12. April 2023

Uranus





(Uranus. Aufnahme der NIRCAM des JWST vom 6. Februar 2023)

Ich bin mir durchaus bewußt, daß ich in meinen Beiträgen an der Stelle dazu neige, einen Detailfetischismus, eine Zahlenbesessenheit und (doch, ja) eine Besserwisserei an den Tag zu legen, die von manchem Leser als durchaus störend empfunden werden könnten. Andererseits nehme ich dies bei einem Netztagebuch, daß zumindest mit seinem Namen dem Andenken und dem Geist Arno Schmidts gewidmet ist, eher als „Feature“ denn als „Bug,“ ja nachgerade als eine Verpflichtung. Denn bei Schmidt handelte es sich nachweislich um den wohl notorischsten Pedanten, Zahlenfetischisten und Besserwisser, der die deutsche Literatur der letzten hundert Jahre unsicher gemacht hat. Bei Schmidt kam freilich zu der maßlosen Selbstzentrierung auf das eigene Ich und seine Befindlichkeit, wie sie für so viele hochbegabte Asperger-Autisten (und um einen solchen handelte es sich bei Schmidt zweifelsohne) ebenfalls notorisch ist, die Tatsache hinzu, daß er als reiner Autodidakt nie eine Gültigkeit seiner Ideen, Einfälle, Vermutungen kritisch hinterfragt und abgewägt hat, sondern sie stets als unumstößliche Wahrheiten vertreten hat – was ihm im Fall seiner „freudschen“ Auslegung des Werks von Karl May in „Sitara und der Weg dorthin“ (1962) auf besonders bizarre Weise zum Fallstrick geworden ist.

Wie dem auch sei: auch für den Kleine Pedanten™, der hier stets mitschreibt, gilt der Satz von Oscar Wilde „I can resist anything but temptation“ (der K.P. merkt an, daß Lord Darlington ihn zu Lady Windemere im ersten Akt von Wildes erstem großen Bühnenerfolg, „Lady Windermeres Fächer“ aus dem Jahr 1892 sagt). Und wenn der der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA ein in der Sache trivialer, aber überraschender Schnitzer unterläuft, dann stellt das eine Versuchung dar, der er nicht widerstehen kann. ­

I.



(Gesamtaufnahme des JWST)

Vor sechs Tagen, am 6. April 2023, hat die National Aeronautics and Space Administration eine Aufnahme des James Webb Space Telescope (im folgenden mit dem üblichen Kürzel JWST bezeichnet) veröffentlicht, das den siebten Planeten des Sonnensystems, Uranus, mit seinem Ringsystem sowie sieben seiner Monde in bislang noch nie gesehener Auflösung zeigt. Zwar zeigen die Aufnahmen der Raumsonde Voyager 2, die dem blauen Gasriesen im Januar 1986 den bislang einzigen Besuch abgestattet hat, hier mehr Details – aber es sind eben nur Ausschnitte, kein Gesamtporträt. Und in der Pressemeldung zu diesem Bild heißt es:

In a 12-minute exposure image taken in February 2023—and a follow up to a similar image of Neptune published almost exactly a year ago when JWST was being tested—it’s possible to see the gas giant planet’s rings, bright features in the planet’s atmosphere and (in the wider images, below) many of its moons.

The James Webb Space Telescope (JWST) has become only the third telescope to ever image the seventh planet’s faint rings. (…) Only NASA’s Voyager 2 spacecraft, in 1986, and the Keck Observatory, in 2004, have ever been able to image the rings of Uranus.


Auf einer 12 Minuten lang belichteten Aufnahme vom Februar 2023 – Nacholger einer vergleichbaren Aufnahme des Neptun, die vor fast genau einem Jahr veröffentlicht wurde, als das JWST seine Testphase durchlief – sind die Ringe des Gasriesen, helle Strukturen in der Atmosphäre des Planeten und (auf der Gesamtaufnahme) viele seiner Monde zu sehen.

Das James Webb-Teleskop (JWST) ist erst das dritte Teleskop, das jemals die schwachen Ringe des siebten Planeten abgebildet hat. Nur die Raumsonde Voyager 2 der NASA und das Keck-Observatorium haben 1986 und 2004 Bilder von den Ringen des Uranus geliefert.


Und diese Feststellung, liebe NASA, ist schlicht falsch. Euer bisheriges „Instrument Nr. 1,“ das Hubble-Weltraumteleskop, das HST, hat seit 1994 zahlreiche Bilder des Ringsystems geliefert – und auch ALMA (das Kürzel steht für „Atacama Large Millimeter/submillimeter Array“) eine Konstellation von 66 Radioteleskopen, die seit 2013 gemeinsam vom amerikanischen National Radio Astronomy Observatory (NRAO) und der Europäischen Südsternwarte ESO in der Hochebene im Norden Chiles betrieben wird, hat 2019 ein Bild geliefert, auf dem das Ringsystem deutlich zu erkennen ist – nicht in vielen Details, aber unverkennbar. Wobei der K.P. ™ im Fall des AlMA mit sich handeln ließe, da Radioteleskope den zweiten, längerwelligen Bereich des elektromagnetischen Spektrums, für den die irdische Atmosphäre transparent ist, erfassen, mit einer Wellenlänge zwischen 0,32 Millimetern und 36 Zeitmetern, während die Bilder der beiden Weltraumteleskope im nahen Infrarotbreich liegen, im Fall des NICMOS (der „Near Infrared Camera and Spectrometer“) von Hubble im Bereich von 800 bis 2500 Mikrometern (μm, also einem Tausendstel Millimeter) und bei der NIRCam, der „Near Infrared Camera“ des Webb-Teleskops in einem Bereich von 0,6 bis 5,3 μm. (Zum Vergleich: der sichtbare Bereich des Spektrums, auf den die Zapfen und Stäbchen der menschlichen Retina ansprechen, liegt im Bereich von 380 bis 750 μm. (Manche Schlangenarten, etwa Vipern und Pythons, sind in der Lage, mit Hilfe ihrer Grubenorgane Strahlung im Infrarotbereich von bis zu 30 μm wahrzunehmen, und Moskitos registrieren in diesem Bereich noch bei 800 μm, aber es handelt sich dabei nicht um ein hochauflösendes „Sehen.“) (Abgesehen davon, liebe NASA, daß ihr das Bild, daß das JWST vom Neptun aufgenommen hat, am 21. September 2022 an die Öffentlichkeit gegeben habt – das nicht noch lange nicht “fast genau ein Jahr“ her.)



(Aufnahme des Hubble Space Telescope vom August 1998)


(Aufnahme des Ringsystems von Voyager 2 vom 22. Januar 1986, aus einer Entfernung von 2,52 Millionen km.)


Was in der Pressemitteilung gemeint gewesen sein dürfte, ist, daß auf den Bildern des Hubble-Teleskops die beiden schwachen Staubringe des Uranus, die 1986 beim Vorbeiflug von Voyager 2 entdeckt worden sind, nicht abgebildet wurden. Sie erscheinen zuerst auf einer Aufnahme, die Voyager 2 am 24. Januar 1986 aus einer Entfernung von 236.000 Kilometern aufgenommen hat, und im Juli 2004 mit einer Beobachtung des 10-Meter-Spiegelteleskops des Keck-Observatorium auf dem Gipfel des Mauna Kea in Hawaii. Anders als die anderen 11 bekannten Ringe des Uranus bestehen die beiden Staubringe, die mit den griechischen Buchstaben Lambda (λ) und Zeta (ζ) bezeichnet werden, aus erheblich kleineres Staubteilchen, die eine Größe von nur wenigen Mikrometern aufweisen. Der ζ-Ring ist ein recht breiter Ring von rund 3500 Kilometern Breite, der gut 12000 Kilometer über der obersten Wolkendecke des Gasplaneten beginnt, während der λ-Ring, messerscharf geschnitten mit einer Breite von neu einem Kilometer, noch einmal 10.000 km weiter entfernt kreist. Die geringe Größe der Partikel führt dazu, daß diese beiden Ringe noch lichtschwächer sind als der Rest des Ringsystems. Die anderen Ringe weisen eine Albedo von unter 5 auf: das heißt, daß nur ein Zwanzigstel des empfangenen Lichts zurückgestrahlt wird – wobei noch hinzukommt, daß diese Teilchen in einer Entfernung von gut 2,9 Milliarden Kilometern auch nur den 400. Teil des Sonnenlichts empfangen wie Mutter Erde. Allerdings ergibt sich aus der winzigen Größe dieser Teilchen ein höchst paradoxer Effekt: bei „vorwärtsgestreutem Licht“ – wenn die Lichtquelle (in diesem Fall natürlich die Sonne) genau hinter dem Auge der Kamera plaziert ist, führt die Streuung an der Oberfläche dieser Nanopartikel dazu, daß der Anteil des immer noch zurückgestrahlten Lichts größer ist als bei dem substantielleren Bestandteilen der anderen Ringe. Das war 1986 beim Anflug von Voyager 2 der Fall und 2007, als aus der irdischen Sicht von Keck und Hubble der Bick direkt auf die Kante (beziehungsweise auf den Äquator des Planeten) fiel und der Lambda-Ring zum hellsten Objekt im Uranus-System wurde.



(Aufnahme im Radiowellenbereich von ALMA, 2019)



(Erste Aufnahme des HST vom August 1994)



(Aufnahme des Keck Teleskops im Infrarotbereich)



(Aufnahme des Keck Teleskops vom 2007)

Die Lichtschwäche des Ringsystems ist die Ursache, warum seiner Existenz den Astronomen so lange verborgen geblieben ist. Erst im März 1977 wurde es entdeckt, als ein Team der NASA an Bord der Kuiper Airborne Observatory die Bedeckung des Sterns SAO 158687 im Sternbild Waage beobachtete. Man muß sich diesen Stern nicht merken: die Zahl bezieht sich auf seinen Eintrag im Sternkatalog des Smithsonian Astronomical Observatory aus dem Jahr 1966; ein orangefarbener Riesenstern in gut 550 Lichtjahren Entfernung – wichtig war nur, daß dieser Lichtpunkt der neunten Größenklasse an jenem Tag vom Uranus bedeckt wurde und das Team um James M. Elliott diese Gelegenheit nutzen wollte, um mit dem 90-Zentimeter-Spiegelteleskop an Bord der Lockheed C-141 in gut 12 km Höhe am Nachlassen und Wiedererstarken der Lichtstärke die Dichte der Atmosphäre des Planeten zu ermitteln. In den zehn Minuten vor der Bedeckung kam es zwischen 10 Uhr 11 und 10 Uhr 20 Ortszeit über dem Pazifik, gut 100 km westlich der Hauptinsel von Hawai’i (auch „Big Island“ genannt) fünf Mal für jeweils gut eine Sekunde zu einem leichten Abfall der Lichtkurve – ein Muster, das sich unmittelbar nach dem Ende der Bedeckung von 11 Uhr 51 bis 12 Uhr 07 wiederholte. Die Symmetrie der beiden Muster ließ nur den Schluß zu, daß als Ursache einzig die Existenz eines Systems von schmalen, scharfgeschnittenen Ringen in Frage kam.



