Oder: „Schi Tschin Ping und sein Wolkenklipper im Land der Großen Ebenen“
Back at base, bugs in the software
Flash the message: “Something's out there!”
Floating in the summer sky
Ninety-nine red balloons go by
Panic bells: it's Red Alert!
There's something here from somewhere else!
The war machine, it springs to life
Opens up one eager eye
Focusing it on the sky
As ninety-nine red balloons go by
Neunundneunzig Düsenflieger
Jeder war ein großer Krieger
Hielten sich für Captain Kirk
Das gab ein großes Feuerwerk!
Dabei schoss man am Horizont
Auf neunundneunzig Luftballons
99 knights of the air
Ride high-tech fighters everywhere
Everyone's a superhero
Everyone's a Captain Kirk
With orders to identify
To clarify and classify
Scrambling up the summer sky
99 red balloons go by…
Neunundneunzig Kriegsminister,
Streichholz und Benzinkanister -
Hielten sich für schlaue Leute
Witterten schon fette Beute
Riefen „Krieg!“ und wollten Macht
Mann, wer hätte das gedacht?
Daß es einmal so weit kommt
Wegen neunundneunzig Luftballons
Ninety-nine decisions treat
Ninety-nine ministers meet
To worry, worry, super-scurry:
“Call out the troops now in a hurry
“This is what we've waited for
“This is it, boys, this is war!”
The President is on the line
As ninety-nine red balloons go by…
I.
Als Leser, der nicht ganz unvertraut ist mit den Ecken des Genres, in denen der Staub seit über 100 Jahren nicht mehr aufgewirbelt worden ist, fragt man sich beim Verfolgen der Tagesaktualitäten mitunter: was ist hier los? Woran erinnert mich das sofort? An dies nämlich:
Ja, da kam es heran, etwas Seltsames, offenbar Langgestrecktes. Es ließ sich noch nicht deutlich erkennen, aber es war zweifellos, daß es sich auf den Ballon zubewegte.
"Die fahren direkt gegen den Wind," schrie jetzt der jüngere der Herren. "Das geht ja nicht mit rechten Dingen zu! Das hat etwas Besonderes zu bedeuten!"
"Ein lenkbares Luftschiff," antwortete der ältere der Luftschiffer, "ein Fahrzeug, Ich sehe es ganz deutlich. Jetzt kommt es zwischen den Wolken hervor, es hält noch immer die Richtung auf uns ein. Wahrhaftig, das ist zum mindestens sonderbar."
Die beiden Männer starrten sich an, dann warfen sie einen Blick auf die Instrumente, welche die Höhe anzeigten.
"Fünftausend Meter," sprach der ältere Herr. "Ein lenkbares Luftfahrzeug in dieser Höhe, das ist unmöglich! Die beiden Fahrzeuge, welche sich in Paris befinden, können, können gewiß nicht in solche Höhe hinauf und das hätte auch gar keinen Zweck. Es ist auch nicht das lenkbare Luftschiff von Santos-Dumont, auch nicht das zweite, welches der geniale Erfinder hergestellt hat, nein, die kenne ich genau, die sind auch bedeutend kleiner."
"Es muß doch eins von ihnen sein," rief der jüngere der Herren mit stockender Stimme. "Es sind die Nebel- und Wolkenmassen, welche das merkwürdige Fahrzeugt so vergrößern."
Ein riesiger Körper kam aus den weißen, wallenden Massen hervorgeschossen. Er fuhr direkt gegen den Wind, man hörte ein eigentümliches Knattern, jedenfalls waren es Maschinen, welche arbeiteten.
Die beiden Männer in der Gondel des Ballons hatten schon manchen Aufstieg mitgemacht. Sie waren oft bei Stürmen in den Lüften gewesen, sie hatten mit ihrem Ballon schwarze Wolkenmassen durchfahren, wo sie Blitze umzuckten und der Donner schrecklich krachte.
Aber noch nie hatten sie ein solches Grauen empfunden, wie jetzt bei der Annäherung des seltsamen Fahrzeuges, welches sich mit so unglaublicher Sicherheit vorwärts bewegte. Die Kraft, welche es durch den Luftozean trieb, mußte außerordentlich sein.
