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9. Juli 2009

Marginalie: China ist kein Vielvölkerstaat, sondern das letzte Kolonialreich

Im Zusammenhang mit den Vorgängen in Uigurien ist oft vom "Vielvölkerstaat China" die Rede. Ich halte diese Bezeichnung für irreführend und beschönigend. China ist das letzte Land, das noch die Entkolonialisierung vor sich hat; die UdSSR war das vorletzte gewesen.

Natürlich kann man Begriffe beliebig definieren. Aber wenn China keine Kolonialmacht ist, dann war es auch das Britische Empire nicht. Dann wurde, als Algerien selbständig wurde, nicht eine Kolonie in die Freiheit entlassen, sondern ein Vielvölkerstaat zerbrach.

Wir nennen aber das koloniale England und das koloniale Frankreich keine Vielvölkerstaaten, sondern eben Kolonialreiche. Dann sollten wir es konsequenterweise auch mit China so halten.



Das russische und das chinesische Kolonialreich weisen allerdings die Besonderheit auf, daß die kolonisierten Gebiete an das Mutterland grenzen und nicht in Übersee liegen. Das hat geografische Gründe und ist ansonsten ohne Belang. Auch für Frankreich war Algerien nicht "Übersee"; noch näher lag die zeitweilige Kolonie Libyen geografisch bei Italien.

Zweitens kann man Kolonien natürlich mit unterschiedlichem staatsrechtlichem Status ausstatten. Sowohl im sowjetischen als jetzt auch jetzt im chinesischen Kolonialreich haben und hatten die Kolonien den Status von Provinzen, Sowjetrepubliken, autonomen Territorien.

Aber auch Algerien war ein Teil des französischen Mutterlands; es bestand aus den Départements Oran, Alger und Constantine. Auch Angola war eine Provinz Portugals.



Gibt es also gar keine Vielvölkerstaaten? Darüber wäre zu diskutieren.

Das Habsburger Reich des 19. Jahrhunderts jedenfalls, das Muster eines Vielvölkerstaats, war ganz anders strukturiert als das sowjetische und das chinesische Kolonialreich. Der Kaiser von Österreich (Cisleithanien) war in Personalunion König von Ungarn (Transleithanien); Wien und Budapest waren die beiden Hauptstädte.

Die UdSSR betrieb eine gezielte und brutale Russifizierungspolitik; Russen wurden planmäßig in den nichtrussischen Provinzen angesiedelt. Ähnlich macht es China heute mit Tibet, mit Uigurien, mit anderen Kolonien. Eine vergleichbare Politik der Eindeutschung gab es im Vielvölkerstaat "Kakanien", wie Robert Musil ihn genannt hat, nicht.



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4. Juni 2007

Randbemerkung: Wer ist der einzige reine Demokrat auf der ganzen Welt?

In der Washington Post kann man die Antwort lesen:
Russia's President Vladimir Putin has described himself as the world's only "pure" democrat (...). Asked whether he agreed with former German Chancellor Gerhard Schroeder's description of him as an "impeccable democrat," Putin replied laughing: "Of course I am an absolute, pure democrat. But you know the problem? It's not even a problem, it's a real tragedy. The thing is that I am the only one, there just aren't any others in the world."

Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich als den einzigen "reinen" Demokraten der Welt bezeichnet. (...) Auf die Frage, ob er der Kennzeichnung des früheren deutschen Kanzlers Schröder zustimme, daß er ein "lupenreiner Demokrat" sei, antwortete Putin lachend: "Natürlich bin ich ein absoluter, reiner Demokrat. Aber wissen Sie, was das Problem ist? Es ist noch nicht einmal ein Problem, es ist eine Tragödie. Die Sache ist die, daß ich der einzige bin, und sonst gibt es keine auf der Welt."
Und damit auch niemandem der Hohn entging, fügte Putin hinzu: "After the death of Mahatma Gandhi there's nobody to talk to" - nach dem Tod Mahatma Ghandis gebe es niemandem mehr für ein Gespräch.