(Stellung der Ringe von 2004 bis 2007. Aufnahmen des Keck Teleskops)

II.

Als William Herschel (dem ich vor ein paar Monaten an dieser Stelle aus Anlaß seines 200. Todestags einen Beitrag gewidmet habe: „William Herschel und das Gespenst,“ Zettels Raum vom 22. August 2022) am 13. März 1781 nach 10 Uhr abends in seinem Garten im englischen Städtchen Bath mit seinem selbstgefertigten Spiegelteleskop mit einem Hauptspiegeldurchmesser von 15 Zentimetern den westlichen Himmel auf der Suche nach Doppelsternen durchmusterte (er hatte vor, Doppelsterne zu markieren und zu sehen, ob sich ihr Abstand im Ablauf eines halben Jahres infolge der Bahn der Erde um die Sonne verändern würde, was einen Hinweis auf ihre bis dahin noch völlig unbekannte Entfernung liefern könnte), fiel ihm gleich nördlich der obersten Sterne des Orion, die die erhobene Keule des Himmelsjägers markieren, an der Grenze zwischen den Sternbildern Stier und Zwillinge, ein schwacher Lichtpunkt auf, der anders als die stets punktförmigen Sterne, bei 227facher Vergrößerung eine deutliche Scheibe zeigte. Herschel hegte den Verdacht, daß er hier einen Kometen entdeckt hatte, der noch keinen sichtbaren Schweif ausgebildet hatte. In seinen Beobachtungprotokoll notierte er: „Im Quartil nahe ζ Tauri entweder ein Nebelstern oder ein Komet.“ Ver Tage später, am 17. März, notierte er: „ich suchte den Kometen oder Nebelstern und sah, daß es sich um einen Kometen handelt, denn er hat sich bewegt.“ (Da die scheinbare Bewegung des Uranus am Himmel nur 4 Bodengrad beträgt, beläuft sich der Positionswechsel in 4 Tagen nur etwas über zweieinhalb Bogensekunden.) Im seinem Bericht über die Entdeckung, die Herschel an die Royal Society in London schickte und der dort vom Vizevorsitzenden William Watson auf der Sitzung vom 14. Juni 1781 verlesen wurde, schilderte er die Umstände etwas genauer:

Die Vergrößerung, die ich gewählt hatte, als ich den Kometen entdeckte, betrug 227. Aus Erfahrung weiß ich, daß sich die Durchmesser der Fixsterne bei höherer Vergrößerung nicht entsprechend ändern wie bei den Planeten, daher wählte ich Vergrößerungen von 460- und 932-fach, und stellte fest, daß der Durchmesser entsprechend der Vergrößerung zunahm, wie es zu erwarten wenn, wenn es sich nicht um einen Fixstern handelte, während die Durchmesser der Sterne, mit denen ich ihn verglich, sich nicht in gleichem Maß änderten. Zudem erschien der Komet, für den die Vergrößerung zu stark wurde, bei diesen starken Vergrößerungen zunehmend unscharf und neblig, während die Sterne die Schärfe und den Glanz beibehielten, wie ich es aus vielen tausend Beobachtungen gewohnt war. („Account of a Comet,“ Transactions of the Royal Society of London, Bd. 71, S. 492 bis 501)








(Der Bericht, der Herschels Ausführungen in diesem band der „Transactions“ vorausgeht, illustiert übrigens sehr schön, wie unscharf, auf heutiger Sicht betrachtet, die Grenzen der exakten Naturwissenschaft im 18. Jahrhundert noch waren und welche Phänomene noch nicht durch Generationen empirischer Nachweise ins Reich der Fabel verwiesen worden waren. Darin befaßt sich der schottische Chemiker Adair Crawford auf zwölf Seiten ausführlich mit „Experiments on the Power that Animals, when placed in Certain Circumstances, possess of producing Gold.” Neun Jahre später gelang Crawford die Entdeckung des Elements Strontium.)





(Positionskarte und Darstellung des Mikrometers, das Heschel seine exakten Ortbestimmungen ermöglichte. Bei Abb. aus den "Transactions")

Innerhalb weniger Monate wurde durch die Bahnberechnungen der Astronomen Pierre Simon Laplace in Paris und Anders Johann Lexell (der Mitglied der Königlichen Akademie in Sankt Petersburg war, sich am von März bis August 1781 im Zug einer Studienreise in London aufhielt) klar, daß es sich um einen Planeten handeln mußte, der in 19fachem Abstand von der Erde im Zeitraum von 84 Jahren seine Bahn um die Sonne zog. Herschel hatte vorgehabt, den neuen Himmelkörper zu Ehren des englischen.König Georg III. „Georgium sidus,“ Georgs Stern zu nenne, ließ sich aber durch eine Denkschrift seines Berliner Kollegen Johann Ellert Bode im März 1782 davon abbringen und benannte ihn nach dem Urvater des ersten Göttergeschlechts in der griechischen Mythologie – Ouranos, dem Vater des Kronos (oder lateinisch: Saturn), der seinerseits der Vater des Zeus/Jupiter war.

III.

Und an dieser Stelle erlaubt sich der Ewige Pedant eine zweite Korinthen …zählerei. Die Rotationsachsen der acht „vollwertigen“ Planeten unseres Sonnensystems sind in leichtem Winkel gegen die Ebene, in der sie ihr Gestirn umlaufen, gekippt und drehen sich, aus Sicht von der Erdhalbkugel der Erde, entgegen dem Uhrzeigersinn („widdershins,“ wie der schöne englische Ausdruck dafür lautet. Sprachgeschichtler leiten die Herkunft dieses Wortes, das dem Schottischen entlehnt ist, aus dem deutschen „widersinnig,“ bzw. seines mittelhochdeutschen Äquivalents „widar-zuomi“ her) – nicht zwei Ausnahmen (drei, wenn man Pluto mitzählt, der von der Internationalen Astronomischen Union 2006 auf den neu geschaffenen Status eines „Zwergplaneten“ degradiert worden ist). Die Venus, und eben Uranus. Bei Jupiter beträgt die Achsneigung 3 Grad, bei Erde, Mars, Saturn und Neptun steht die Achse zwischen 23 und 30 Bogengrad „schräg.“ Bei der Venus beträgt dieser Winkel 177 Grad, steht also fast im rechten Winkel zur Ekliptik – nur dreht sich unser innerer nachbrachplanet damit „falsch herum“ – im Uhrzeigesinn oder „deosil.“ (Nimmt man dann noch hinzu, daß eine Rotation der Venus mit 233 Tagen 9 Tage länger dauert als ein Jahr, ergibt sich ein nettes Problem für dortige Kalendermacher. Aber das ist ein Thema für ein anderes Mal.) Die Drehachse des Uranus dagegen liegt fast exakt in der Ebene der Ekliptik – sogar ein wenig „darunter.“ Unter der Annahme, daß alle großen Himmelkörper denselben Bewegungsimpuls aus der Zeit ihrer Entstehung erhalten haben und deshalb in gleicher Weise um ihre Achse kreisen, beträgt dieser Winkel bei Uranus 97,77 Grad. Auch er läuft also „falschherum,“ während er sich in 17 Stunden einmal um seine Achse dreht. Da diese Achse in ihrer Orientierung im Raum fest steht – wie bei einem Kreiselkompaß mit 50.000 Kilometern Durchmesser, hat das zur Folge, daß Beobachter auf der Erde im Lauf von 84 Jahren abwechselnd auf die Nordpol-, die Südpol- und zweimal auf die Äquatorregionen blicken. Entsprechend ändert sich der Anblick des Ringsystems: er wandelt sich von der Einrahmung des Planeten (wie sie auf dem Bild des JWST zu sehen ist), bis zum „Verschwinden der Ringe, denn der Blick exakt auf die Kante fällt. Das letzte Mal war das im Jahr 2007 der Fall; das die Erde ihr Muttergestirn ein wenig rascher umrundet als der Uranus, ergaben sich vor 16 Jahren sogar zwei Termine, an denen die wechselnde Perspektive dieses Schauspiel erlaubte: am 3. Mai und am 16. August 2007. Der Nordpol des Uranus weist aus des Stern Eta im Sternbild Schlangenträger, η Ophiuchi, der den arabischen Namen Sabik trägt (nein, das ist nicht der Vater von Mr. Spock aus „Star Trek“; dessen Name lautete Sarek, und mit dem derzeitigen deutschen Wirtschaftsmiinster sollte man ihn auch nicht verwechseln, obwohl jener Herr ebenfalls nicht von dieser Welt ist); sein Südpolastern ist 15 Orionis, knapp zwei Bogengrad nordöstlich von Alnitak, dem linken Stern in der Reihe der drei Sterne, die den Gürtel des Himmelsjägers bilden. Am 19. April 2030, in sieben Jahren, wird auf der Nordhalbkugel des Uranus die Sommersonnenwende erreicht; die Sonner steht dort also senkrecht über dem Nordpol. Und wie es der Zufall will, fällt dieses Datum in diesem Jahr auf den Karfreitag.



Während der ersten 150 Jahre der kontinuierlichen Beobachtungen durch die Astronomen bot die kleine blaugrüne Scheibe des Uranus mit ihrem Durchmesser zwischen 3,3 und 4,1 Bogensekunden keinerlei Anzeichen für irgendwelche Oberflächenmerkmale – anders als etwa die Bänder des Saturn oder der Große Rote Fleck des Jupiters anhand derer sich recht leicht die Tageslänge dieser Planeten bestimmen ließ. Erst mit der Inbetriebnahme des Hooker-Spiegelteleskops auf dem Mount Wilson-Observatorium mit seinem Hauptspiegeldurchmesser von 250 Zentimetern gelang es, dunkle Bänder in der oberen Atmosphäre auszumachen, die eine Bestimmung dieses Werts zuließen. Die blaugrüne Färbung der Planeten geht übrigens auf den Anteil von Methan in der oberen Atmosphäre mit rund 2,5 Prozent zurück, der den roten Anteil des einfallenden Sonnenlichts absorbiert, den blauen aber ungehindert passieren läßt.

