1. März 2007

Sehr persönliche Anmerkungen zur Duzerei

Als dreizehnjähriger Untertertianer war ich in den Sommerferien als Austauschschüler im Wallis; zwecks Spracherlernens.

Das war sehr schön, weil es eine sehr freundliche, sehr liberale Familie war, in deren Châlet in den Mayens- de- Sion ich diese Zeit verbrachte.

Aber vieles war auch verwunderlich. Die Sitte zum Beispiel, zur Suppe Käse zu essen; die Selbstverständlichkeit, mit der man Geld hatte, ohne das irgendwie zu erkennen zu geben. Diese aristokratische Behäbigkeit, der clanartige Zusammenhalt der Großfamilie, die sich am Nationalfeiertag zur Raclette traf.

Am Merkwürdigsten aber fand ich es, daß ich von den etwas jüngeren Kindern, die auch in dieser Châlet- Siedlung ihre Ferien verbrachten, gesiezt wurde. "Voulez-vous jouer aux Boules?", so in dieser Art. Das Jeu de Boules war sehr beliebt, neben dem Croquet.



Damals erlebte ich zum ersten Mal das, was Norbert Elias beschrieben hat: Kulturelle Selbstverständlichkeiten werden problematisch, werden erst eigentlich sichtbar, wenn man die eigene Kultur verläßt.

In der französischen Kultur hat das Duzen und das Siezen eine völlig andere soziale Funktion als bei uns. Siezen bedeutet Distanz, Duzen Kumpelhaftigkeit. "Tutoyer quelqu'un", jemanden duzen - das bedeutet, daß man sich mit ihm sozusagen verbrüdert. Also ist es der Standard in den linken Parteien, unter Arbeitern usw.

Aber einen jungen Menschen duzt man nicht einfach, auch wenn er sehr jung ist. Das würde bedeuten, ihn nicht zu respektieren. Ich Dreizehnjähriger wurde selbstverständlich mit "vous" angeredet; nicht nur von den anderen Kindern, sondern auch von den Erwachsenen.

So, wie Charles de Gaulle seine Frau mit "vous" angeredet hat. Nicht aus Mangel an Liebe, sondern aus Respekt; sie war ja nicht seine Mätresse.



Man muß da schon aufpassen. Als ich ein paar Jahre später, als Student, in den Semesterferien oft durch Frankreich trampte, habe ich mich manchmal in den Jugendherbergen zuvor angemeldet. In der Pariser zum Beispiel, die notorisch überfüllt war. Und habe höflich "vous" geschrieben.

Was nun völlig falsch war. Denn man war dort ja unter Kumpels. Als ich einmal ankam, suchte der Herbergsvater meine Anmeldung heraus, las sie noch einmal, lachte und drückte mir sofort einen Besen in die Hand: "Balayer!". Das erschien ihm als das rechte Mittel, mir die Siezerei auszutreiben, die er als Hochnäsigkeit mißverstanden hatte.



Viele Sprachen, viele Kulturen kennen diese unterschiedlichen Anreden. Manchmal wandeln sie sich.

Das englische "you" war einmal die respektvolle Form gewesen; Karl May hat es folglich richtig mit "Ihr" übersetzt. Die kumpelige Form im Englischen war das "thou" und "thee" gewesen - Formen, die heute nur noch im religiösen Kontext vorkommen.

Im Deutschen hat es, vor allem im 18. Jahrhundert, das "Er" gegeben, und das korrespondierende "Sie" - das war die Anrede Untergebener, Niedrigergestellter.

Das "Sie" im Singular verschwand, wie das "Er". Das "Sie" im Plural - entsprechend dem französischen "vous" - wurde zur Anrede auf Distanz, von Höhergestellten auch. Das "du" blieb im Deutschen engen Bekannten und Verwandten vorbehalten, und seltsamerweise auch Kindern.



So war es in meiner Jugend. Und dann brach eine Welle der Duzerei über Deutschland herein.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie einer meiner Kollegen, ein Wissenschaftlicher Assistent, eine Kollegin unversehens auf irgendeiner Versammlung duzte - es mag 1968 oder 1969 gewesen sein.

Ich dachte: Aha, die beiden sind sich nähergekommen, sie haben jedenfalls Brüderschaft getrunken.

Aber sie hatten nicht. Sie hatten nur das praktiziert, was nun um sich griff: Eine allgemeine, ungehemmte Duzerei.

Auf einmal kamen Studenten in mein Büro und duzten mich. Alle "Mittelbauern" begannen einander zu duzen.

Nur - seltsamerweise - : sie duzten die Professoren nicht, und diese duzten sie nicht.



Ich habe allmählich verstanden, daß diese Duzerei, weit davon entfernt, soziale Grenzen einzuebnen, sie im Gegenteil zementiert.

Jeder, der im Universitätsbereich arbeitet, kennt das: Wer nicht habilitiert ist, der wird hemmungslos geduzt. Von Studenten, von irgendwelchen frischgebackenen Wissenschaftlichen Mitarbeitern.

Der Mann kann auf die Pensionsgrenze zugehen, er kann ein bedeutender Wissenschaftler sein - egal, der Mittelbauer wird geduzt.

Während niemand wagen würde, irgendein frisch habilitiertes Jünglein zu duzen. Der ist ja nun auf der anderen Seite der Klassengrenze.



Ich habe mich dieser Duzerei als Assistent widersetzt, ich widersetze mich ihr, seit ich auf dieser anderen Seite bin. Ich sieze meine wissenschaftlichen Mitarbeiter, so wie ich meine Sekretärin und wie ich die Studenten sieze.

Das hat das Verhältnis der Wertschätzung nicht im Geringsten beeinträchtigt. Im Gegenteil: Ich habe den Eindruck, daß es der Verlogenheit einer Duzerei entgegenwirkt, die die wahren Machtverhältnisse verschleiert, nicht sie beseitigt.



Freilich ist es in den Naturwissenschaften nun mal so, daß man sich meist auf Englisch verständigt. Da also ist man on first-name terms, sobald man sich das erste Mal - meist auf einer Konferenz - persönlich kennengelernt hat.

Also - wenn ich mit einem meiner Mitarbeiter auf einer Konferenz rede, englisch also, dann ist er Hans und ist sie Erika.

Und zu Hause reden wir dann wieder, deutsch, so miteinander, wie es sich gehört.