25. Oktober 2006

Gedanken zu Frankreich (3): Die staatsfrommen Revolutionäre

Bis vor wenigen Wochen gehörte zum Kreis der Kandidaten für die bevorstehenden französischen Präsidentschaftswahlen der Sozialist Lionel Jospin. General­sekretär der Sozialistischen Partei von 1981 bis 1993 und dann wieder ab 1995. Französischer Minister­präsident von 1997 bis 2002.

Und heimliches Mitglied einer Parteizelle der Internationalen Kommunistischen Organisation (Organisation Communiste Internationale) seit 1965. Bis wann, ist unbekannt; jedenfalls war er noch Mitglied einer trotzkistischen Zelle, als er es bereits zum Generalsekretär der Sozialistischen Partei gebracht hatte.

Seine Mitgliedschaft in dieser kommunistischen Organisation wurde 2001 bekannt. Entsprechende Gerüchte hatte er zuvor dementiert und behauptet, er werde mit seinem Bruder, einem erklärten Trotzkisten, verwechselt.

Jospin war im selben Jahr, in dem er sein Studium abschloß, Mitglied der OCI geworden, einer weitgehend verdeckt operierenden Abspaltung von der 4. Internationale. Er war dort unter dem Decknamen "Michel" zum engen Mitarbeiter des Gründers, Deckname "Pierre Lambert", aufgestiegen, und auf dessen Anordnung hin war er 1971 in die Sozialistische Partei eingetreten; also klassischer Entrismus, Unterwanderung einer demokratischen Partei.

Als ich damals, vor fünf Jahren, im Nouvel Observateur diese Enthüllungen über Jospin gelesen habe, da dachte ich natürlich: Das ist das Ende der Karriere von Lionel Jospin, jedenfalls seiner Karriere innerhalb der Sozialistischen Partei. In einer sozialdemokratischen Partei, Schwesterpartei der SPD, hervorgegangen aus der S.F.I.O., einer der großen sozialdemokratischen Parteien des 20. Jahrhunderts, kann man ja nicht gut einen Kommunisten in höchster Position dulden.

Und was passierte? Nichts. Oder jedenfalls fast nichts. Man erfuhr, daß Mitterrand schon lange auf dem Laufenden gewesen war. Es gab eine kleine Diskussion. Lionel Jospin blieb im Amt und wurde ein Jahr danach gar von der Sozialistischen Partei zum Präsidentschaftskandidaten gekürt! Und es sah bis vor kurzem danach aus, als könne er jetzt erneut kandidieren, für die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr nächsten Jahres.



Diese für Nichtfranzosen unglaubliche Geschichte beleuchtet das, was ich mit "die staatsfrommen Revolutionäre" meine: Die Franzosen verstehen es auf eine (für andere) geheimnisvolle Weise, das eine mit dem anderen in Einklang zu bringen. So, wie Lionel Jospin ein Doppelleben führte: Während er eine Bilderbuchkarriere als braver Staatsdiener durchlief - Absolvent der Eliteuniversität für Staatsbeamte ENA, dann hoher Diplomat im Außenministerium, dann Universitätsprofessor -, agierte er im Untergrund als Mitglied einer Organisation, deren erklärtes Ziel es war (und ist), die staatliche und gesellschaftliche Ordnung zu beseitigen, der Jospin diente.

Als das öffentlich bekannt wurde, hätte es ihm in jeder anderen Demokratie der Welt politisch den Hals gebrochen. Nicht in Frankreich. Die Mehrheit der Franzosen fand offensichtlich kaum etwas dabei - er war halt nur allzusehr Franzose mit diesen zwei Seelen, hélas!, in seiner Brust. Der revolutionäre Trotzkist "Michel"; der treue Staatsdiener Jospin - irgendwie lebten sie, gewissermaßen in Cohabitation, ganz gut zusammen. Und die Franzosen verstanden das.



Man kann diesen Zwiespalt, diesen dann doch wieder irgendwie "harmonisierten" (harmoniser ist ein sehr französisches Wort) Zwiespalt, in Frankreich in vielfältigen Formen finden.

Die französische Geschichte ist seit der Grande Révolution so etwas wie eine Echternacher Springprozession zwischen Umsturz und Restauration. Ganze zehn Jahre hielt die Erste Republik, bis ihr 1799 Napoléon mit seinem Aufstieg zum Ersten Konsul, und fünf Jahre später seiner Selbstkrönung zum Kaiser, ein Ende machte. Dem Ende des ersten Empire 1814 folgten Restauration, Napoléons Umsturz der Hundert Tage, erneute Restauration, die Julirevolution von 1830, dann 18 Jahre einer erneuten Restauration, wenn auch bürgerlich angehaucht. Ganze vier Jahre hielt die nächste, die Zweite, Republik. Das anschließende Zweite Kaiserreich brachte es auf 18 Jahre, bevor es kollabierte - in der Revolution der Commune, in der Niederlage gegen Preußen.