Etwas anderes ist es aber mit der Festlegung der Drehachse. Und an diesem Punkt muß der Ewige Rabulist einhaken. Sucht man im Netz danach, ab wann die besondere Schräglage dieser Achse erkannt und nachgewiesen worden ist („When and how was Uranus' axial tilt discovered?“), findet man sehr schnell – und hartnäckig – Verweise auf zwei Arbeiten:

William Pickering und Vesto M. Slipher, „Detection of the Rotation of Uranus“ (erschienen im Lowell Observatory Bulletin, Bd. 2, 1912, S. 19-20) und J. H. Moore und Donald H. Menzel, “The Rotation of Uranus” (erschienen in den Publications of the Astronomical Society of the Pacific, Bd. 42, Nr. 250, 1930, S. 330-35).

Nur beziehen sich diese beiden Arbeiten explizit nur auf die Festlegung des Tageslänge – und nicht auf den Neigungswinkel der Rotationsachse.





Tatsächlich war die extreme Schräglage dieser Achse schon bald nach der Entdeckung der ersten beiden Monde, ebenfalls durch Herschel im Jahr 1787, deutlich gemacht worden - Titania fand er am 11 Januar 1787, Oberon am 15. Februar. Sein Sohn John Herschel wählte diese Namen 1852 aus, nachdem zwei weitere Monde entdeckt worden waren – und begründete damit die Tradition, diese Begleiter nach dem Feengestalten der englischen Literatur zu benennen – Oberon und Titania entstammen Shakespeares „Mittsommernachtstraum,“ Ariel und Umbriel aus Alexander Popes „Lockenraub“ (Ariel tritt natürlich auch in Shakespeares „Sturm“ auf). Ebenfalls aus dem Personenverzeichnis des „Sturms“ entlehnt sind die Monde XXI (Francisco), XVI (Caliban), XX (Stephano), XXI (Trinculo), XVII (Sycorax), XVII (Prospero) und XIX (Setebos), (Um auf den eingans erwähnten Arno Schmidt zurückzukommen: dessen Erzählung „Caliban über Setebos,“ aus dem Zyklus der „ländlichen Erzählungen“ im Band „Kühe in Halbtrauer“ hat nicht Shakespeare nur „über Bande“ zu tun: Schmidt hat seinen Titel von Robert Brownings Gedicht, „Caliban upon Setebos“ aus dem Jahr 1864 entlehnt). Aus der Bahnlage dieser Monde – und der Tatsache, daß die Gasriesen Jupiter und Saturn von ihren Trabanten entlang ihres Äquators umkreist werden, lag dieser Schluß recht zwingend nahe.

Und ein Blick in einige der populären Himmelskunden des 19. Jahrhunderts, die einer breiten Leserschaft die neuen Erkenntnisse der Astronomie vermittelte, bestätigt umgehend, daß die Kenntnis von der Achsneigung des Uranus und die Besonderheit der Jahreszeiten, die sie zur Folge hat, immer wieder „ein gängiges Thema“ waren – lange vor Pickering und Slipher.

So etwa in der wohl am meisten gelesenen „Himmelskunde“ der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die der amerikanische Astronom Simon Newcomb (1835-1911) 1878 unter dem Titel „Popular Astronomy“ herausbrachte, und die der deutsche Astronom Rudolph Engelmann (1841-1888) für die deutsche Ausgabe, die 1881 von seinem Bruder, dem Verleger Wilhelm Engelmann, in Leipzig verlegt wurde. Ich zitiere aus der zweiten, wieder erweiterten Auflage, ergänzt von Hermann Carl Vogel (1841-1907), die 1892 ebenfalls im Verlag Wilhelm Engelmann herauskam.

Mit starken Fernröhren betrachtet, erscheint die Oberfläche in grünlicher Färbung: Streifen oder Flecke sind auf ihr bis jetzt mit Sicherheit noch nicht gesehen worden, daher ist auch seine Rotationsdauer die die Lage seiner Umdrehungsaxe noch unbekannt; doch darf angenommen werden, dass er in derselben Ebene rotiert, in welcher seine Trabanten ihn umkreisen. (…) Die grösste Eigenthümlichkeit der Uranustrabanten ist die grosse Neigung ihrer Bahnen gegen die Ekliptik. Statt wie bei allen anderen Planeten (und dem Uranus selbst) und deren Satelliten, eine Neigung von nur wenigen Graden zu haben, stehen die Bahnen der Uranustrabanten nahezu senkrecht zur Ekliptik; ja in geometrischem Sinne sind sie sogar mehr als 90° gegen dieselbe geneigt, da die Bewegungsrichtung der Satelliten in ihren Bahnen, verglichen mit den anderen, eine rückläufige oder retrograde, ähnlich wie bei vielen Cometen, ist. Um die Lage der Bahn eines gewöhnlichen Satelliten in die jener Trabanten zu verändern, müsste sie über 100° geneigt oder gekippt werden. („Newcomb-Engelmann‘s Populäre Astronomie,“ Leipzig 1892, S. 398-99)


Oder auch in Johann Heinrich Mädlers „Populäre Astronomie,“ dessen erste Ausgabe 1841 erschienen ist und die der Autor im Lauf der nächsten 30 Jahre kontinuierlich um neue Entdeckungen im Bereich der Sternenkunde ergänzt hat. Ich zitiere aus der vierten Auflage, 1852 bei Carl Heymann in Berlin erschienen:

Aber das Merkwürdigste in diesem System (= des Uranus) ist die Lage der Bahnen, die wenigsten bei den beiden sicheren Trabanten im Allgemeinen verbürgt werden kann. Sie ist für den vierten 99°43'53",3 also nahe senkrecht auf der Bahn des Uranus, oder eigentlich schon rückläufig. Da in den beiden anderen Partialsystemen (gemeint sind Jupiter und Saturn) die Trabantenebenen mit den Äquatoren ihrer Hauptplaneten sehr nahe zusammenfallen, so ist auch bei den Uranusmonden dasselbe zu vermuthen, und der Aequator dieses Planeten steht folglich fast senkrecht zu seiner Bahn. Die Sonne erhebt sich für jeden der Pole zu Zeiten ins Zenith, wo sie dann einige Zeit fast unverrückt stehen bleibt. Jeder der Pole hat einen Tag von 42 Erdjahren und eine ebenso lange Nacht; für jeden unter der Breite b auf der Uranuskugel liegenden Ort beträgt die Dauer des längsten Tagen b x 42 / 90° Jahre. Was wir Polarkreise nennen, fällt dort mit dem Aequator, so wie das Analogon unserer Wendekreise mit den Polen zusammen. Die Jahreszeiten (insofern die Sonnenwärme dort noch in Betracht kommen kann) haben die grösstmögliche Differenz. Von unserer Erde würde, wenn die Lage ihrer Axe der des Uranus gleich wäre, der grösste Theil unbewohnbar sein und überall ungeheuer hohe Grade von Hitze und Kälte herrschen.

Zu der Zeit, wo einer der Pole die Sonne senkrecht über sich hat, stehen die Trabanten in jedem Punkte ihres Umlaufs in der Quadratur und die Phase zeigt keine Ab- oder Zunahme, wohl aber eine Drehung um den Mittelpunkt der Scheibe, deren Periode der Umlauf ist. Je weiter sich die Sonne vom Zenith des Pols entfernt, desto grösser werden die Veränderungen dieser Phasen; Neu- und Vollmonde aber treten nur ein, wenn die Pole die Sonne im Horizont haben und diese den Aequator senkrecht bescheint; d.h. jedesmal nach 42 Erdenjahren, dann aber auch ziemlich lange Zeit hindurch. In diesen Zeiten treten dann auch die gegenseitigen Finsternisse ein, von denen wir aber wohl stets nur theoretische Kenntnisse haben werden. (J. H. Mädler, „Populäre Astronomie,“ Berlin 1852, S. 270-71.)




IV.

Anderntags kreuzte der Komet Amina, mit der Sannah in seinem Gefolge, die Bahn des Planeten Uranus, der am 13. März 1781 von Herschel entdeckt wurde.

»Uranus ist etwa doppelt so weit von der Sonne entfernt, wie Saturn«, belehrte Schultze, »nämlich zirka 2850 Millionen Kilometer. Er ist 90mal so groß wie unsere Erde und wird von der Sonne nur schwach erleuchtet und erwärmt, da er 400mal weniger Sonnenlicht empfängt als die Erde, was aber immerhin noch 1500 Vollmonden gleichkommt. Er erscheint gleichförmig und düster und ist wahrscheinlich heißflüssig und daher etwas selbstleuchtend. Seine Dichte ist nahezu die des Wassers und die Schwerkraft beträgt auf ihm ein Zehntel weniger als auf unserm irdischen Planeten.

Er besitzt vier äußerst kleine, lichtschwache Monde mit rückläufiger Bewegung, das heißt, sie drehen sich um ihn von Westen nach Osten. Die Sonne erscheint ihm 360mal kleiner als die Erde.

Sein Äquator scheint nahezu senkrecht zu seiner Bahnebene zu stehen, so daß die Pole in der Bahnebene selber liegen und jeder Punkt auf diesem Weltkörper das gleiche Klima besäße; allerdings ein Klima, das auch auf jedem Punkte den außerordentlichsten Schwankungen unterliegt, denn der längste Tag dauert bei 5 Grad Breite 20 Erdenjahre und bei 90 Grad gar 49 Erdenjahre!«

Die Sannah kam dem Uranus ziemlich nahe, aber vergebens hoffte Flitmore, bei Abstellung der Zentrifugalkraft durch die Anziehungskraft des Planeten von der Amina losgerissen zu werden: der Kometenschweif riß das Weltschiff unentwegt mit sich fort.

Doch konnte Schultze wenigstens einige neue Entdeckungen machen: er fand einen Mond des Uranus, und zwar den von Herschel 1787 entdeckten Oberon, mit einem Ring umgeben, ähnlich dem Saturn, eine völlige Neuheit auf astronomischem Gebiete; ferner entdeckte er zwei weitere, sehr kleine dunkle Monde, deren einer zwischen Oberon und Titania, der andre zwischen Ariel und Umbriel kreiste, den zwei innersten Monden, die Lassell 1846 entdeckt hatte.

Nach weiteren zwanzig Stunden schnitt der Komet bereits die Neptunbahn.