So beginnt das erste Heft der wilhelminischen Groschenheftserie „Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff“ mit dem Titel „Der Beherrscher der Lüfte,“ das 1908 bei der Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H. in Berlin erschien und dem bis etwa 1911 (oder 1914?) 164 weitere Hefte mit den Schilderungen der Abenteuer des Kapitän Mors folgten – abwechselnd mit Luftschiff in entlegenen irdischen Gefilden und dem von einem Antischwerkraftantrieb betriebenen „Weltenfahrzeug“ in den Weiten des Sonnensystems.
Kapitän Mors war nur einer der letzten Robin Hoods der Lüfte, die in der Unterhaltungsliteratur der (vorletzten) Jahrhundertwende hoch über allem Irdischen ihrem Tagewerk zwischen Rächer der Enterbten, Revolutionär und Bürgerschreck nachgingen und dazu ein Luftschiff benutzten. Dazu weiter unten etwas mehr. Aber daß dieser Topos am Ende des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts eine praktisch-faktische Neuauflage erfahren würde, damit dürften die wenigsten Kenner der Genre-Geschichte gerechnet haben. Zunächst aber:
II.
Die Tatsachen:
Wie mittlerweile jeder weiß (und wie es in spätestens zwei Wochen wieder aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sein wird), war „der Aufreger“ der vergangenen Woche die Sichtung eines „chinesischen Spionageballons“ über dem Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika. Bekanntgegeben wurde die Trift des Objekts am Donnerstag, dem 2. Februar, als es sich in der Nähe von Billings, der drittgrößten Stadt des westlichen Bundesstaats Montana in einer Höhe von gut 18 Kilometern befand und vom Jetstream mit gut 25 Knoten (umgerechnet etwa 46 km/h) in Richtung Westen getrieben wurde. Am Freitag bestätigte die chinesische Regierung, daß es sich um einen chinesischen Ballon handeln würde; nach den offiziellen Pressemitteilungen handelte es sich um ein „ziviles Luftschiff,“ das von einem (nicht näher bezeichneten) Privatunternehmen als Stratosphären-Wetterstation verwendet würde und nur ein wenig vom geplanten Kurs abgetrieben worden sei. Die US-Regierung teilte am selben Tag mit, unter dem Ballon befänden sich Instrumente und Antennen von „der Größe von zwei oder drei Fußballfeldern;“ man habe bislang darauf verzichtet, das Objekt abzuschießen, um durch die Trümmerstreuung zu verhindern, daß Menschen am Boden ungewollt zu Schaden kämen. Gestern, am Samstag, den 4. Februar, trieben die Höhenwinde das UFO über die Küste von South Carolina auf den Nordatlantik hinaus, wo es eine Viertelstunde später, um 14:39 Uhr Ortszeit, noch über amerikanischen Hoheitsgewässern mit einer AIM-9-Sidewinder-Luft-Luft-Rakete, die von einer F-22 Raptor abgefeuert wurde, „vom Himmel geholt.“ Es war seit der erste Abschuß, das dieses mit Stealth-Tarntechnik ausgestattete Jagdflugzeug seit seiner Indienststellung im Jahr 2005 zu verzeichnen hat. (Und ja: hier handelt es sich tatsächlich einmal um ein UFO – ein „unidentifiziertes fliegendes Objekt“ – im Sinn der ursprünglichen Definition des Kürzels, bevor es von den Kleinen Grünen Männchen entführt wurde.) Es dürfte sich um die größte Höhe handeln, aus der je ein Flugobjekt abgeschossen wurde – zumindest seit dem Abschuß einer U-2 mit dem Piloten Gary Powers über Kasachstan am 1. Mai 1960. In den westlichen Quellen finden sich keine exakten Angaben über Powers Flughöhe um 8 Uhr 53, dem Zeitpunkt, als das Aufklärungsflugzeug von einer S-75-SAM-Rakete getroffen wurde; nur die Angabe, daß die U-2 eine Gipfelflughöhe von 20 Kilometern hatte; in den russischen Quellen wird eine Flughöhe von 20.700 Metern genannt.
("...das gab ein großes Feuerwerk...")
(Projektierte Flugroute des Ballons; oben: am Santag 12:00; untern am Freitag 16:00.)
Die Trümmerstücke des Ballons und seiner Nutzlast verstreuten sich über eine Fläche von 18 km² und werden wohl zurzeit noch von der amerikanischen Marine aufgesammelt, um sie auszuwerten. Außenminister Blinken hat seinen für die nächsten Wochen geplanten Besuch in China am Donnerstag abgesagt, der zum Ziel haben sollte, die angespannten Beziehungen zwischen Washington und Beijing zu beruhigen, die zurzeit zum einen wegen des Kriegs in der Ukraine und die deshalb verhängten Sanktionen, an die China sich nicht gebunden fühlt, ziemlich frostig sind, zum anderen, weil die USA seit einiger Zeit, China wirtschaftlich und technologisch zu isolieren.
