Wer im Deutschland der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre als Individualist gelten wollte, der versah sich oft mit Französischem: Er rauchte Gauloises, bot seinen Gästen Beaujolais an, fuhr einen 2CV (oder, wenn wohlhabend, einen Citroen DS), begeisterte sich für Juliette Gréco und jene Barbara, die in Göttingen mit einem Riesenerfolg auftrat. Er richtete sich philosophisch an Sartre und Camus aus, schätzte die mageren Gestalten, die Bernard Buffet malte, und die blauen Kleckse von Yves Klein. Er liebte die Filme von Jean-Luc Godard, François Truffaut und jenes jungen Claude Chabrol, der noch keine Krimis drehte, sondern Weltschmerz-Filme wie "Les cousins".
Reiste ein solcher Individualist nach Frankreich, dann machte er in der Regel zwei ernüchternde Entdeckungen: Erstens gab es dort in Massen Leute mit jenen seinen Attributen des Individualismus. Nun ja, damit war wohl zu rechnen gewesen. Aber es stellte sich noch etwas anderes heraus, zumindest mit Blick auf viele dieser Attribute: Es war gerade der französische Spießer, Monsieur Dupont, der die "Ente" fuhr (zumal in ihrer Kombi-Version - dem Auto der Krämer, Lieferanten, kleinen Handwerker). Es waren die Kleinbürger, die Rotwein tranken und Gauloises rauchten. Während die französischen Gegenstücke unseres deutschen Individualisten vielleicht einen Austin Mini fuhren, Mentholzigaretten rauchten und belgisches Bier jedem Rotwein vorzogen.
Hielt sich der deutsche Individualist länger in Frankreich auf, dann dämmerte ihm wahrscheinlich noch eine dritte, ihn nun wirklich treffende Erkenntnis: Seine Überzeugung, Frankreich sei "ein Land von Individualisten", erwies sich als ein Klischee, ein ziemlich grobes Vorurteil. Er sah Schüler in Schuluniformen, ganztags beschult, am Jeudi Libre, dem freien Donnerstag, von ihren Nannies im Jardin du Luxembourg sozusagen immer noch im Gleichschritt ausgeführt. Er knüpfte vielleicht Kontakte zu den Studenten des Quartier Latin - fast alle im selben Dress Code, mit Cordhose, Rollkragenpullover, randloser Brille. Zwar heftig diskutierend, aber nur über die richtige Variante des Sozialismus. Kurz, Menschen mit ausgeprägter sozialer Angepaßtheit, das Gegenteil von Individualisten.
Allmählich lernte er, unser deutscher Individualist, vielleicht auch verstehen, wie erbarmungslos die französische Gesellschaft ihrer Elite jede individualistische Neigung austreibt, wie sie sie von Jugend an auf Konformität trimmt. Gewiß, die jungen Leute sollen sich ruhig a bisserl revolutionär geben. Das gehört dazu, ein Aspekt des Hörnerabstoßens sozusagen. Aber spätestens mit Mitte zwanzig ist das vorbei, wenn sich die jungen Leute normal entwickeln. Sie werden dann zu angepaßten Spießern, linken und rechten.
Und die eigentliche Elite stellt sich schon mit achtzehn, neunzehn Jahren auf die Karriere ein, büffelnd auf der École Normale Supérieure, der École Polytechnique oder der École Normale d'Administration, der berühmten ENA, aus der fast die gesamte politische und administrative Elite Frankreichs hervorgeht.
Ja, natürlich - was ich bisher beschrieben habe, das ist meine eigene Erfahrung als frankophiler junger Mann gewesen. Der es allerdings vielleicht ein wenig leichter hatte als manche andere, ein realistisches Frankreich-Bild zu bekommen: Besaß er doch einen Patenonkel, der als deutscher Regierungsbeamter langjährig in Paris stationiert war, bei der damaligen OEEC, einer der organisatorischen Keimzellen der heutigen EU. Dieser Onkel machte sich ein gewisses bissig-freundliches Vergnügen daraus, dem jungen regelmäßigen Gast ein wenig den Kopf zu waschen und ihm seine allzu naiv-frankophilen Flausen auszutreiben.
Frankophil war er freilich selbst, jener Onkel, nur mit einem Schuß Zynismus und einer kräftigen Portion Realismus. Er hatte sich täglich mit dem französischen Bürokratismus, dem unbedingten Nationalismus französischer Staatsdiener herumzuschlagen, und er hatte es im Lauf der Jahre gelernt, auch im Privatleben mit dem französischen Konformismus, der Staatsgläubigkeit der Bürger und der Anmaßung der Fonctionnaires fertigzuwerden.