Die 1875 proklamierte Dritte Republik immerhin war recht beständig - fünfundsechzig Jahre währte sie, bis zur Niederlage von 1940. Die Vierte Republik hingegen war wieder nur eine kurze Episode: 1946 entstanden, unter wesentlicher Mitwirkung de Gaulles. 1958 schon zu Ende, wieder unter revolutionären Umständen, die freilich von Algerien ihren Ausgang nahmen. Abgelöst von der Fünften Republik, wieder unter entscheidender Mitwirkung Charles de Gaulles.

Eine Republik nun allerdings, die, wie die Dritte, vergleichsweise beständig zu werden verspricht: Weil das Pendel mit ihr ganz weit weg von der revolutionären hin zur staatsfrommen Seite geschwungen ist. Eine Präsidial­demokratie mit einem Präsidenten, dessen Machtfülle die des US-Präsidenten weit übersteigt. Aber immerhin, sie funktioniert; auch wenn manche schon von einer bevorstehenden Sechsten Republik sprechen.



Eine unruhige Geschichte in gut zweihundert Jahren, fürwahr. Bewegter als die fast jedes anderen Landes in Europa; von den USA ganz zu schweigen, die in dieser ganzen Zeit dieselbe Verfassung mit denselben Instistutionen hatten und haben.

Und doch wundersam "harmonisiert" in der Überzeugung der Franzosen, daß das alles groß gewesen ist, und alles Ausdruck der France Éternelle, des Ewigen Frankreich. Als man 1989 den zweihundertsten Jahrestag der Großen Revolution gefeiert hat, zog die Parade vom Arc de Triomphe, den der Große Napoléon in Auftrag gegeben hatte und der in der Großen Zeit des Bürgerkönigs Louis Philippe vollendet worden war, über die Place de la Concorde, auf der die Guillotine der Großen Revolution gestanden hatte, zum Louvre, in dem die Großen Könige der Bourbonen gewohnt hatten.



Diese Harmonisierung des Zwiespalts zwischen Revolutions- und Sicherheitsbedürfnis - man kann sie in Frankreich in mannigfacher Gestalt finden.

Beispielsweise in der staatlichen Organisation: Die ständigen Turbulenzen der Dritten und der Vierten Republik wurden im Lot gehalten durch das Wirken einer übermächtigen Bürokratie; Herbert Lüthy hat es vor einem halben Jahrhundert in seinem brillanten Buch "Frankreichs Uhren gehen anders" beschrieben: Die politische Rhetorik bedient die revolutionäre Aufmüpfigkeit. Die stockkonservative Verwaltung sorgt dafür, daß das Sicherheitsbedürfnis nicht zu kurz kommt.

Die beiden Wahlgänge des französischen Wahlsystems sind perfekt auf diese Mentalität abgestimmt: Im ersten Wahlgang lassen die Franzosen traditionell ihren revolutionären Gelüsten freien Lauf und wählen zum Beispiel in großer Zahl Kommunisten, Trotzkisten, Anarchisten, Rechtsextreme. Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 bekamen im ersten Wahlgang die Linksextremen Arlette Laguiller, Olivier Besancenot, Christiane Taubirat und Daniel Gluckstein sowie der orthodoxe Kommunist Robert Hue zusammen mehr als 16 Prozent; die beiden rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen und Bruno Mégret zusammen mehr als 19 Prozent.

Mehr als ein Drittel der zur Wahl gehenden Franzosen haben in diesem ersten Wahlgang extremistisch gewählt! Im zweiten, entscheidenden Wahlgang gilt dann voter utile, nützlich wählen. Im zweiten Wahlgang wurde 2002 der demokratische Rechte Jacques Chirac mit 82,21% Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt.



Sie sind Revolutionäre, die Franzosen. Aber ganz, ganz vorsichtige. Hier ist ein Foto, das ich auf der diesjährigen Demonstration zum 1. Mai in Paris aufgenommen habe, auf dem Weg zwischen der Place de la République und der Place de la Bastille (Aufschrift auf dem Schild: "Pas fier du merdier écomomique européen que je laisse à mes enfants" - Nicht stolz auf den europäischen wirtschaftlichen Saustall, den ich meinen Kindern hinterlasse):