Nicht nur im Deutschen ist das Wort "arm" mehrdeutig. Es bezeichnet nicht nur das, womit sich jetzt die "Unterschicht"- Diskussion befaßt - also geringes Einkommen, schlechte Lebensverhältnisse. Sondern es steht auch für etwas sehr Emotionales und sehr Soziales. Die Mutter sagt zum weinenden Kind: "Ja, was hat denn mein armer Schatz?". "Alas, poor Yorick" meditiert Hamlet, als er den Schädel Yoricks in Händen hält. Armer Yorick - arm, weil er jetzt tot ist, jener Hofnarr, der den jungen Hamlet auf seinen Schultern getragen hatte. "... and now, how abhorred in my imagination it is! my gorge rims at it" "... und jetzt, wie schaudert meiner Einbildungskraft davor! Mir wird ganz übel" übersetzt das Schlegel.
Wenn in Maupassants "Mon oncle Jules" der Ich-Erzähler schreibt: "Et je me rappelle l'air pompeux de mes pauvres parents dans ces promenades du dimanche, la rigidité de leurs traits, la sévérité de leur allure", dann meint er mit "armen" Eltern nicht, daß es der Familie wirtschaftlich schlecht ging, sondern er bedauert sie in ihrer kleinbürgerlichen Enge. Ein fast liebevolles Bedauern.
Das französische "pauvre", wenn auf nahestehende Personen bezogen, übersetzt man überhaupt oft besser mit "lieb", als mit "arm". In einem seiner Briefe an Louise Colet beschreibt Flaubert eine Szene aus seiner Kindheit, in der die Herzogin von Bercy in ihre Kutsche durch Rouen fährt: "... elle me remarqua, dans la foule, tenu dans les bras de mon père qui m'élevait pour que je puisse voir le cortège. Sa calèche allait au pas ; elle la fit arrêter et prit plaisir à me considérer et à me baiser. Mon pauvre père rentra bien heureux de ce triomphe." Die Herzogin ließ anhalten, um den hübschen kleinen Gustave Flaubert zu betrachten und zu küssen - ein Triumph für "mon pauvre père". Nicht für "meinen armen Vater", sondern für "meinen lieben Vater", oder vielleicht "mein Väterchen". Im Französischen wird der Diminuitiv seltener verwendet als im Deutschen, und das "pauvre" ersetzt ihn manchmal.
Mehrdeutig ist es also, das "arm"; aber es ist kein Homonym wie, sagen wir, "blau", das eine Farbe oder einen Zustand des Betrunkenseins meinen kann. Sondern es ist so, daß die eine Bedeutung immer mitschwingt, wenn wir das Wort in seiner anderen verwenden.
Wenn wir jemanden als einen "Armen" im Sinn dürftiger Lebensverhältnisse bezeichnen, dann ist das folglich keine neutrale Aussage; sagen wir, so, wie wenn wir jemanden einen Briefmarkensammler nennen. Sondern wenn wir das Wort "arm" verwenden, dann gehört zum Bedeutungsumfeld dieses Wortes etwas von dem Mitleid, auch der Zuwendung, welche die Konnotation des "arm", des "poor", des "pauvre" in den zitierten Beispielen mit ausmachen.
Semantik, gewiß. Aber Semantik spielt bekanntlich in der Politik eine immense Rolle. Begriffe "besetzen", ihnen eine bestimmte, politisch gewollte, Bedeutung geben oder eine solche verstärken - das gehört zum Geschäft der Spin Doctors ebenso wie die Analyse von Meinungstrends und die Vorhersage von Entwicklungen.
Im Fall des Worts "arm" ist das offensichtlich. Die beiden Bedeutungen des Worts durchdringen einander. Wenn jemand von "den Armen" spricht, gar von den "Ärmsten der Armen", dann appelliert er damit an unsere emotionale Reaktion. Zur Semantik tritt kulturelle Tradition hinzu: Kaum eine Kultur, kaum eine Religion, in der nicht das Mitleid mit den Armen, Wohltätigkeit ihnen gegenüber, als ein gesellschaftlicher Wert galt.
Und - natürlich - kaum eine Gesellschaft in der bisherigen Menschheitsgeschichte, in der es nicht wirklich Arme in einer sehr direkten, sehr unbezweifelbaren Bedeutung des Worts gegeben hätte: Menschen, die hungern, die frieren, die kein Dach über dem Kopf haben. Die im Elend leben. Deren Hilfsbedürftigkeit ebenso offensichtlich ist, wie es ethisch gewünscht sein muß, daß sich unser Mitleid auf sie richtet.
Die beiden Bedeutungen des Worts gehörten zusammen, weil die eine (die objektiv schlechte Lage der Betreffenden) die andere (die subjektive Reaktion des Mitfühlens) mit psychologischer Notwendigkeit nach sich zog.
Im ersten Teil habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß das auf viele von denjenigen, die in der aktuellen Diskussion als "arm" bezeichnet werden, keineswegs mehr zutrifft. Kinder, die nicht unterernährt sind, sondern oft fettleibig. Die nicht darunter leiden, kein Spielzeug zu haben, sondern deren Problem es ist, daß sie zuviel am Computer spielen. Menschen, deren Lebensstandard noch vor einem halben Jahrhundert sie als wohlhabend ausgewiesen hätte.