(Offizielle Pressemitteilung der amerikanischden Regierung zum ABschuß des Ballons vom Sonntagabend)
Am Freitag hat die amerikanische Regierung auch weitere Details zum bisherigen Verlauf des Ballonflugs bekanntgegeben. Demnach ist der Ballon zuerst am 28. Januar in den amerikanischen Luftraum über den Aleuten, der Inselkette, die sich wie ein schmaler Bogen zwischen der Südküste von Alaska und der sibirischen Pazifikküste erstrecken, eingedrungen, hat am 30. Januar die Northern Territories Kanadas erreicht und einen Tag später die Grenze zu Montana überquert. Anlaß zur offiziellen Sorge war vor allem, daß sich in der weitgehend unbewohnten Gebirgswelt des viertgrößten Bundestaats der USA unter anderem die Luftwaffenbasis Malstrom befindet, einer des drei Stützpunkte, auf denen amerikanische Interkontinentalraketen stationiert sind. Eine Rückberechnung der Höhenwindlagen über die davorliegenden Tage ergab, daß der Ballon durchaus an der nordchinesischen Pazifikküste gestartet worden sein könnte.
(Tweet des republikanischen Senators Ryan Zinke aus Montana vom 3. Februar)
Über den tatsächlichen Zweck eines solchen Unternehmens kann zurzeit (und wohl auch in der nächsten Zukunft) nur spekuliert werden. Zum einen ist es durchaus denkbar, daß es sich wirklich um eine Spionagemission gehandelt hat – auch wenn aus Laiensicht recht wenig dafür sprechen dürfte. Die Bildqualität von Satellitenkameras ist heute so hoch, daß die (geringfügig höhere) Bildauflösung hier keinen nennenswerten Vorteil bieten dürfte; durch Decken hindurch kann eine solche fliegende Plattform auch nicht spähen. Vor allem aber ist eine solche Mission, wie wir in der vergangenen Woche gesehen haben, schlicht nicht zu verbergen. Es war zwar nicht gerade ein Meisterstück der PR, als der Pressesprecher der amerikanischen Regierung am Freitag erklärte: „Wir werden nicht die genaue Position mitteilen. Die Leute können ja einfach nach oben gucken“ – aber es trifft den Kern der Sache ganz gut. Natürlich ist es zumindest denkbar, daß eine der Aufgaben in der Ausspionierung des WLAN-Funkverkehrs bestand (und vielleicht der Registratur von Passwörtern oder Zugangscodes oder der Ermittlung von Netzknoten – als verhinderter Thrillerautor ist man an dieser Stelle um halbgare Einfälle nicht verlegen). Wahrscheinlicher dürfte sein, daß es hauptsächlich darum ging, „ein Zeichen zu setzen“ – daß es dem chinesischen Militär möglich ist, tagelang ungestört das gebiet der USA zu überfliegen und dies nach Belieben offen vor aller Welt zu demonstrieren. (Eine ähnlich gelagerte Fragestellung kam übrigens vor 65 Jahren im Kielwasser des Starts des ersten Erdsatelliten, Sputnik 1, auf, der ja mehrfach am Tag den amerikanischen Luftraum durchquerte – ohne vorher Erlaubnis dazu eingeholt zu haben. Die Lösung, auf die die Vereinten Nationen in dieser Frage nach weidlichem Hin-und-Her 1962 verfallen sind, lautet: der Luftraum eines Staates endet oberhalb der Atmosphäre. Und da die Atmosphäre nicht wirklich inde4r Höhe der LEOS, der erdnahen Umlaufbahnen, „endet,“ sondern nur extrem verdünnt ist – weshalb die ISS ja alle paar Wochen einmal ein paar Kilometer angehoben werden muß – wurde mit der Von-Kármán-Linie in 100 Kilometern Höhe ein handfestes Eichmaß dafür gesetzt.)
