarbeiten.

Zur Bewältigung solcher Situationen haben sich in der Evolution die Mechanismen der Aufmerksamkeit entwickelt, die dafür sorgen, daß dem Gehirn nicht mehr an Verarbeitung zugemutet wird, als es verkraften kann. Das Gehirn filtert Informationen, was in der Regel auch gut funktioniert. Sonst könnte Sebastian Vettel nicht seinen Boliden zum Ziel fahren; und keine Mutter könnte ihre Küche versorgen, zugleich auf drei quengelnde Kinder aufpassen und dabei auch noch die Daily Soap sehen.

Nur muß die Aufmerksamkeit trainiert werden. Neue technische Geräte verlangen eine solche Anpassung. Das gelingt Kindern, die mit ihnen aufwachsen, in der Regel mühelos. Jüngere Erwachsene haben auch noch kaum Probleme. Frank Schirrmacher hat sie.



Und nicht nur mit der optimalen Verteilung seiner Aufmerksamkeit hat er Probleme, sondern offenbar auch mit der englischen Sprache. Er schreibt:
Damit ein leistungsschwaches Handy eine mit technischen Spielereien vollgepackte Website trotzdem darstellen kann, haben die Programmierer eine Methode erfunden, die sich "graceful degradation" nennt, auf Deutsch: "würdevolle Herabstufung". Die Website gibt sich gewissermaßen bescheiden, um das Handy nicht in seinem Stolz zu verletzen.
Nein, graceful degradation heißt nicht "würdevolle Herabstufung". Gemeint ist, daß dann, wenn einem System Ressourcen entzogen werden, wenn es überlastet wird oder wenn ein Fehler auftritt, dieses System nicht gleich zusammenbricht, sondern es nur seine Leistung entsprechend verringert.

Graceful heißt hier nicht "würdevoll" (heißt es das überhaupt je?), sondern "sanft, schonend". Und degradation ist hier auch keine Degradierung, wie Schirrmacher vermutet, sondern eine Verschlechterung, ein Leistungsabfall; auch schon in der ursprünglichen Wortbedeutung. Da wird nicht auf den Stolz des Handys Rücksicht genommen, sondern die Bildschirmdarstellung wird nur dessen Ressourcen angepaßt. Es findet eine schonende Einschränkung der Leistung statt.

Und dann ist da noch das mit der Ernährung:
Ich glaube, es hat, um ein Lieblingswort der Informatiker zu zitieren, eine Rückkoppelung stattgefunden, die jenen Teil der Aufmerksamkeit, den wir früher uns selbst widmeten, abzapft, auffrisst und als leere Hülle zurücklässt. Man nennt das "feed- back", wörtlich: eine Rück- Ernährung. Aber wer ernährt sich von unserer Aufmerksamkeit?
Auch hier wäre Schirrmacher ein Blick ins Lexikon anzuraten gewesen. To feed heißt nicht nur "füttern", sondern auch in einem ganz untechnischen Sinn "einfließen". The river feeds into the ocean, beispielsweise: Der Fluß fließt in den Ozean. Auch wörtlich übersetzt heißt Feedback schlicht Rückfluß.

Nichts dagegen, à la Heidegger der Sprache nachzuspüren, sich von der ursprünglichen sprachgeschichtlichen Bedeutung von Wörtern inspirieren zu lassen. Aber muß man das so weit treiben, daß schlicht falsche Übersetzungen herauskommen?



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