(Friedrich Wilhelm Mader, „Wunderwelten,“ Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt, 1911, Kap. 28: „Die Geheimnisse des äußersten Planeten“)


Genau diese Detaillosigkeit, das Fehlen aller näheren Besonderheiten, was den siebten Planeten des Sonnensystems betrifft, hat dazu geführt, daß die frühen Autoren der spekulativen Literatur, seit sich das Genre um die Mitte des 19. Jahrhunderts herauszubilden begann, dem Uranus als imaginäres Reiseziel so gut wie nichts abgewinnen konnten. Die Venus bot sich aufgrund ihrer Größe als vermeintlicher Zwilling der Erde dafür an (auch wenn ihre ewige Wolkendecke ebenfalls keine Konsensationskerne für die spielenden Phantasie der Autoren lieferte), der Mars wurde nach der „Entdeckung“ der Marskanäle durch Schiaparelli 1877 und ihre Popularisierung vor allem durch Pervical Lovell in den USA und Camille Flammarion in Frankreich zur Destination Nr. 1; der Jupiter empfahl sich durch seine vier großen galileischen Monde und der Saturn durch das Schauspiel seiner Ringe. Aber die (relativ) kleine blaue Kugel bot außer Kälte, Dunkelheit und pechschwarzen Monden keinerlei Attraktion für imaginären Weltraumtourismus. Und dabei ist es im Grunde bis heute geblieben.

In dem kleinen Subgenre, das man als „Pauschalreisen durchs Sonnensystem“ nennen könnte (oder, nach dem Vorbild des Erfinders solcher organisierter Ausflüge aus England in die entlegenen Winkel der Erde, von der Schweiz über Deutschland bis ins Heilige Land, Thomas Cook, eine „Cook’s Tour“) und das 1877 mit Jules Vernes „Hector Servadac“ beginnt (im Deutschen als „Reise durch das Sonnensystem“ bekannt, im englischen Sprachraum als „Off on a Comet“), wird Uranus, wie auch Neptun, in der Regel nicht auf die Liste der Reiseziele gesetzt. Vernes zusammengewürfelte Mannschaft, von einem Kometen, der „die Erde streift“ mitgerissen (samt einem hilfreichen Vorrat an irdischer Luft) wird von dem kosmischen Irrläufer bis in die Nähe des Saturn getragen, um dem Titelhelden Gelegenheit zu geben, die Kenntnisse der Astronomie seiner Zeit seiner unwilligen Zuhörerschaft in endlosen Vorträgen zu Gehör zu bringen (just das war das Ziel, daß die „Voyages Extraordinaires“ des Pariser Verlegers Hetzel verfolgten: die Reihe war vom französischen Erziehungsministerium in Auftrag gegeben worden, um der französischen Jugend Kenntnisse in Geographie, Wissenschaft und Technik zu vermitteln, die in einer Nation, die zu einer führenden Industriegesellschaft aufsteigen wollte, vonnöten waren, nachdem die Regierung Anfang der 1860 festgestellt hatte, daß trotz der unter Napoleon Bonaparte eingeführten Schulpflicht bis zum 14. Lebensjahr gut die Hälfte der Schüler die Schule als halbe Analphabeten verließen.)

(Vernes Reisegesellschaft wird am“1. Januar 188x“ von dem „Kometen Gallia“ von Gibraltar in die Weiten des äußeren Sonnensystems entführt und auf den Tag genau ein Jahr später wieder so war zu ihr zurückgeführt, daß sich die Atmosphären der beiden Himmelkörper berühren und Servadac und seinen 35 Kompagnons die Flucht in einem eilig gefertigten Ballon ermöglicht. Der Kleine Pedant sieht einmal gnädig darüber hinweg, daß ein Komet, dessen Bahn ein Aphel von einer Astronomischen Einheit aufweist und ein Perihel von 9 AU, gemäß dem zweiten Keplerschen Gesetz eine Umlaufzeit von gut 14 Jahren aufweisen würde (der Asteroid 944 Hidalgo, im Oktober 1920 von Walter Baade entdeckt, hat mit den Bahnparametern 1,95 AU und 9,53 AU.für die beiden Bahnpunkte fast exakt die gewünschte Umlaufbahn (mit einem Mittelwert vom 5,7 AU und benötigt 13,7 Jahre oder fast exakt 5000 Tage für einen Umlauf) Verne sieht sich in so einigen seiner Ausflüge jenseits der handfesten Erdoberfläche zu solchen Taschenspielertricks genötigt, um seine Helden heil nach Hause gelangen zu lassen. In der „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ (1863) gelingt dem Team des Hamburger Professors Lidenbrock und seinem Neffen Axel, die sich vom Sneffelsjökull auf Island auf den Weg ins Erdinnere gemacht haben, die Rückkehr aus 180 Kilometern Tiefe nur, indem sie eine Magmakammer aufsprengen und sich mit dem hölzernen Floß, auf dem sie das unterirdische Meer befahren haben, von einem Lavastrom vom Vulkan Stromboli vor Sizilien ausgespuckt werden. In der „Reise um den Mond“ gelingt sieben Jahre später Barbicane und Co. die Wasserung ihrer Kanonenkugel „Columbiad,“ idem sie die mitgeführten Raketen zünden, die den Aufprall auf dem Mond hätten abmildern sollen.

George Griffith (1857-1906), den an dieser Stelle vor kurzem ein Gastspiel als Autor der Romane „The Angel of the Revolution“ und „Olga Romanoff“ hatte („Das geheimnisvolle Luftschiff,“ Zettels Raum vom 8. Februar 2023), schickte seine Flitterwöchner in „Honeymoon in Space“ (in sechs Einzelepisoden vom Januar bis zum Juni 1900 in Pearson’s Magazine unter dem Sammeltitel „Stoires of Other Worlds abgedruckt und als Buch im folgenden Jahr erschienen) mittels Antischwerkraftantrieb auf Besichtigungstour vom Mond über die Venus, Mars, Jupiter bis „In Saturn’s Realm“ und ließ sie dann den Heimflug antreten. Oskar Hofmann, der im gleichen Beitrag als einer der möglichen Urheber des Käptn Mors und seines lenkbaren Luftschiffs figuriert, begeht in seinem Roman „Mac Milfords Reisen im Universum“ (1902) einen leichten Etikettenschweindel, da der einzige Ausflug in die Unendlichkeit auf dem Mond „unter den Seleniten“ endet (dem Kleinen Zyniker fallen an dieser Stelle Ringelnatz‘ Knittelverse ein: „Es waren zwei Hamburger Ameisen / die wollten nach Australien reisen. / Bei Altona auf der Chaussee / da taten ihnen die Füße weh. / Und so verzichteten sie weise / auf den letzten Teil der Reise.“)

Friedrich Wilhelm Mader (1866-1945), dessen Jugendbücher meist im Herzen des wildesten Afrika, in Südamerika oder Australien angesiedelt sind, läßt in seinem Roman „Wunderwelten“ (1911 bei der Deutschen Verlags Anstalt in Stuttgart erschienen, mit dem Untertitel „Wie Lord Flitmore eine seltsame Reise zu den Planeten unternimmt und durch einen Kometen in die Fixsternwelt entführt wird“), der das Kunststück fertigbringt, NOCH bräsiger und belehrender als Vernes Dauervorlesungen daherzukommen („Vor allem aber mußte Schultze astronomische Vorträge halten, da Mietje, Münchhausen und Heinz Friedung das Bedürfnis empfanden, ihre Kenntnisse auf dem Gebiet, das bei dieser Weltfahrt das wichtigste war, zu ergänzen, ganz abgesehen natürlich von John Rieger, der den Vorträgen mit besonderer Andacht lauschte und am fleißigsten das von vornherein verkündigte Recht benutzte, den Redner jederzeit mit Fragen zu unterbrechen“) zwar die üblichen Schauplätze Revue passieren – sie entdecken auf dem Mars eine sterbende Zivilisation, geraten im Asteroidengürtle unter Meteoritenbeschuß und landen auf den Saturnringen, die Mader nicht als Sammlung von Staub und winzigen Gesteinsbrocken deutet, sondern als festen Körper, wenn auch mit „brückeliger, poröser Oberfläche.“

Uranus und Neptun läßt der Autor allerdings links liegen, weil Lord Flitmores Weltfahrzeug von einem zufällig vorbeikommenden Kometen entführt wird, dessen Schweif „mit Fliehkraft aufgeladen“ ist und der nach dem Verlassen des Sonnensystems unversehens auf Überlichtgeschwindigkeit beschleunigt, um eine Stippvisite beim nächstgelegenen Sonnensystem bei Alpha Centauri zu ermöglichen. (Trekkies fällt an dieser Stelle vielleicht der „Sonnensegler“ ein, der in der dritten Staffel von „Deep Space 9“ Captain Sisko und Sohnemann Jake durch einen „Sonnensturm“ im Handumdrehen von Bajor ins Heimatsystem der Cardassianer befördert wird. Der Protokollant merkt an, daß er in der Folge „Explorers“ immer eine ironische Verbeugung vor den Thesen Thor Heyerdahls gesehen hat.) Und jedem, der sich je über das „Technobabbel“ und den Schindluder geärgert hat, den die Autoren mit den Gesetzen der Physik treiben, darf sich trösten: das ist nicht erst ein Kennzeichen des Fernsehzeitalters oder auch nur der Science Fiction schlichterer Bauart nach der Herausbildung des Genres, sondern gehört von Anfang an dazu.

V.

Das gilt auch für einige Erzähl- beziehungsweise Romanzyklen, die erschienen sind, nachdem sich mit „Amazing Stories“ ab 1926 der Literaturtypus „SF“ als eigenständiges Trivialliteraturgebiet etabliert hatte und die Konventionen und Themen des Genres nach und nach etabliert wurden, und in denen die „äußeren Planeten“ sukzessive zum Schauplatz gewählt wurden. Auch hier drängt sich der Eindruck auf, daß der Uranus nur deshalb angeflogen wurde, weil „er auf der Liste stand“ – nicht aber, weil es zu einem besonderen Vermerk im interplanetaren Baedeker (oder in „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“) gereicht hätte.



Die erste dieser Serie stammte von Stanley G. Weinbaum, dem von seiner ersten Veröffentlichung im Juli 1934 bis zu seinem Krebstod Ende 1935 nur eine Autorenkarriere von 18 Monaten vergönnt war. Weinbaum schlug in der damals noch sehr überschaulichen Szene „wie eine Nova“ ein (nach Isaac Asimovs Worten), weil er in seinen Erzählungen ein permanentes Feuerwerk an Einfällen abbrannte und sich, wie ein paar Jahre später Robert A. Heinlein, nicht mit langwieriger Exposition aufhielt, sondern die Welt der Zukunft unmittelbar durch den Handlungsbogen vor Augen führte. Zudem gehörten seine außerirdischen Lebensformen nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihrer Bizarrerie zu den ersten, die nicht verpflanzten Erdenbewohnern ähnelten (Trekkies reden von „Außerirdischen mit Latexmasken“ – aliens with rubber masks) oder monströse Schreckgestalten darstellten, sondern wie das Ergebnis einer natürlichen Anpassung an andere Lebensumstände wirkten.