Daß der Ausdruck „Luftschiff,“ das eine Lenkbarkeit impliziert, in den Meldungen auftaiuchte, verdankt sich eventuell eine unscharfen Formulierung der chinesischen offiziellen Stellungsnahmen, wie etwa dieser Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua vom 3. Februar:
Darin heißt es: 关于中国无人飞艇因不可抗力误入美国领空事,中方已核查并向美方作出反馈。
„Die chinesische Seite hat den Vorfall mit dem unbemannten Luftschiff, das aufgrund höherer Gewalt amerikanischen Luftraum verletzt hat, überprüft und die amerikanische Regierung von dem Ergebnis in Kenntnis gesetzt.“
Der verwendete Ausdruck飞艇 (fēi tǐng) bedeutet tatsächlich „Luftschiff,“ zusammen gesetzt aus 飞/fliegen und 艇, womit indertat ein Schiff, und zwar eines kleinerer Bauart, etwa ein Schlepper oder ein Kutter, gemeint ist (ein „Dickschiff“ oder Ozeanriese wäre 船/chuán). Es ist durchaus möglich, daß auch – nicht steuerbare Ballons ab einer gewissen Größe mit diesem Fachterminus bedacht werden.
III.
Und um ein solches Zeichen, eine solche „territoriale Duftmarke,“ ging es auch dem Urvater aller solcher Luftpiraten, die ich eingangs erwähnt habe: Robur dem Eroberer, Robur le Conquérant, der seine erste Wegmarkierung am 29. Juni 1886 im „Journal des Débats“ setzte, in der ersten Folge des Vorabdrucks von Jules Vernes gleichnamigen Roman. Den Auftakt bildet der Bericht über ein Duell zwischen einem Amerikaner und einem Kanadier (damals noch formell Teil Großbritanniens), bei den Niagarafällen, ob denn das Trompetengeschmetter, daß um Mitternacht des 7. Mai auf großer Höhe erklungen ist, nun „Yankee Doodle“ oder „Rule Britannia“ gewesen ist. Im Folgenden geht es Robur in erster Linie darum, zu demonstrieren, der ER der „Herr der Lüfte ist“ (daher sein selbstverliehener Titel) – und daß er sich diesen Alleinherrschaftsanspruch von niemandem streitig machen läßt. (Erst in der späten Fortsetzung, „Der Herr der Welt“ von 1904, verfällt er wie jeder anständige Bond-Schurke dem Cäsarenwahn und strebt die Weltherrschaft an.) Die Beilegung von Stammeskriegen in Afrika und die Überfliegung des Südpols scheinen ihm eher lästige Übungen zu sein, die eine solche Rolle nun einmal mit sich bringt. Die Vermutung liegt durchaus nahe: Vernes gute 80 Bände der „Voyages extraordinaires“ dienten dem erklärten Ziel, französischen Schuljungen das Weltwissen des 19. Jahrhunderts zu vermitteln, das sie, wie Erhebungen des Erziehungsministeriums ergeben hatten, nicht von der Schule mitnahmen, auch wenn seit Napoleon eine Schulpflicht bis zum 14. Lebensjahr obligatorisch war. Das ist der Grund, warum diese Bücher zur gefühlten Hälfte aus Exzerpten und endlosen Referaten über alle erdenklichen Themen unter der Sonne bestehen – Verne dürfte diese padägogische Kärrnerarbeit, der er sich zweimal im Jahr unterziehen mußte, nach mehr als zwanzig Jahren als Fron empfunden haben – der Duktus seines Werks ab Ende der 1870er Jahre läßt dergleichen vermuten.
Der kleine Pedant merkt an, daß „Robur der Eroberer“ sich überhaupt wie eine schlechte Persiflage auf sein offenkundiges Vorbild, Kapitän Nemo aus „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer,“ 1870 in Buchform erschienen, liest. Nemo ist noch eine gerundete Gestalt, zwar von zwanghaftem Hass auf die englischen Besatzer seiner indischen Heimat getrieben, aber sein Größenwahn ist noch kein pathologischer Selbstzweck, die „Nautilus“ mit ihrer Bibliothek von zwanzigtausend Bänden ist noch ein Traumort für jugendliche Leser (wie in Per Olov Enquists Roman von 1991 oder in Roland Barthes kleinem Essai „Nautilus et bateau ivre“ aus „Mythologies,“ 1957). Und die Haltung von Verne Ich-Erzähler, Professor Aronnax, ist zutiefst ambivalent: seine anfängliche grenzenlose Bewunderung für dessen Ingenium und Forscherdrang weicht erst dem Abscheu, als er Zeuge wird, wie die Nautilus vor Gibraltar ein englisches Kriegsschiff rammt und Nemo ungerührt zusieht, wie die Matrosen in den Fluten ertrinken. Und anders als Robur und Co. hat Nemo keinen Drang, Hinz und Kunz mit Hilfe seiner Flugmaschine zu entführen, um ihnen seine Erfindung und ihre Irrtümer zu erklären.