Erst am Wochenende hatte Putin eine, wie der Telegraph schreibt, "gruselige" Botschaft an Westeuropa geschickt:
President Vladimir Putin has sent a chilling message to world leaders on the eve of the G8 summit with a threat to aim Russian nuclear missiles at European cities for the first time since the Cold War. Vladimir Putin acknowledged that targeting Europe would escalate an arms race he says has already begun. (...) The president refused to be drawn on which European cities could be targeted. "It is up to our military to define these targets, in addition to defining the choice between ballistic and cruise missiles," he said. "But this is just a technical aspect."

Präsident Putin hat am Vorabend des G8-Gipfels eine gruselige Botschaft an die Führer der Welt gerichtet. Er hat gedroht, zum ersten Mal seit dem dem Kalten Krieg wieder mit Atomraketen auf europäische Städte zu zielen. Wladimir Putin räumte ein, daß das Anzielen Europas ein Wettrüsten anheizen würde, das nach seinen Worten bereits begonnen habe. (...) Der Präsident weigerte sich, sich darauf festlegen zu lassen, welche europäische Städte die Ziele sein werden. "Es ist Sache unseres Militärs, diese Ziele festzulegen, wie auch die Wahl zwischen ballistischen Raketen und Marschflugkörpern zu treffen" erklärte er. "Aber das ist nur eine technische Frage".



Was soll das?

Zum einen ist es natürlich Ausdruck der strategischen Veränderung, die mit dem Wahlsieg Sarkozys einhergeht.

Vor ein paar Jahren - am deutlichsten 2003, zur Zeit des Irak- Kriegs - konnte Putin hoffen, mit Schröder und Chirac einen Dreibund gegen die USA zu schließen. Folglich hofierte er Westeuropa. Der liebe Putin, der sich mit seiner Gattin von den Schröders einladen läßt, der große Freund Deutschlands - das war damals das Bild, das die russische Propaganda aufbaute.

Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, brach ein Pfeiler dieser Konstruktion weg. Mit dem Sieg Sarkozys über Royal ist jetzt das ganze Gebäude zusammengebrochen.

Da Putin vorerst keinen Einfluß mehr auf Westeuropa nehmen kann, geht es ihm jetzt darum, den russischen Einfluß auf Osteuropa zu sichern.

Dessen Staaten können dem Himmel danken, daß sie größtenteils rechtzeitig der EU und der NATO beitreten konnten. Damit sind sie einigermaßen in Sicherheit vor dem Versuch, das russische Kolonialreich wiederherzustellen.

Aber eben nur einigermaßen. Wenn die Westeuropäer genügend Angst vor russischen Raketen bekommen - so dürfte Putins Kalkül sein -, dann werden sie Erpressungen osteuropäischer Länder durch Rußland tatenlos zusehen. Die ja im Gang sind; siehe Estland, siehe die Ukraine.



Und zweitens bin ich mehr denn je davon überzeugt, daß Putin versuchen wird, entgegen der russischen Verfassung weiter Präsident zu bleiben.

Dazu braucht er internationale Spannungen. Dazu muß er die Russen davon überzeugen, daß sie in gefährlichen Zeiten nicht auf ihren Großen Zaren Putin verzichten können.

10. Mai 2007

Randbemerkung: Estland und der russische Kolonialismus

Die FAZ hat heute einen ausgezeichneten Artikel von Siegfried Thielbeer, der aus Tallinn über die aktuellen Vorgänge in Estland und ihren historischen Hintergrund berichtet. Das veranlaßt mich zu dieser Randbemerkung.

In den Jahren nach 1989 ging nicht nur die Herrschaft des Kommunismus in Osteuropa zu Ende, sondern es zerbrach auch das letzte der großen Kolonialreiche.

Rußland war eine Kolonialmacht gewesen wie Frankreich, wie England, wie die Türkei und wie - verspätet und in vergleichsweise bescheidenem Umfang - Deutschland. Die Besonderheit des türkischen und eben auch des russischen Kolonialreichs war nur, daß die Kolonien nicht in Übersee lagen, sondern sich um das Mutterland herum gruppierten.

Dadurch war weniger offensichtlich, daß es sich um Kolonialreiche handelte; aber das war ja nur eine geographische Besonderheit. Das türkische Kolonialreich wurde folglich nach der Niederlage von 1918 ebenso zerschlagen wie das deutsche; wie die deutschen Kolonien gerieten die türkischen teilweise unter Mandatsverwaltung.