Gut die Hälfte der rund 20 Erzählungen Weinbaums, die nach seiner ersten Veröffentlichung „A Martian Odyssey“ (Wonder Stories, Juli 1934) bis zum postum erschienenen „Redemption Cairn“ (Astounding Stories, März 1936) und der von seiner Schwester Helen fertiggestellten Erzählung „Tidal Moon“ (Thrilling Wonder Stories, Dezember 1938) spielen vor einem gemeinsamen Hintergrund und einer Geschichte der zukünftigen Erschließung des Sonnensystems und spielen in den Jahren vor und nach der Wende zum 22. Jahrhundert. Schauplätze sind der Mars (in „A Martian Odyssey“ und seiner Fortsetzung „Valley of Dreams“), die Jupitermonde Io, Europa und Ganymed, der Saturnmond Titan, und die Planeten Pluto und eben Uranus. Jede Lokalität jenseits der Marsbahn kommt nur einmal vor – von drängt sich der Eindruck einer Besichtigungstour geradezu auf. Weinbaum betrachtet die Monde von Jupiter und Saturn als Welten, auf denen die Lufthülle und die Temperaturen noch menschlichen Leben ermöglichen; auch wenn der Titan in „Flight on Titan“ (Astounding Stories, August 1935) eine eisige Welt mit beständigen Orkanen ist. Sein Uranus (in „The Planet of Doubt,“ Astounding Stories, Oktober 1935 verfügt über eine feste Oberfläche, aber die Meere und Inseln dort sind in immerwährenden Nebel gehüllt, der die Sichtbarkeit auf weniger als fünfzig Meter beschränkt. Das fehlende Magnetfeld des Planeten macht es unmöglich, sich per Kompaß zu orientieren und bringt es mit sich, daß sich die wenigen Besucher von der Erde dort nur an Sicherheitsleinen ins Freie wagen. Realiter verfügt Uranus für einen Gasriesen tatsächlich über ein erstaunlich schwaches Magnetfeld, dessen stark schwankende Stärke ein Drittel bis das Dreifache des irdischen erreicht. Kein Vergleich mit dem nachgerade monströsen Magnetfeld, daß der Jupiter um sich ausbildet – und das dafür sorgt, daß die hochenergetisch geladenen Teilchen der Sonnenwinds, mit dem es wechselwirkt, in der Nähe des Planeten eine solch starke Strahlenbelastung erzeugen, daß ein Aufenthalt für menschliche Raumfahrer binnen kürzester Zeit tödlich wäre.


(Ill. Elliott Dold)


Der Ewige Pedant merkt an dieser Stelle an, daß Weinbaum bei seinen Vorarbeiten für seine Erzählung ein entscheidender Fehler unterlaufen ist. In seinem Universum erfolgt der Flug von Planet zu Planet auf gerader Linie. Das Wissen, daß tatsächliche Transferbahnen gekrümmt sind, nicht zuletzt, weil der Bewegungsimpuls der Startorts erhalten bleibt, gehörte für SF-Schreiber in der Zeit, bevor Autoren wie Willy Ley und Arthur C. Clarke es übernahmen, die Grundlagen der Raumfahrt in populärer Form darzulegen, in keiner Weise zu den Hausaufgaben. Aufgrund der Entfernung es Uranus ist diese Destination nur vom Saturnmond Titan anzufliegen. Nun findet im Jahr 2100, in dem „The Planet of Doubt“ spielt, zwar tatsächlich eine Konjunktion von Saturn und Uranus statt – sie stehen also mit der Sonne in einer Linie. Aber es ist die FALSCHE Konjunktion: beide Planeten werden sich in Opposition, also auf der jeweils anderen Seite er Sonne befinden.

Am Samstag, dem 1. Mai 2100, werden sich Uranus, „der Magier,“ wie ihn der sechste Satz von Gustav Holsts Suite „Die Planeten“ nennt, und der „Bringer des Alters“ Saturn, in den frühen Morgenstunden, tatsächlich in einer Linie mit der Sonne befinden: Uranus von uns aus gesehen, dicht neben der Sonne, im Sternbild Fische, mit einer Rektaszension von 12h25m; Saturn ihm genau gegenüber auf der anderen Seite des Himmels im Sternbild Fische, gleich unterhalb des Hauptsterns des Bärenhüters, Arktur, mit einer Rektaszension von 01h25m – gleich neben Jupiter (dem „Bringer der Fröhlichkeit“), dem er sich im September auf einen Abstand von knapp einem Grad annähern wird, wenn beide in das Sternbild Waage weitergewandert sind. Zwischen den beiden Planeten (also Saturn und Uranus) liegt am 1. Mai 2100 ein Abstand von 29 Astronomischen Einheiten, also gut 4,4 Milliarden Kilometer.

VI.

Ein durchaus ähnliches Phänomen (wenn auch auf literarisch wesentlich bescheidenerem Niveau) sehen wir zwei Generationen später in einer anderen Pionierzeit des Genres, auf der anderen Seite des Atlantiks. Zu den Pionieren der Science Fiction in den frühen fünfziger Jahren, noch bevor Heftreihen die „Terra“ oder „Utopia“ den Markt beherrschten, kam es ab 1953 zu einem Boom der Leihbuchproduktion – nicht nur auf diesem Gebiet, sondern auch den übrigen Spielwiesen schlichter, anspruchsloser Unterhaltungslektüre wie Krimi, Liebeschmonzetten und Western. Einer der fleißigsten Beiträger in diesem Metier war Wolf Detlev Rohr, 1928 in Breslau geboren und 1981 gestorben, der in den sieben Jahren zwischen seinem Debüt „Die gläserne Stadt“ und seinem letzten Roman „Raumschiff ohne Namen“ (1958) mehr als 50 Titel in diesem genormten Format vor. Die Leihbücher hatten ein Standartformat von 18 mal 24 Zentimetern, das dicke Papier sorgte für eine Breite von vier Zentimetern und der Umfang belief sich, je nachdem ob die Seitenzählung mit „1“ oder „2“ anfing, auf 254 oder 255 Seiten. Zum Schutz vor Abnutzung waren die Scharteken mit einer Klarsichtfolie mit dem Markennamen Supronyl überzogen; dennoch gingen sie in der Regel nach der zehnten Ausleihe aus dem Leim. Die Leibüchereien, die diesen Masen-Lesemarkt bedienten, darf man sich nicht wie die heutigen öffentlichen Stadtbibliotheken vorstellen: meist waren es armselige Buden ohne reguläres Sortiment, die für eine Ausleihgebühr von 25 oder 30 Pfennig das Bedürfnis nach Zerstreuung bedienten. Anfang der 50 Jahre, auf dem Höhepunkt dieses längst vergessenen Markts, gab es in der alten Bundesrepublik gut 28.000 davon. Die Auflagenhöhe der einzelnen Titel betrug zumeist 2000 Exemplare, und ihr Ladenpreis lag bei 6,80 Mark. Das übliche Autorenhonorar belief sich dabei auf 400 DM.

Viele der Titel, die W. D. Rohr für diesen Markt verfaßte, waren in der nahen Zukunft angesiedelte Kriminalromane, die unter dem Pseudonym Allen Reed erschienen – aber auch eine Serie um den Raumfahrtpionier Sugar Pearson mit dem Obertitel „Der Flug zu den Planeten,“ die von 1953 bis 1955 im Verlag C. C. Dörner in Düsseldorf herauskam und deren Titel schon deutlich machen, daß hier systematisch die Lokalitäten des Sonnensystems abgehakt wurden: „In den Geisterstädten des Merkur,“ „Signale vom Mars,“ „Hölle Venus,“ „Die Ungeheuer des Jupiter,“ „Auf den Monden des Saturn,“ „Uranus schweigt,“ „Neptun, Stern der blauen Zwerge“ und zum Schluß „Das weiße Rätsel Pluto.“



Der Klappentext von „Uranus schweigt“ dürfte klar machen, daß es sich dabei um völlig zurecht vergessene Artefakte handelt:

Mit großer Erbitterung erfährt Dr. Albertus, dass Chester Torre von der "New World" eine Hilfsexpedition zum Uranus ausrüstet, obwohl die Expedition des Dr. Philips bereits seit 8 Monaten überfällig ist. Das Unternehmen erscheint aussichtslos. Als aber die Annäherung von riesigen Weltraumschiffen, die vom Uranus gestartet sind, übereinstimmend von allen Observatorien gemeldet wird, zögert auch Albertus nicht mehr länger. Eine Begegnung im Weltraum zwischen den zwölf mächtigen Uranusschiffen und dem Weltraumschiff von Canada Field verläuft friedlich.

Albertus setzt den Flug zum Uranus fort, landet und kommt erst dort zu der furchtbaren Erkenntnis, dass der wahnwitzige Geist eines Menschen, der mit der ersten Expedition auf dem Uranus gelandet ist, die überlegene Technik der ausgestorbenen Uranus-Bevölkerung dazu benutzt, Herr der Erde zu werden. Eine entsetzliche Macht in den Händen eines einzelnen, von einer grausigen Idee besessenen Hirns zerstört ganz Afrika und halb Europa. Wird es gelingen, die Roboter des menschlich unmenschlichen Uranus-Beherrschers aufzuhalten? Es scheint alles verloren . . . !


Rainer Eisfeld hat 1982 seinen Nachruf auf W. R. Rohr unter ein Zitat aus dessen letztem Interview gestellt: „…und der Ring des Saturn kann niemanden mehr erschüttern“ (Heyne Science Fiction Magazin, Heyne SF & Fantasy 3888, Juni 1982). Nur hat eben der Ring des Saturn noch nie hingereicht, um beim Leser jene Frisson auszulösen, die als „Sense of Wonder“ bezeichnet wird. Und die holzschnittartigen Pappkameraden und schlichten Konflikte, die Rohrs Texte ausmachen, tun ein übriges, um dem Leser jedes Staunen gründlich auszutreiben.

VII.