Die Flugmaschine Roburs, der Albatross (wenn auch nicht seine Person) sind der offenkundige Pate zahlreicher literarischer Wiedergänger während der nächsten zwei Jahrzehnte, die auf den Seiten der Unterhaltungsliteratur der Gebührenklasse „Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten“ ihr Unwesen treiben. Zu den (damals) bekannteren gehören etwa die Luftflotten in George Griffiths ersten beiden Thrillern, „The Angel of the Revolution: A Tale of the Coming Terror“ (1893), und seiner Fortsetzung „Olga Romanoff“ (1894) mit dem Untertiel „The Syren of the Sky“ aus dem Jahr darauf. (Die Großfürstin Romanov/ff hat infolge übermäßiger Tolstoi-Lektüre ein Don-Quijote-Syndrom entwickelt und ihre Reichtümer versetzt, um dem russischen Anarchisten des ersten Bandes die Finanzierung seiner Luftflotte zu ermöglichen, mit der er eine weltweite „Pax Aeronautica“ durch schrankenlosen Terror auf der Luft erzwingen will. Bei der nachgeholten Lektüre aus 120 Jahren Distanz stellt sich das mulmige Gefühl ein, daß Griffith mit der Haltung seines Helden durchaus sympathisiert hat.)
(Illustration von Fred T. Jane für die Buchausgabe von "The Angel of the Revolution")
IV.
Robur & Cie. bilden aber nur eine der beiden Traditionslinien der Luftikusse avant le lettre (denen dann die tatsächliche Entwicklung der Luftfahrt während des „Großen Kriegs,“ der 1914 folgte, ein literarisches Ende bereitete). Die andere bilden die wöchentlichen Abenteuer, die auf der anderen Seite des Atlantiks Frank Reade junior mit seinen Kameraden Woche für Woche durchlebte. Das Format und die Erscheinungsweise der Heftchen, in denen der bei uns völlig unbekannte Lous Senarens (1863-1939) seine jugendlichen Helden 169 Mal auf Bewährung schickte, waren das direkte Vorbild für die Groschenhefte, die zwischen den Jahren 1902 und 1904 auch auf dem deutschen Markt zu erscheinen begannen und die auch den „Luftpiraten“ auszeichneten. Reade senior hatte 1878 seinen ersten Auftritt (damals noch von Harry Enton, 1859-1927, protokolliert): In „Frank Reade and His Steam-Man of the Plains“ bastelt sich Reade einen Roboter in Menschengestalt, aber von doppelter Größer, dampfgetrieben, der jedes Pferd an Leistung um Vielfaches übertrifft und den Karren der Helden mit gefühlter Schallgeschwindigkeit in Sicherheit bringt, wenn sie wieder einmal eine blonde weiße Pionierstochter vom Marterpfahl losgeschnitten haben. Frank junior, der 1882 das Erbe seines Vaters in den Seiten des „Boy’s Own Paper“ antrat, verzichtete während seiner 179 fliegenden Abenteuer bis 1899 auf solche primitive Beförderungsmittel, ganz nach dem apokryphen Satz des deutschen Kaisers Wilhelm II, „Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung“ und setzte gleich auf das Luftschiff, um sich der lästigen Beschränkung durch die Geographie zu entledigen.
Reade Juniors Abenteuer erschienen zunächst in Fortsetzungen in 10 bis 14 Folgen in „The Boy’s Own Paper,“ und vom September 1892 bis August 1898 in den Heften der „Frank Reade Library“ (da die einzelnen Hefte einen Textumfang von 22 doppelspaltig bedruckten Seiten aufweisen, kann man sich ausmalen, wie kurz die wöchentlichen Erstveröffentlichungen ausgefallen sind). Vor einer Lektüre aus heutiger Sicht kann – wie übrigens auch beim „Luftpiraten“ nur dringend abgeraten werden: Der Schreibstil ist mehr als dürftig; die „Spannungsbögen“ aus den trivialsten Versatzstücken zusammengeschustert, die Klischees, die dort bedient werden, wirken wie eine grelle Parodie des damaligen Zeitgeistes, einschließlich des klafterstarken Rassismus, der aus jeder zweiten Seite dünstet, und die Klapparaturen, die unser Held zu Beginn jeder Folge im Hinterhof zusammenschraubt, sind ebenso primitive Varianten der Immergleichen – kein Vergleich mit den Mühen, die etwa das erklärte Vorbild Jules Verne für seine Mondkanone oder eben die „Nautilus“ aufgewendet hatte. Aber Senarens wollte ja auch nur den Schuljungs ihre wöchentlichen 5 Cent aus der Tasche ziehen und nicht den Physik- und Geographielehrer ersetzen.