Es gibt Gründe, es gibt ernstzunehmende Argumente dafür, sie dennoch als "arm" zu bezeichnen. Aber dazu muß man die herkömmliche Bedeutung dieses Begriffs verlassen, zumindest stark erweitern. Man muß Armut neu definieren. Mit dem Begriff der Armut im sozialen Kontext befaßt sich der folgende Teil.
Wenn in Maupassants "Mon oncle Jules" der Ich-Erzähler schreibt: "Et je me rappelle l'air pompeux de mes pauvres parents dans ces promenades du dimanche, la rigidité de leurs traits, la sévérité de leur allure", dann meint er mit "armen" Eltern nicht, daß es der Familie wirtschaftlich schlecht ging, sondern er bedauert sie in ihrer kleinbürgerlichen Enge. Ein fast liebevolles Bedauern.
Das französische "pauvre", wenn auf nahestehende Personen bezogen, übersetzt man überhaupt oft besser mit "lieb", als mit "arm". In einem seiner Briefe an Louise Colet beschreibt Flaubert eine Szene aus seiner Kindheit, in der die Herzogin von Bercy in ihre Kutsche durch Rouen fährt: "... elle me remarqua, dans la foule, tenu dans les bras de mon père qui m'élevait pour que je puisse voir le cortège. Sa calèche allait au pas ; elle la fit arrêter et prit plaisir à me considérer et à me baiser. Mon pauvre père rentra bien heureux de ce triomphe." Die Herzogin ließ anhalten, um den hübschen kleinen Gustave Flaubert zu betrachten und zu küssen - ein Triumph für "mon pauvre père". Nicht für "meinen armen Vater", sondern für "meinen lieben Vater", oder vielleicht "mein Väterchen". Im Französischen wird der Diminuitiv seltener verwendet als im Deutschen, und das "pauvre" ersetzt ihn manchmal.
Mehrdeutig ist es also, das "arm"; aber es ist kein Homonym wie, sagen wir, "blau", das eine Farbe oder einen Zustand des Betrunkenseins meinen kann. Sondern es ist so, daß die eine Bedeutung immer mitschwingt, wenn wir das Wort in seiner anderen verwenden.
Wenn wir jemanden als einen "Armen" im Sinn dürftiger Lebensverhältnisse bezeichnen, dann ist das folglich keine neutrale Aussage; sagen wir, so, wie wenn wir jemanden einen Briefmarkensammler nennen. Sondern wenn wir das Wort "arm" verwenden, dann gehört zum Bedeutungsumfeld dieses Wortes etwas von dem Mitleid, auch der Zuwendung, welche die Konnotation des "arm", des "poor", des "pauvre" in den zitierten Beispielen mit ausmachen.
Semantik, gewiß. Aber Semantik spielt bekanntlich in der Politik eine immense Rolle. Begriffe "besetzen", ihnen eine bestimmte, politisch gewollte, Bedeutung geben oder eine solche verstärken - das gehört zum Geschäft der Spin Doctors ebenso wie die Analyse von Meinungstrends und die Vorhersage von Entwicklungen.
Im Fall des Worts "arm" ist das offensichtlich. Die beiden Bedeutungen des Worts durchdringen einander. Wenn jemand von "den Armen" spricht, gar von den "Ärmsten der Armen", dann appelliert er damit an unsere emotionale Reaktion. Zur Semantik tritt kulturelle Tradition hinzu: Kaum eine Kultur, kaum eine Religion, in der nicht das Mitleid mit den Armen, Wohltätigkeit ihnen gegenüber, als ein gesellschaftlicher Wert galt.
Und - natürlich - kaum eine Gesellschaft in der bisherigen Menschheitsgeschichte, in der es nicht wirklich Arme in einer sehr direkten, sehr unbezweifelbaren Bedeutung des Worts gegeben hätte: Menschen, die hungern, die frieren, die kein Dach über dem Kopf haben. Die im Elend leben. Deren Hilfsbedürftigkeit ebenso offensichtlich ist, wie es ethisch gewünscht sein muß, daß sich unser Mitleid auf sie richtet.
Die beiden Bedeutungen des Worts gehörten zusammen, weil die eine (die objektiv schlechte Lage der Betreffenden) die andere (die subjektive Reaktion des Mitfühlens) mit psychologischer Notwendigkeit nach sich zog.
Im ersten Teil habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß das auf viele von denjenigen, die in der aktuellen Diskussion als "arm" bezeichnet werden, keineswegs mehr zutrifft. Kinder, die nicht unterernährt sind, sondern oft fettleibig. Die nicht darunter leiden, kein Spielzeug zu haben, sondern deren Problem es ist, daß sie zuviel am Computer spielen. Menschen, deren Lebensstandard noch vor einem halben Jahrhundert sie als wohlhabend ausgewiesen hätte.
Es gibt Gründe, es gibt ernstzunehmende Argumente dafür, sie dennoch als "arm" zu bezeichnen. Aber dazu muß man die herkömmliche Bedeutung dieses Begriffs verlassen, zumindest stark erweitern. Man muß Armut neu definieren. Mit dem Begriff der Armut im sozialen Kontext befaßt sich der folgende Teil.