19. Oktober 2006

Randbemerkung: Dampf ablassen

Von der BILD-Zeitung erwartet man so etwas, in der FAZ ist es doch eher überraschend: Eine Art Leserforum, in dem man - Titel: "Dampf ablassen" - seinem Ärger über die Deutsche Bahn Luft machen darf. Als ich eben nachgesehen habe, hatten 59 Menschen von diesem Angebot Gebrauch gemacht.

Vermutlich gibt es kaum einen Kunden der Bahn, der - hätte er Zeit, wäre er zum Schreiben aufgelegt - da nicht mitmachen könnte. Ich beispielsweise könnte von meiner letzten Fahrt berichten: Eine halbe Stunden Schlangestehen beim Kauf der Fahrkarte. Vierzig Minuten Verspätung des IC. Ein "Bord-Bistro", in dem man nicht einmal einen Kaffee bekam, weil die Kaffemaschine leider kaputt war, wie eine mürrische Kellnerin erklärte. In Köln eine Gepäckaufbewahrung für 4 (in Worten: vier) Euro; dafür konnte man den Koffer nicht einfach ins Fach legen, sondern mußte Prozeduren des "Einlagerns" und "Auslagerns" in ein automatisches Aufbewahrungssystem absolvieren. Erfahrungen auf einer einzigen Fahrt.

Aber was soll's. Das ist alles trivial. Jeder Bahnkunde macht ständig solche Erfahrungen. Was mich interessiert, ist etwas anderes: Warum verspüren wir eigentlich keine vergleichbare Lust, über, sagen wir, das Einkaufen bei Karstadt oder im Kaufhof, über den Service in Restaurants oder, um beim Verkehr zu bleiben, über die Qualität von Autos "Dampf abzulassen"?

Liegt es daran, daß wir dort keine schlechten Erfahrungen machen? Gewiß nicht. Mürrische Kellner gibt es nicht nur in den Speisewagen der Deutschen Bahn, unpünktlich kann auch ein bestelltes Taxi sein. Nur - Dampf, den es abzulassen gälte, verursacht das kaum. Denn es gibt ja eine offensichtliche Abhilfe: Man geht nicht mehr in das Restaurant, in dem man unfreundlich bedient wurde. Man bestellt das Taxi das nächste Mal bei einem anderen Unternehmen. Man reagiert durch Handeln, also braucht man nicht zu meckern.

Das Bedürfnis, "Dampf abzulassen", entsteht erst dann, wenn dieser offensichtliche und vernünftige Weg, auf einen Mißstand zu reagieren, versperrt ist. Wenn wir es also mit dem Staat oder - in seltenen Fällen - einem anderen Monopolisten zu tun haben. Ihm gegenüber sind wir ohnmächtig. Die Deutsche Bahn kann es sich leisten, sich wie eine Behörde zu benehmen, denn wir Kunden können ja nicht zur Konkurrenz gehen; von einigen wenigen Privatbahnen abgesehen. So wenig, wie wir zu einem anderen Finanzamt gehen können, wenn wir mit dem für uns zuständigen unzufrieden sind.



Als ich als junger Mann den Sozialismus noch für eine gute Sache hielt, schoß es mir einmal - beim Warten in einer Schlange vor einem Bahnhofsschalter, logischerweise - durch den Kopf: Ist wirklich eine Gesellschaft erstrebenswert, in der alles so funktioniert wie die Bundesbahn? Damals keimte erster Zweifel an meinem linken Weltbild.

Ich war damals noch nicht in einem sozialistischen Land gewesen. Daß es im Sozialismus wirklich überall - in Restaurants, in Geschäften, bei Dienstleistern - exakt so zugeht, wie ich es von der Deutschen Bundesbahn kannte, habe ich eigentlich erst richtig erlebt, als wir Jahrzehnte später, unmittelbar nach der Wende, in die damals noch bestehende DDR reisten. Wo an einem Restaurant das Schild hing "Nur für bestellte Gäste". Wo man nicht bedient wurde, weil die Kellnerbrigade sich - während der Öffnungszeit! - um einen Tisch versammelt hatte, um gemeinsam gemütlich Pause zu machen. Wo uns ein Fischhändler erklärte, er habe jetzt, kurz vor Dienstschluß, keine Lust mehr, den von uns ins Auge gefaßten Zander zu filetieren - wir könnten ja Forellen nehmen, die seien schon filetiert.

Er war sozusagen eine einzige große Bahnreise, dieser Urlaub in DDR, in den letzten Wochen des Sozialismus.