Und so geht das, Woche für Woche: „Frank Reade, Jr.'s, New Electric Submarine Boat, ‘The Explorer’; or, To the North Pole Under the Ice (Nr. 17); “Frank Reade, Jr.'s New Electric Terror, the ‘Thunderer’; or, The Search for the Tartar's Captive“ (Nr. 25); “Frank Reade, Jr., and His Air Ship” (Nr. 26); “. Frank Reade, Jr.'s Chase Through the Clouds” (Nr. 41); “Frank Reade, Jr., and His Queen Clipper of the Clouds” (Nr. 44 und 45); “From Zone to Zone; or, The Wonderful Trip of Frank Reade, Jr., With His Latest Air-Ship” (Nr.69); “Frank Reade, Jr.'s Electric Air Racer; or, Around the Globe in Thirty Days” (Nr. 74); “Frank Reade, Jr., and His Flying Ice Ship; or, Driven Adrift in the Frozen Sky” (Nr. 75); “Frank Reade, Jr.'s New Electric Air-Ship the ‘Zephyr’; or, From North to South Around the Globe” (Nr. 81 und 82), “Frank Reade, Jr., and His New Electric Air-Ship, the ‘Eclipse’; or, Fighting the Chinese Pirates” (Nr. 85 und 86).
Und so fort. Immerhin dürfte hiermit klar sein, welcher Inspiration sich der Untertitel dieses Beitrags verdankt. Frank Reades Erben waren nicht Kapitän Mors und, in später Mutation, die Comic-Superhelden à la Clark Kent oder Bruce Wayne, sondern die jugendlichen Protagonisten der „Edisonaden“, wie John Clute dieses Jugendbuchgenre benannt hat: vor allem die Bücher der „Tom Swift“-Serie, von denen die ersten 40 Bände zwischen 1910 und 1941 erschienen, von denen 37 aus der Feder von Howard Garis stammten und die bis heute regelmäßig wieder einen neuen Anlauf genommen hat, wobei jedes Mal nach dem Vorbild Frank Reade eine Staffelübergabe durch die Generationen stattfand. Als achter Band der mittlerweile sechsten Inkarnation, „Tom Swift Inventors‘ Academy,“ die seit dem Juli 2019 erscheint und die von Michael Anthony Steele verfaßt wird, ist im Mai 2022 der Band „Depth Perception“ erschienen. Titel wie „The Drone Pursuit“ und „The Blurred Blogger“ legen nahe, daß der tatsächliche technische Fortschritt, der der natürliche Feind solcher Fabulationen ist, hier zumindest teilweise Einzug gehalten hat.
(Victor Appleton, Tom Swift and His Airship, 1910)
V.
Merkwürdig ist, daß das Auftauchen des chinesischen Spionageballons im Luftraum über den USA nicht nur wie ein Echo auf die Trivialliteratur aus der Zeit vor 125 Jahren wirkt – sondern auch wie eines aus der tatsächlichen historischen Wirklichkeit – oder jedenfalls der Medienberichte darüber Es wirkt nämlich wie eine Neuauflage der ersten historisch belegten Welle von „Sichtungen“ „unbekannter Flugobjekte,“ genau ein halbes Jahrhundert, bevor.mit dem Bericht von Kenneth Arnold vom 24. Juni 1947 das Zeitalter der „Fliegenden Untertassen“ begann – dem „Great Airship Mystery“ der Jahre 1896 und 1897. Damals waren noch keine scheibenförmigen Flugobjekte angesagt, sondern zigarrenförmige Luftschiffe, wie sie den Zeitgenossen aus den Stahlstichen über die Pläne und Projekte der tollkühnen Männer in ihren noch-nicht fliegenden Kisten vorschwebten. (Die vor Graf Zeppelin unternommenen Versuche, ein Fahrzeug der Klasse Leichter-als-Luft mit Lenkung und Vortrieb zu versehen, scheiterten ausnahmslos an den geringen Leistungsfähigkeiten der Antriebsmotoren. Das Zentnergewicht brachte die fragilen „Luftwürste“ der Prallluftschiffe ohne inneres Stützgerüst regelmäßig beim kleinsten seitlichen Winddruck zum Einknicken. Luftpiraten bleiben von solchen Mißhelligkeiten natürlich verschont.)