Ein durchaus ähnlich gelagertes Problem ergibt sich bei dem vorerst letzten (und umfangreichsten) Projekt, die anstehende Erkundung und Besiedlung des Sonnensystems durch irdische Pioniere peu à peu zu protokollieren: in den 20 Romanen, denen der amerikanische Autor Ben Bova die letzten drei Jahrzehnte seiner Autorenkarriere gewidmet hat und die unter dem Sammeltitle der „Grand Tour“ bekannt sind. Bova, 1932 geboren und Ende 2020 an (oder mit?) Corona gestorben, Bova, der zunächst als Wissenschaftsjournalist und in den PR-Abteilungen einiger Raumfahrtunternehmen tätig war, begann seine Laufbahn als SF-Autor Anfang der 1960er Jahre mit einigen Jugendbüchern und übernahm nach dem Tod von John W. Campbell, Jr. die Herausgabe von „Analog Science Fiction – Science Fact“ (dem 1960 umbenannten „Astounding Science Fiction,“ bei dem es ihm gelang, das Magazin von der Spielwiese esoterischer Verstiegenheiten, die Campbell gepflegt hattte, seit ihm L. Ron Hubbard 20 Jahre zuvor auf seine „Scientology“ angefixt hatte, zum führenden SF-Magazin der englischsprachigen Welt zu machen. Zu den Autoren, die er entdeckte und förderte, zählten unter anderem Joe Haldeman (die Erzählungen, aus denen „The Last War“ hervorging, erschienen zwischen 1972 und 1975 in „Analog“) und George R.R.Martin (auch wenn man heute gerne übersieht, daß der Schöpfer von „Game of Thrones“ einmal als waschechter SF-Autor begonnen hat, ehe er sich in der Mitte der 90er Jahre nach einem Zwischenspiel als Drehbuchautor als Fantasy-Doyen neu erfand).



Nach einigen ziemlich glücklosen Ausflügen aufs Gebiet der „historischen Fantasy“ mit den vier Romanen der „Orion“-Serie (New Yorker Geschäftsmann entpuppt sich als Reinkarnation einer jener Unsterblichen, die den alten Griechen die Vorbilder für ihre Götterwelt geliefert haben) begann Bovas „Wiedereinstieg“ ins SF-Genre mit dem ersten Band der „Grand Tour“ mit der Schilderung des ersten bemannten Flugs zum roten Planeten. „Mars“ gehörte 1992 zu den ersten Romanen einer ganzen Reihe solcher Veröffentlichungen, die die Vorgabe von US-Präsident George W. Bush aufgriffen, der im Juli 1989, zum 20. Jahrestag der Mondlandung der NASA die Aufgabe gestellt hatte, bis zum Goldenen Jubiläum, 2019, eine Mannschaft auf dem Mars landen zu lassen (die NASA hat das Programm dann sieben Jahre später, 1996, als zu teuer und technisch nicht umsetzbar, beerdigt). Ebenfalls 1992, im 500. Jahr der Entdeckung der Neuen Welt durch Christoph Kolumbus, erschienen Jack Williamsons „Beachhead“ und der erste Band von Kim Stanley Robinsons „Mars“-Trilogie, „Red Mars,“ und in den folgenden Jahren hatte man den Eindruck, daß jeder SF-Autor, der etwas auf sich hielt, einen Roman zu diesem Thema herausgebracht hat. (Im Genre war das Motiv nach der Landung der Viking-Sonden 1976 ziemlich außer Mode gekommen.)

Die Bände der „Grand Tour“ spielen in einem Zeitraum von etwa der Mitte des 21. Jahrhunderts bis zum Ende des 22. Jahrhunderts, und widmen sich jeweils der Erkundung und den ersten Kolonien auf den verschiedenen Reisezielen des Sonnensystems – von der Erschließung des Monds als Rohstofflieferant über Flüge zu Mars, Venus und Merkur und schließlich den äußeren Planeten. Nicht wenige konzentrieren sich auf die Entwicklung revolutionär neuer Technologien und die politischen Grabenkämpfe zu ihrer Finanzierung in der Löwengrube Washington.

Was im Einzelnen wie ein durchaus vielversprechender Ansatz klingt, erweist sich in der Gesamtschau leider als wenig ansprechend. Zu sehr sind die Bände nach einem Strickmuster angelegt, daß sich an Fernsehserien wie „Dallas“ zu orientieren scheint, zu oft bilden Generationenkonflikte das einzige Motiv, das die „Eroberung des Alls“ vorantreibt (ein Problem, das schon John Wyndhams viel bescheideneres Projekt „The Outward Urge“ aus dem Jahr 1959 ungenießbar gemacht hat). Zu oft hat man als Leser den Eindruck, dieselben 400 Seiten schon ein halbes Dutzend Mal, nur vor anderer Kulisse gelesen zu haben: aus der Art geschlagener Milliardärssohn will sich vor seinem Vater beweisen, rüstet eine Expedition zur Venus aus und entdeckt Leben in ihren oberen Wolkenschichten („Venus,“ 2000), Milliardärssohn organisiert den ersten Flug zum Merkur, um sich zu beweisen, und entdeckt Leben in den Höhlen des innersten Planeten („Mercury,“ 2005), um das bedrohte Raumfahrtprogramm zu retten, organisiert die NASA einen bemannten Flug zum Mars, wo Leben entdeckt wird („Mars,“ 1992; in der Fortsetzung „Mars Life“ von 2008 sichert dasselbe Team die Finanzierung des mittlerweile eingerichteten Stützpunkts durch die Entdeckung, daß es auf dem Mars in ferner Vergangenheit einmal intelligentes Leben gegeben hat). Um die Unterhaltung der um Jupiter kreisenden Forschungsstation zu retten, unternimmt ein waghalsiger Ingenieur gegen alle Vorschriften einen Abstieg in die Atmosphäre des Jupiters und entdeckt dort Leben („Jupiter,“ 2001), oder zur Rettung der Saturnstation in die Wolken des Saturn („Saturn,“ 2003) – und entdeckt dort Leben.

Die andere Schiene stellen Konkurrenzkämpfe um die Ausbeutung nutzbarer Ressourcen im All zwischen Großkonzernen dar, die bürgerkriegsähnliche Ausmaße annehmen, mit gesprengten Stationen und Raumschiffen – auf dem Mond („Moonrise,“ 1996 und „Moonwar,“ 1998) sowie im Asteroidengürtel („The Precipice,“ 2001, „The Rock Rats,“ 2002, „The Silent War.“ „The Aftermath,“ 2007).

Hinzu kommen einige, sagen wir, höchst originelle Ideen in Sachen der irdischen Politik, die als Gegenspieler der Pioniere im All ihre dunklen Machenschaften betreibt. Der amerikanische Präsident, der im Zuge der „New Morality“-Bewegung ins Amt gewählt worden ist, wird im Roman „Titan“ (2006) nachgerade zum Wiedergänger Stalins stilisiert, der die intellektuelle und technische Elite der USA ausschaltet, um seine Macht zu sichern. Der GULag des neuen Väterchens besteht darin, 10,000 dieser „Intellektuellen“ mit einem gewaltigen Raumschiff auf die Reise zum Saturn zu schicken und seine Ringe und Monde zu erforschen. (Was sie auf dem größten Mond des Sonnensystems, dem einzigen mit einer substantiellen Atmosphäre entdecken, soll an dieser Stelle nicht verraten werden.)

Aber selbst Bova hat den Uranus bei seinem Ausmalen-nach-Zahlen des Sonnensystems bis zuletzt außen vor gelassen. Erst nach der späten Ausweitung des Fokus der Serie in den vier Bänden der „Star Quest-Trilogie“ (2015-2019) – wo auf einmal der Kontakt mit fernen Zivilisationen, Flüge mit Überlichtgeschwindigkeit und Bedrohung der Menschheit aus dem Zentrum der Milchstraße all die Grundlagen, nach denen der Zyklus bis dahin angelegt war, fröhlich über den Haufen werfen – hat er ihn im vorletzten Band, „Uranus“ (erschienen bei Tor Books im Juli 2020) zum Zentrum des Geschehens gemacht. Wie oben im Fall von W. D. Rohr erlaube ich mir, den Klappentext des Buchs zu zitieren:

An Bord einer privat finanzierten Station, die den Planeten Uranus umkreist, trifft politischer Idealismus auf nüchterne – und illegale – Finanzierung. Als noch ein Wissenschaftler dort eintrifft, der mit einer Sonde in den Tiefen der Meere des Uranus nach Zeichen von Leben suchen will, kommt es zum Kampf der drei Fraktionen um die Macht.

Für Menschen ist kein Leben auf den Gasriesen möglich, sondern nur in der Umlaufbahn. Kyle Umber, ein religiös motivierter Idealist, hat die Station Haven errichtet, einen Zufluchtsort beim fernen Planeten Uranus. Er lädt „die Ermüdeten, die Kranken, die Armen“ der Erde in sein Refugium im Orbit ein, wo sie Frieden und geistige Geborgenheit finden können.

Aber der Milliardär, der den Bau von Haven finanziert hat, hat seine eigenen Pläne. Dort, wo die Gesetze des inneren Sonnensystems nicht mehr gelten, könnte Haven das Zentrum eines Netzes von interplanetarem Drogenhandel, Prostitution und sogar Menschenjagd werden.

Unterdessen hat ein Wissenschaftler von den Regierungen des inneren Sonnensystems Mittel erhalten, um mit Hilfe von Sonden in den Tiefen des „Ozeane“ des Uranus nach Leben zu suchen. Sein Besuch bedeutet Geld und Prestige für Haven – aber auch die Aufmerksamkeit der Medien und die Kontrolle der Regierungen. Und das zweite ist höchst unerwünscht.


Der Kleine Zyniker befürchtet zwar, daß die Geschäftsidee, „Nutten & Koks“ bei einen Anreiseweg von mehreren Milliarden Kilometern anzubieten, ähnlich erfolgversprechend ist, wie eine Hafenstraße am Südpol einzurichten (für das Modell „Zauberberg“ dürfte dasselbe gelten). Aber habe ich schon erwähnt, daß einen bei der Lektüre dieser Bücher mitunter ein leichtes Déjà Vu beschleicht?



VIII.