Anders als die Türkei gehörte Rußland - in gewisser Weise - zu den Siegern des Ersten Weltkriegs. Trotz des Friedens von Brest-Litowsk: Das Sowjetreich setzte auch in dieser Hinsicht die Tradition des Zarenreichs nahtlos fort. Die Kommunisten dachten nicht daran, das zaristische Kolonialreich freiwillig aufzugeben. Die Kolonien wurden nur (so, wie auch die des Osmanischen Reichs "Provinzen" gewesen waren) in Sowjetrepubliken, Territorien usw. umbenannt .

Es sei denn, sie erkämpften ihre Freiheit gegen die Rote Armee, wie Estland. Estland war Teil des zaristischen Kolonialreichs gewesen und wie andere Kolonien Gegenstand heftiger Russifizierungsversuche. 1918 erklärte es sich für selbständig, mußte seine Freiheit aber gegen die Rote Armee in einem nationalen Befreiungskrieg erkämpfen.

Freilich dauerte die Freiheit nicht lange: Als Hitler und Stalin sich 1939 verständigt hatten, gemeinsam in Polen und im Baltikum einzufallen und den Raub zu teilen, wurden die baltischen Staaten wieder russische Kolonien.



Die Russen hausten in diesen wiedergewonnenen Kolonien wie die schlimmsten Kolonialherren des 19. Jahrhunderts.

Große Teile der Intelligenz des Landes wurden ermordet, rund 100 000 Esten zwangsweise für die Rote Armee rekrutiert - rund zehn Prozent der gesamten Bevölkerung.

Fast das gesamte estnische Offizierscorps wurde von den Bolschewiken ermordet, Zehntausende zu Zwangsarbeit verurteilt.

Die Zahl der Opfer der Sowjet-Okkupation allein zwischen 1940 und 1945 wird auf 75 000 geschätzt.

Russen - vor allem aus der Ukraine - wurden nach Estland deportiert und dort zwangsangesiedelt.

Wie schon die Zaren suchten die Sowjets die estnische Sprache und Kultur zu vernichten.



Wenn ich Ähnliches darüber schriebe, wie die Franzosen in Algerien, wie die Briten in Südafrika, wie die Deutschen in Namibia mit der einheimischen Bevölkerung verfahren sind, dann würde der Leser zu Recht sagen: Aber das ist doch allgemein bekannt.

Die russische, von den Zaren ebenso wie von den Sowjets betriebene brutale Kolonialpolitik ist dagegen wenig bekannt; da sind vielleicht einige Informationen nicht überflüssig.

Und nun hatten also die Kolonisatoren ein Siegesdenkmal in der Hauptstadt ihrer vorerst verlorenen Kolonie hinterlassen. Diese verhielt sich so großzügig wie kaum eine befreite Kolonie - das Denkmal blieb zuerst stehen und ist jetzt dorthin versetzt worden, wo es hingehört, wenn man es als Gefallenen- und nicht als Siegesdenkmal versteht: Auf einen Soldatenfriedhof.

Und das veranlaßt den Kreml, Zeter und Mordio zu rufen, veranlaßt Putin gar, sich bei der EU-Präsidentschaft zu beschweren.

Und die von ihm kontrollierte Duma läßt er fordern, die diplomatischen Beziehungen zu Estland abzubrechen und einen Handelsboykott zu prüfen. Die vom Kreml gesteuerte Jugendorganisation droht gar, die lettische Botschaft in die Luft zu sprengen.

Weil ein Denkmal für Gefallene auf einen Gefallenenfriedhof gebracht wurde.

Grotesk, nicht wahr? Grotesk allerdings auch, daß die neokolonialistischen Töne aus Moskau im linken Spektrum unserer Politiker durchaus auf Verständnis stoßen.

Die ja sonst eher gegen den Neokolonialismus eingestellt sind.



Weitere Informationen zur Geschichte und Gegenwart Estlands findet man u.a. in dem eingangs verlinkten aktuellen Artikel in der FAZ, hier und hier.