(The Arkansas Gazette, 22. April 1897)
Die erste dieser Sichtungen erfolgte am 17. November 1896 im kalifornischen Sacramento. Nach dem Bericht des „Sacramento Bee“ und des „San Francisco Call“ sah ein Augenzeuge, dessen Name mit R. L. Lowery angegeben wird, ein Licht am Himmel in einer geschätzten Höhe von 300 Metern, hinter der er einen großen schwarzen Umriß ausmachen konnte und eine Stimme hören konnte, die anscheinend einem Piloten Anweisungen gab. In den darauffolgenden zwei Wochen brachten zahlreiche Zeitungen aus der Umgebung von Sacramento und danach den angrenzenden Bundestaaten ähnlliche Berichte. Wie bei den Fliegenden Untertassen ein halbes Jahrhundert später zeichnen sich diese Berichte daraus aus, daß sie immer mehr Details aufzählen: die seltsamen und nur nachts gesichteten Fluggeräte erhalten eine Länge von 150 Fuß, einen Durchmesser von 25 Fuß, sie laden und ihre Insassen, die zunächst als normale Menschen beschrieben werden, die nur ein unverständliches Idiom sprechen, werden bald von Wesen ersetzt, die „nicht von dieser Welt stammen“ und die Anzeichen machen, die unfreiwilligen Zeugen ihres Besuchs in ihr Vehikel zu entführen – was ihre geringe Größe und körperliche Schwäche zum Glück verhindert. (Fox Mulder scheint nie auf diese Berichte gestoßen zu sein).
(The Topeka Daily Capital, 20. April 1897)
Nach einigen Wochen, etwa Mitte November, blieben neue Meldungen aus; dafür kam es dann im Frühjahr darauf, im April 1897, zu einer gehäuften Neuauflage – diesmal aus dem Bundesstaaten auf der anderen Seite der Rocky Mountains, aus Kansas und Texas. Die letzten Meldungen finden sich in den Lokalzeitungen vom 19. April und der darauffolgenden Woche. Der „Argus“ aus Table Rock, Nebraska (Bevölkerung nach dem Zensus von 1890: 673) hatte drei Tage zuvor von einer Sichtung berichtet, bei dem an Bord des Luftschiffs „zahlreiche Menschen“ gesehen worden waren, darunter eine Frau, die an einen Stuhl gefesselt war, einer weiteren Frau, die sich um sie kümmerte und einem Herrn mit einer Pistole im Anschlag, der die Gefangene offenkundig bewachte (ich habe meine Titelliste weiter oben mit einem gewissen Hintersinn aufgelistet). In den beiden letzten Berichten vom 19. April liest man aus Aurora, Texas (Bevölkerung 1890: 372) von einem Luftschiff, das beim Absturz eines jener ikonischen Windräder niedergemacht hat, ohne die der Wilde Westen kein Wilder Westen ist. Der Pilot, „der eindeutig nicht von dieser Welt stammte,“ habe nichtsdestrotz ein gutes christliches Begräbnis erhalten. Und aus Leroy, ebenfalls in Texas (Bevölkerung 1890: ein gutes Dutzend), wurde berichtet, daß der Farmer Alexander Hamilton über seiner Viehkoppel ein Luftschiff schweben sah, dessen Besatzung ein Rind mit einem Lasso eingefangen hatte und an Bord ziehen wollte. Zum Glück hatte sich der Strick im Zaun verheddert, und als der gute Farmer den Knoten mit entwirren konnte und deshalb die Bretter durchsägte, sei die Färse mitsamt Zaunbrett emporgezogen worden. Wo der Wind sie hingetragen / das vermag kein Mensch zu sagen. Oder, wie Mark Twain diese Verse 1891 nachgedichtet hat: And so he sails and sails and sail / Through banks of murky clouds, and wails.