Die Namensgebung des „ersten neuen Planeten“ durch Herschels Zunftgenossen Bode hat in den nächsten zweihundert Jahren im englischen Sprachbereich bei jeder nachfolgenden Schülergeneration für nachhaltiges Amüsemang gesorgt – jedenfalls solange Kenntnisse der Naturwissenschaften noch auf dem angesagten Lehrplan standen. Der im Deutschen unverfängliche Name des Urvaters der Titanen, des ersten Göttergeschlechts klingt in den englischen Aussprache, (YOU-rə-nos oder You-RAIN-os; beide Varianten sind zulässig, wenn auch meist der ersten der Vorzug gegeben wird), klingt zu verdächtig nach „your anus“ (das deutsche Pendant war zu Zeiten, als das humanistische Bildungsgut noch zum Standard der Gymnasien zählte, der Name des altgriechischen Dichters Archilochos, aus dem 7. vorchristlichen Jahrhundert). Auch in manchen Kommentaren, die in der vergangenen Woche zur Aufnahme des JWST zu lesen waren, findet sich das noch („wie kann man einen Planeten nur so benennen?“). Im SF-Genre haben dem zotigen Wortspiel Howard Waldrop, Steven Utley und George Proctor Tribut gezollt, als sie im der Januarausgabe 1975 des Herrenmagazins „Adam“ ihre gemeinsam verfaßte Story „Up Uranus“ unter dem Nom de plume Franklin Dennis Wyatt veröffentlichten.





(Robert Gernhardt, aus "Wörtersee," 1982)

Um auf das eingangs erwähnte Buch „Sitara und Der Weg dorthin“ zurückzukommen: in diesem Fall kann man den Göttern (ob nun den Titanen oder den Bewohnern des Olymp, die sie besiegten) nur dankbar sein, daß der Eremit von Bargfeld nicht über diesen Kalauer gestolpert ist, als er das Oeuvre Karl Mays nach der Vorgabe der Symboldeutung durch Vater Freud auslegte und dort Schritt auf Tritt auf homoerotische Aufladungen stieß. Schmidts These, mit geradezu obsessiver Verve vorgetragen, war, daß May nicht nur homosexuell gewesen sei, sondern dies verdrängt habe und sich diese Neigung zwanghaft (wenn auch vom Zensor des „Überichs“ camoufliert) im seinen Büchern Bahn gebrochen habe. – die Betonung des ewigen „Reitens“ als Geschlechtsverkehr, die Deutung aller Schießgewehre als Phallussymbole und die für May so typischen Schluchten, Hohlwege und feuchten Niederungen als Verlarvungen des menschlichen Gesäßes – besonders in der Darstellung des „anderen Sterns“ Ardistan in Mays Spätwerk „Im Reiche des silbernen Löwen“ und „Ardistan und Dschinnsitan.“ May hat diese beiden mystisch-religiös aufgeladenen Romane verfaßt, nachdem seine unrühmliche Vergangenheit als Betrüger und Hochstapler, der deswegen vier Jahre im Zuchthaus eingesessen hatte, bekannt geworden war und seine Selbstinszenierung als „Ich – Old Shatterhand“ für erhebliche Kritik gesorgt hatte. Mit den beiden Büchern wollte May zeigen, daß er mehr als nur ein schlichter Verfasser von Abenteuerstoffen war.

Eins der Vorbilder für den „anderen Stern“ Sitara, auf dem „Ardistan und Dschinnistan“ spielt, ist die aufs Symbolische reduzierte Landschaft in John Bunyans „The Pilgrim’s Progress.“ Aber während Bunyans Pilger die Versuchungen und den Erlösungsweg der einzelnen menschlichen Seele durchläuft, stehen die Völker und Städte Sitaras bei May bei die gesamte kulturelle (und moralische) Entwicklung der Menschheit, zwischen deren zerstrittenen Fraktionen Kara Ben Nemsi als Alter Ego seines Autors Frieden stiften und das gefährdete Land wieder zum Aufblühen bringen muß. Die symbolische Staffage gestattet es May auch, seine Feinde und Kritiker als dämonische Feinde von Ordnung, Frieden und Erlösung auftreten zu lassen (ein gewisser Dante Alighieri hat dieses Verfahren schon einige Jahrhunderte vorher im ersten Teil der „Divina Commedia“ verwendet). Im ersten Kapitel seiner Autobiographie „Mein Leben und Streben“ schreibt May dazu:

Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet eben 'Stern'.

Dieser Stern hat mit unserer Erde viel, sehr viel gemein. Sein Durchmesser ist 1700 Meilen und sein Aequator 5400 Meilen lang. Er dreht sich um sich selbst und zugleich auch um die Sonne. Die Bewegung um sich selbst dauert genau einen Tag, die Bewegung um die Sonne ebenso genau ein Jahr, keine Sekunde mehr oder weniger. Seine Oberfläche besteht zu einem Teile aus Land und zu zwei Teilen aus Wasser. Aber während man auf der Erde bekanntlich fünf Erd- oder Weltteile zählt, ist das Festland von Sitara in anderer, viel einfacherer Weise gegliedert. Es hängt zusammen. Es bildet nicht mehrere Kontinente, sondern nur einen einzigen, der in ein sehr tiefgelegenes, sümpfereiches Niederland und ein der Sonne kühn entgegenstrebendes Hochland zerfällt, welche beide durch einen schmäleren, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden sind. Das Tiefland ist eben, ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub [...] Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches, unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen [...]. Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der Edelmenschen.


Nicht nur bei Mays Erblaßverwaltern und Fans, sondern auch bei der übrigen Kritik hat Schmidts Befund, bei Sitara handele es sich „um eine Welt, aus Hintern erbaut“ (zitiert nach der Bargfelder Werkausgabe, Werkgruppe III: Essays und Biographisches, Band 3, S. 95), um „eine Versetzung des menschlichen Hinterns unter die Gestirne“ (ebd., S. 26), nicht eben auf Gegenliebe gestoßen. Nachdem sich herumgesprochen haben dürfte, daß die Grundlagen der Freudschen Thesen über das Funktionieren der menschlichen Psyche und der menschlichen Sexualität nichts mit der biologischen Wirklichkeit von Genus Homo zu tun haben, darf an dem beipflichten. Frappant ist allerdings, wie paßgenau Freuds Parteigänger in solchen Werkdeutungen noch die kleinsten Details ins Gerüst ihrer Hypothesen einzufügen wissen – auch wenn das meiste davon auf reiner Symbolik, zufälliger Ähnlichkeit und Ad-Hoc-Hypothesenbildung beruht. Ironisch wird es, wenn Schmidt die anhaltende Popularität von Mays Büchern auf den Erfolg der „schwulen Dauerberieselung“ zurückführt, weil ja die „okkasionelle Invertiertheit bekanntlich bei jedem Menschen“ vorhanden ist (ebd. S. 422). Ironisch, weil genau diejenigen, die nicht genug mit Regenbogenfähnchen, Pride-Paraden, Inklusion, Gender, Tolleranz, LGBTQXYZ+ eine solche Dauerbeschallung in nicht zu überbietender Penetranz veranstalten, auch diejenigen sind, die Old Shatterhands „roten Gentleman“ Winnetou (lt. Schmidt ein „Penide,“ ein Gestalt gewordener Penis) unbedingt canceln und in Bann und Acht stellen möchten..(„Winnetou und ich,“ Zettels Raum vom 30. August 2022)

Der kleine Literaturhistoriker neigt seinerseits zu der Vermutung, daß Schmidts besessene Exegese eine direkte Folger seiner nachgeholten Lektüre der Schriften von Sigmund Freud darstellt. („Er will beweisen, wie ein verklemmter Schwuler sich selbst und seine Leser weidlich verarscht. Die Penetranz der vierhundertseitigen „Sitara“-Exegese analer Landschaften und eindringlicher Metaphern fällt auf Schmidt zurück: Hier hat einer in der Tat, oder besser in Wort und Schrift, schreckliche Probleme mit seiner Homosexualität, aber das ist nicht unbedingt Karl May,“ schreibt Rüdiger Schaper in seiner Biographie von Karl May 2011.) Schmidts erste Beschäftigung mit Freud geschah aus Anlaß eines Porträts zum 50. Todestag („Sächsischer Janus“), das Ende Januar 1962 entstand, und die erste Erwähnung („ich blättere im Freud“) findet sich in Schmidts Tagebuch unter dem Datum vom 23. Dezember 1961. Schmidt dürfte dadurch zu der Überzeugung gekommen sein, daß seine eigene Begeisterung für Winnetou & Co. (die er dann in Arbeiten wie „Sitara“ und „Vom vorletzten Großmystiker“ zu „verarbeiten“ suchte) auf eine eigene tiefe homosexuelle Orientierung zurückzuführen sein müßte, von der er in sich allerdings nicht die Spur entdecken konnte. Daß seine männlichen Gestalten – außer dem stets präsenten Ich-Erzähler als Arno Supermann – durchweg mit tiefer Ablehnung bis hin zu körperlichem Abscheu gezeichnet werden (anders als die angehimmelten Gestalten der im Lauf der Jahre immer jünger werden Frauen) dürfte Schmidt als eine Verlarvung ganz im Sinne Freuds gesehen haben, weil nach der Psychoanalyse das Ich-Bewußtsein den Kern des sexuellen Begehrens auf keinen Fall erkennen darf.

IX.

Nicht „wirklich hilfreich“ ist es in diesem Zusammenhang auch, daß der erste „Urvater der Schwulenbewegung“ in Deutschland, Karl Heinrich Ulrichs (1825 bis 1895), der sich für eine Anerkennung und Entkriminalisierung der Homosexualität einsetzte, für diese Orientierung die Bezeichnung „Uranismus“ wählte (der Ausdruck Homosexualität“ ist erst 5 Jahre später gegrägt) – um die bisherigen negativ besetzten Bezeichungen wie Sodomie oder Päderastie zu vermeiden. Uranus wurde in diesem Fall (Arno S. hätte hier „Phall“ geschrieben) zum Namenspatron, weil eine der beiden Erscheinungsformen seiner Tochter Aphrodite, der Liebe, seinem Körper entsprungen ist (wie Pallas Athene der Stirn der Zeus) – oder aus einem anderen Körperteil entstanden ist – unter Umgehung des weiblichen Prinzips und von daher „reiner.“ So erklärt es zumindest Platon in seinem „Gastmahl“:

„Die eine ist die ältere und mutterlose, die Tochter des Uranos, die wir dann auch die himmlische nennen, die jüngere aber ist die Tochter des Zeus und der Dione, die wir die Allerweltsgöttin (die gemeine) nennen. (…) Der Eros der gemeinen Aphrodite ist also auch in Wahrheit gemein und bewirkt, was sich eben trifft. (…) Der andere dagegen stammt von der himmlischen Göttin, die erstens nicht teilhat am Weiblichen, sondern allein am Männlichen - und von ihr stammt dann auch die Knabenliebe -, und die ferner die ältere ist und von jeder Zügellosigkeit frei. Daher wenden sich dann die von diesem Eros Angehauchten dem Männlichen zu, weil sie lieben, was von Natur aus stärker und vernünftiger ist.“


Der frühen Schwulenbewegung (die sich noch längst nicht so bezeichnete) legte stets größten Wert darauf, daß es bei ihr um „rein geistige Werte“, um eine höhere Form eines sublimierten, keineswegs ausgelebten Begehrens gehen würde, um eine Art übersteigerter Kameradschaft; nicht um das handfeste Ausleben des Trieblebens. Das hielt sich noch bis zur Gründung des „Wandervogels“ kurz vor der Jahrhundertwende und bis zum George-Kreis in Wahnmoching (wie Franziska von Reventlov den Münchner Stadtteil Schwabing taufte) und änderte sich erst in den zwanziger Jahren, als Magnus Hirschfeld zum Bannerträger wurde. Das allgemeine Publikum ließ sich von der Camouflage weniger irreführen, wie der Eulenburg-Skandal zeigte, den Maximilian Harden im November 1906 in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ lostrat.