Daß Frankreich das "Land der Freiheit" sei, wie das sein naiver junger Patensohn dachte, konnte ihm folglich nur ein Lächeln entlocken. Dennoch liebte er dieses Land - freilich aus ganz anderen Gründen. Wegen der Hochschätzung von Kultur und Wissenschaft, quer durch die ganze Gesellschaft. Wegen der Klarheit und Rationalität, mit der nicht nur die Gebildeten dort argumentieren. Dergleichen. Seine Liebe zu Frankreich hatte wohl einen ähnlichen Charakter wie die von, sagen wir, Ernst Jünger und Carlo Schmid. Nicht die der zottelbärtigen Studenten, die sich am "Existenzialismus" begeisterten.
Ist es also schlicht irrig, das Klischee von der Freiheitsliebe und vom Individualismus der Franzosen? Nein, natürlich nicht. Klischees stimmen ja fast immer. Nur stimmen sie eben nicht ganz. Sie verallgemeinern, sie vergröbern, sie betonen das eine und lassen das andere weg.
Das gilt generell für die kognitiven Schemata, auf die wir freilich nun einmal angewiesen sind, um uns die Welt zu ordnen. Es gilt besonders für nationale Stereotype. Nationen haben ja schon ihre charakteristischen, oft über den Gang ihrer Geschichte hinweg sogar recht stabilen Züge. Aber diese bestehen eher in Dimensionen, zwischen deren Extrempolen sie sich bewegen, als in Merkmalen. Solche Pole sind beim deutschen Nationalcharakters zum Beispiel sensible Innerlichkeit und großkotzige Bramarbasiererei. Die des amerikanischen Nationalcharakters rücksichtsloser Egoismus und eine echte Überzeugung, anderen helfen zu sollen und zu können. Sentimentalität und Grobheit bei den Russen, Prüderie und Ausschweifung bei den Briten, Eigenbrödlerei und Brüderlichkeit bei den Skandinaviern - es lassen sich leicht solche Pole von Dimensionen finden, die einen Nationalcharakter kennzeichnen.
Und so ist es eben auch bei den Franzosen. Das Klischee vom freiheitsdurstigen Individualisten stimmt ebenso, wie Staatsgläubigkeit, Konformismus, Überbürokratisierung die französische Gesellschaft charakterisieren. Zwischen diesen Polen bewegt sich die französische Gesellschaft, zwischen ihnen lokalisiert sich das Denken von Monsieur Dupont und Madame Dupond.
Im nächsten Beitrag will ich das an einem aktuellen Beispiel illustrieren: Ausgerechnet das Parlament dieses Landes, das Voltaire verehrt wie einen Nationalheiligen, hat sich gerade die Verabschiedung eines Gesetzes geleistet, das auf eine nachgerade unglaubliche Weise in die Meinungsfreiheit und in die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung eingreift.
Reiste ein solcher Individualist nach Frankreich, dann machte er in der Regel zwei ernüchternde Entdeckungen: Erstens gab es dort in Massen Leute mit jenen seinen Attributen des Individualismus. Nun ja, damit war wohl zu rechnen gewesen. Aber es stellte sich noch etwas anderes heraus, zumindest mit Blick auf viele dieser Attribute: Es war gerade der französische Spießer, Monsieur Dupont, der die "Ente" fuhr (zumal in ihrer Kombi-Version - dem Auto der Krämer, Lieferanten, kleinen Handwerker). Es waren die Kleinbürger, die Rotwein tranken und Gauloises rauchten. Während die französischen Gegenstücke unseres deutschen Individualisten vielleicht einen Austin Mini fuhren, Mentholzigaretten rauchten und belgisches Bier jedem Rotwein vorzogen.
Hielt sich der deutsche Individualist länger in Frankreich auf, dann dämmerte ihm wahrscheinlich noch eine dritte, ihn nun wirklich treffende Erkenntnis: Seine Überzeugung, Frankreich sei "ein Land von Individualisten", erwies sich als ein Klischee, ein ziemlich grobes Vorurteil. Er sah Schüler in Schuluniformen, ganztags beschult, am Jeudi Libre, dem freien Donnerstag, von ihren Nannies im Jardin du Luxembourg sozusagen immer noch im Gleichschritt ausgeführt. Er knüpfte vielleicht Kontakte zu den Studenten des Quartier Latin - fast alle im selben Dress Code, mit Cordhose, Rollkragenpullover, randloser Brille. Zwar heftig diskutierend, aber nur über die richtige Variante des Sozialismus. Kurz, Menschen mit ausgeprägter sozialer Angepaßtheit, das Gegenteil von Individualisten.