Es ist dieser blinde Fleck – ob nun aus Idealismus, aus tatsächlicher Naivität oder bewußter Verharmlosung – der einigen Bereichen der Schwulenbewegung und ihrer Vertreter bei skeptischen Beobachtern das Stigma eingebracht hat, sich hier gegenüber der Gefahr des Mißbrauchs und der sexuellen Gewalt blind zu stellen. Und man muß kein Prophet sein, um vorherzusagen, daß das gleiche Stigma der Gender- und Transbewegung ins Haus steht, die alles tut, um im Namen eines „Werbens für Toleranz“ Heranwachsende in ihrer unsichersten, gefährdesten Phase an ihrer eigenen geschlechtlichen Identität zu versichern.

X.

Die “Uraniden” hingegen, die Hans Dominiks Roman aus dem Jahr 1927, “Das Erbe der Uraniden“ den Titel geben, haben nichts mit dem siebten Planeten des Sonnensystems zu schaffen – es sind tatsächlich Besucher von weit außerhalb; die einzigen Außerirdischen, die im Dominiks Büchern einen Auftritt haben. Wobei sie nicht wirklich auftreten – der Roman handelt vom Wettlauf der irdischen Großmächte um einen Raumflug zur Venus, um die Technik der Besucher zu bergen, deren Raumschiff dort havariert ist und deren Notsignale auf der Erde empfangen und entschlüssselt worden sind.

Die Wesen da oben, ich bezeichne sie als Menschen wie wir, sind nicht etwa Bewohner der Venus . . . es sind Menschen, die aus einem anderen Sonnensystem dorthin gekommen sind. Verstehen Sie wohl, nicht von einem anderen unserer Planeten, sondern von einem Planeten eines anderen Sonnensystems.

Denken Sie an unsere jetzigen ersten Versuche, in die Sternenwelt zu fahren. Zum Mond . . . zur Venus . . . zum Mars. Fahrten, die nach Lichtsekunden, nach Lichtminuten rechneten . . . Und jene . . . viele Lichtjahre weit ihre Fahrt! Uraniden! . . . Menschen, die unter anderem Himmel gewohnt haben. Solche Fahrt ein Ziel, das für uns noch in grauer Ferne liegt. (Kapitel 6)


Der E(wige) P(edant) muß sich an dieser Stelle prompt wieder zu Wort melden, denn am Eingang dieses Kapitels, als die ersten Radiosignale empfangen werden, heißt es bei Dominik:

Shelby, der Assistent des Professor Moore, trat in den Observationsraum der Greenwicher Helikopterenwarte. Er ging zu dem Okular des Refraktors. Zu seinem Erstaunen saß Professor Moore nicht davor. Sein Auge ging suchend umher. Da . . . im dunklen Hintergrunde der Professor an der Radioempfangsstation. ... Ich empfing von Lissabon. Stellte nach Beendigung des Gesprächs unsere Londoner Welle ein. Drehte dabei in Gedanken an das gehabte Gespräch den Abstimmungsknopf sehr langsam. Da, plötzlich neuer Empfang im Apparat.

»Was ist das? Wo sind wir? Dieselben Zeichen . . . die Antenne? . . .«

Er hielt inne. Sah, wie Shelby die Antenne weiterdrehte . . . weiter, immer weiter . . . und trotzdem . . . die Töne, sie klangen fort . . . jetzt wieder Stille.

»Ah!« Shelby griff sich an den Kopf. »Eine Unordnung in der Anlage? . . . Unmöglich! Woher diese Wellen?«

Moore warf den Kopf zurück, schaute zum Himmel, streckte die Hand empor.

»Wäre alles in Ordnung, müßten sie von da oben her kommen, senkrecht! Sonst wäre es nicht möglich, daß wir sie bei jeder Stellung der Antenne vernähmen.«

Der Assistent nickte stumm. Auch sein Blick ging nach oben.

»Senkrecht?« murmelte er vor sich hin, »senkrecht? . . . Vom Zenit her? Die Sonne . . . sie neigt sich schon nach Westen . . . Im Zenit die Venus? . . . Nein, es kann nicht sein! Unmöglich! Doch ein Fehler der Anlage! Wir werden es sogleich feststellen können. Rufen wir Berlin an!«


Daß die Venus mit ihrer Bahnneigung von 3,4 Grad von Greenwich aus gesehen, bei den 52. Breitengrad, im Zenit steht, dürfte ein noch etwas größeres Wunder darstellen als ein Anruf von E.T. von dort, egal ob sie sich nach Westen neigt oder nicht..

Bei Dominiks Berufskollegen Heinrich Hauser (1901-1955) – noch technikbegeisteter als sein Vorbild und der ersten Nachkriegsgeneration von SF-Lesern im Westen Deutschlands durch seinen Roman „Gigant Hirn“ bekannt, der 1958 aus dem Nachlaß veröffentlicht wurde, sind die Dominik’schen „Uraniden“ zu „Uraniern“ verkürzt worden. Kurz vor seinem Tod schreibt Hauser an seinen alten Freund und Schriftstellerkollegen Benno Reifenberg, er hätte endlich einen ihm angemessenen Ort entdeckt, den Steinbruch Dyckerhoff im Rhein-Main-Gebiet westlich von Flörsheim, in dem schon die Römer Kalkstein abgebaut haben: „einen ganz besonders desolaten, grauen, einsamen Ort . Wahrscheinlich wird dies einer der Landeplätze der weltraumschiffenden Uranier – an deren Existenz ich glaube, ohne Scherz – und für mich wäre es ein passender Wohnsitz, den ich ernsthaft in Erwägung ziehe.“ (Benno Reifenberg, „Erinnerung an Heinrich Hauser,“ Die Gegenwart, Nr. 9, 23. April 1955, S.9)

„Gigant Hirn“ erschien übrigens zuerst ebenfalls als SF-Leihbuch im Münchner Verlag Gebr. Weiss und fand durch den Taschenbuchnachdruck in der frühen SF-Reihe bei Goldmann weite Bereitung. Eine erste Fassung ist 1948 unter dem Titel „The Brain“ in „Amazing Stories“ erschienen, unter dem von vielen Autoren genutzten Pseudonym „Alexander Blade“ (Hauser, der zwar die Technikbegeisterung der Nazis teilte, nicht aber ihre Politik, war kurz vor dem Kireg ins amerikanische Exil gegangen). In dem Buch geht es um einen Ameisenforscher, der anhand seiner Erkenntnisse über die Abläufe in Ameisenbauten mithilft, ein Elektronengehirn zu entwickeln, das „die Kapazität von 25.000 menschlichen Hirnen“ besitzt. Als der Computer nicht nur ein Selbstbewußtsein entwickelt, sondern auch noch die üblichen Weltbeherrschungambitionen, erweisen sich die Ameisen als brauchbare Genossen, um die Maschine lahmzulegen. Es blieb Hausers einziger Ausflug ins Geiet der spekulativen Literatur – und ein merkwürdig von Heidegger’scher Skepsis angefressener Solitär unten den anderen Elogen des Autors auf die Technik wie „Die letzten Segelschiffe,“ „Ein Mann lernt fliegen“ oder „Donner überm Meer.“

Coda.

Mit dem nächsten Planeten, dem ebenfalls blauen Gasreisen Neptun, sieht es etwas besser aus als beim Uranus. Zwar kann man auch hier von einem Besucheransturm nicht Rede sein. Aber als „Grenzstein des Sonnensystems.“ Noch einmal eine beträchtliche Distanz von der Sonne entfernt, in dreißigfacher Entfernung Sonne-Erde, oder gut 4,5 Milliarden Kilometern, war er Wohnsitz der „18. Menschen“ in Olaf Stapledons „Last and First Men” (1930), der seinem Londoner Eckermann per Gedankenprojektion (und Zeitloch) die Geschichte der vor uns liegenden zwei Milliarden Jahre diktierte, während er und sein Genosssen auf das Verlöschen der Sonne warteten. Samuel Delanys „Triton“ (1976) spielt seine verschiedenen utopischen Kleingesellschafts-Entwürfen auf dem größten Mond des Neptun durch. Und Gregory Feeley, der Mitte der 1980er Jahre eine Karriere als angelegentlicher SF-Autor begann, hat gut die Hälfte seiner rund 40 Erzählungen dort angesiedelt – angefangen beim Flug des Generationenraumschiffs in „Neptune’s Reach“ (Asimov’s Science Fiction, Dezember 1986), das als Grundlage für ein Orbitalstation dienen soll, bis hin zu „The Secret Strength of Things“ (Clarkesworld, Oktober 2022), in der die Maschinenintellgenzen, die das Erbe der Menschheit angetreten haben, die Grenzwache über Triton & Co übernommen haben und „The Fortunate Isles,“ (ebenfalls in Clarkesworld, Januar 2023), in der diese Maschinenintelligenzen in der Atmosphäre des Neptun eine Transzendenz, einen Punkt Omega im Sonne Teilhard de Chardins erreichen. Neptun ist auch der Schauplatz des letzten Romans von Ben Bova, acht Monate nach seinem Tod im August 2021 bei Tor Books erschienen. Als die Heldin des Buchs mitsamt ihrem Sidekick auf der Suche nach ihrem verschollenen Vater einen Tauchgang in den Ozean des Planeten unternimmt, entdecken sie … nein. NICHT „Spuren von Leben.“ Sondern das Wrack eines außerirdischen Raumschiffs, Hinterlassenschaft von Uraniden nicht vom Uranus. Ideen muß man als Autor halt haben.





U.E.

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