Allmählich lernte er, unser deutscher Individualist, vielleicht auch verstehen, wie erbarmungslos die französische Gesellschaft ihrer Elite jede individualistische Neigung austreibt, wie sie sie von Jugend an auf Konformität trimmt. Gewiß, die jungen Leute sollen sich ruhig a bisserl revolutionär geben. Das gehört dazu, ein Aspekt des Hörnerabstoßens sozusagen. Aber spätestens mit Mitte zwanzig ist das vorbei, wenn sich die jungen Leute normal entwickeln. Sie werden dann zu angepaßten Spießern, linken und rechten.
Und die eigentliche Elite stellt sich schon mit achtzehn, neunzehn Jahren auf die Karriere ein, büffelnd auf der École Normale Supérieure, der École Polytechnique oder der École Normale d'Administration, der berühmten ENA, aus der fast die gesamte politische und administrative Elite Frankreichs hervorgeht.
Ja, natürlich - was ich bisher beschrieben habe, das ist meine eigene Erfahrung als frankophiler junger Mann gewesen. Der es allerdings vielleicht ein wenig leichter hatte als manche andere, ein realistisches Frankreich-Bild zu bekommen: Besaß er doch einen Patenonkel, der als deutscher Regierungsbeamter langjährig in Paris stationiert war, bei der damaligen OEEC, einer der organisatorischen Keimzellen der heutigen EU. Dieser Onkel machte sich ein gewisses bissig-freundliches Vergnügen daraus, dem jungen regelmäßigen Gast ein wenig den Kopf zu waschen und ihm seine allzu naiv-frankophilen Flausen auszutreiben.
Frankophil war er freilich selbst, jener Onkel, nur mit einem Schuß Zynismus und einer kräftigen Portion Realismus. Er hatte sich täglich mit dem französischen Bürokratismus, dem unbedingten Nationalismus französischer Staatsdiener herumzuschlagen, und er hatte es im Lauf der Jahre gelernt, auch im Privatleben mit dem französischen Konformismus, der Staatsgläubigkeit der Bürger und der Anmaßung der Fonctionnaires fertigzuwerden.
Daß Frankreich das "Land der Freiheit" sei, wie das sein naiver junger Patensohn dachte, konnte ihm folglich nur ein Lächeln entlocken. Dennoch liebte er dieses Land - freilich aus ganz anderen Gründen. Wegen der Hochschätzung von Kultur und Wissenschaft, quer durch die ganze Gesellschaft. Wegen der Klarheit und Rationalität, mit der nicht nur die Gebildeten dort argumentieren. Dergleichen. Seine Liebe zu Frankreich hatte wohl einen ähnlichen Charakter wie die von, sagen wir, Ernst Jünger und Carlo Schmid. Nicht die der zottelbärtigen Studenten, die sich am "Existenzialismus" begeisterten.
Ist es also schlicht irrig, das Klischee von der Freiheitsliebe und vom Individualismus der Franzosen? Nein, natürlich nicht. Klischees stimmen ja fast immer. Nur stimmen sie eben nicht ganz. Sie verallgemeinern, sie vergröbern, sie betonen das eine und lassen das andere weg.
Das gilt generell für die kognitiven Schemata, auf die wir freilich nun einmal angewiesen sind, um uns die Welt zu ordnen. Es gilt besonders für nationale Stereotype. Nationen haben ja schon ihre charakteristischen, oft über den Gang ihrer Geschichte hinweg sogar recht stabilen Züge. Aber diese bestehen eher in Dimensionen, zwischen deren Extrempolen sie sich bewegen, als in Merkmalen. Solche Pole sind beim deutschen Nationalcharakters zum Beispiel sensible Innerlichkeit und großkotzige Bramarbasiererei. Die des amerikanischen Nationalcharakters rücksichtsloser Egoismus und eine echte Überzeugung, anderen helfen zu sollen und zu können. Sentimentalität und Grobheit bei den Russen, Prüderie und Ausschweifung bei den Briten, Eigenbrödlerei und Brüderlichkeit bei den Skandinaviern - es lassen sich leicht solche Pole von Dimensionen finden, die einen Nationalcharakter kennzeichnen.
Und so ist es eben auch bei den Franzosen. Das Klischee vom freiheitsdurstigen Individualisten stimmt ebenso, wie Staatsgläubigkeit, Konformismus, Überbürokratisierung die französische Gesellschaft charakterisieren. Zwischen diesen Polen bewegt sich die französische Gesellschaft, zwischen ihnen lokalisiert sich das Denken von Monsieur Dupont und Madame Dupond.
Im nächsten Beitrag will ich das an einem aktuellen Beispiel illustrieren: Ausgerechnet das Parlament dieses Landes, das Voltaire verehrt wie einen Nationalheiligen, hat sich gerade die Verabschiedung eines Gesetzes geleistet, das auf eine nachgerade unglaubliche Weise in die Meinungsfreiheit und in die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung eingreift.