(St. Paul Globe, 13 April 1897)
Spätestens an dieser Stelle dürfte klar sein, warum es keine nachfolgenden Berichte mehr gab – und warum diese Episode aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist, insbesondere jener, die Fox Mulder Maxime anhängen: I WANT to believe! Es handelt sich nämlich um einen i den amerikanischen Medien des neunzehnten Jahrhunderts gern gepflegten Brauch, den der „Tall tale,“ der Münchhausiade, der Lügengeschichte, der erfundenen Sensationsberichts, bei dem sich die Nachfolgenden bemühen, ihre Vorgänger noch zu übertreffen. Die erste gut belegte Episode dieser Art war der sogenannte „Great Moon Hoax“ in der New Yorker Tageszeitung „Sun,“ in der der Journalist Richard Adams Locke in sechs Folgen über die Entdeckungen berichtete, die William Herschels Sohn John bei seinen Beobachtungen des Mondes vom Kap der Guten Hoffnung aus gemacht hatte – nicht nur pflanzliches und tierisches Leben, sondern auch Städte, Straßen und Tempel, intelligente Mondbewohner, die mit Hilfe von riesigen Fledermausflügeln fliegen konnten (Robert A. Heinlein könnte sich hier vielleicht für seine Erzählung „The Menace from Earth“ aus dem Jahr 1957 bedient haben). Der angebliche Verfasser der Berichte war Herschel selber, und leider stellten sie die einzigen Beweise für seine sensationellen Entdeckungen dar, weil die Mittagssonne unglücklicherweise durchs durchs Teleskop geschienen hatte und dieses Super-Brennglas das Observatorium in Brand gesetzt hatte.
Den eigentlichen Zweck erfüllte diese Scharade: Ende August 1835 hatte sich die Druckauflage der New York Sun mit 19.000 Exemplaren mehr als verdoppelt, und die war zur auflagenstärksten Zeitung der jungen USA geworden. Spätere Ideengeschichtler, die sich mit der Geschichte des Astronomie und den Konzepten über „außerirdisches Leben“ befaßt haben, neigen dazu, Locke auch noch eine satirische Absicht zu unterstellen – vor allem, indem er die Vorstellungen des englischen Geistlichen Thomas Dick persiflierte, der in seinen Büchern die wohl notorischsten Ansichten über die Anzahl „vernunftbegabter Seelen“ auf den Welten des Sonnensystems“ verfochten hatte, die in jenen Jahren in den USA recht populär waren. Locke bezifferte die Anzahl der Bewohner des Sonnensystems aus 21 Billionen, 891 Millionen und 974 Tausend. Allein auf dem Erdtrabanten machte er 4,2 Milliarden Bewohner aus. (Kein Vergleich mit Aurora, Texas.) Zum Vergleich. Die Zahl der Erdlinge auf Sol III ist von Bevölkerungsforschern auf etwa 1,04 Milliarden geschätzt worden. Ein weiteres Ziel waren möglicherweise die Berichte des deutschen Astronomen Franz von Paul Gruithuysen, der am 10. Juli 1822 im München bei seinen Mondbeobachtungen, „als kurz nach dem letzten Viertel die Lichtgränze über den westlichen Rand des Clavius, des Mondflecken Schröters und des Newton gieng,“ einen „unsern Städten nicht unähnlichen Bau“ entdeckt hatte, „Dieses ungewöhnliche Mondgebilde fällt jedem geübten Auge, mit dem ersten Blicke sogleich, als Kunstwerk auf.“
P. T. Barnum hat in den Jahrzehnten nach Locke diese Kunst der Aufschneiderei zu seinem Markenzeichen gemacht, und aus Ben Hechts Autobiographie „One Thousand Afternoons in Chicago“ von 1922 ist nur die Anekdote im kollektiven Gedächtnis geblieben, wie er als journalistischer Jungspund, als „cub reporter“ eines Morgens die Telegraphennachricht auf den Tisch bekam, es sei in der Nacht „eine leichtes Erdbeben in Illinois“ registriert worden, woraufhin er loszog, von einer nahegelegenen Baustelle eine Schaufel organisierte und einige Stunden lang auf einem angrenzenden Baugrundstück schippte, und am nächsten Morgen im eigenen Blatt Photographien von den gewaltigen Rissen, die das „große Erdbeben von Chicago“ hinterlassen hatte, als Exklusivmeldung präsentieren konnte.
VI.
Ein kleines historisches Beiseit zum Beschuß feindlicher Ballons und außerirdischen Belangen läßt,sich - freilich in gewissermaßen umgekehrter Richtung - in den Annalen des Zweiten Weltkriegs finden. Es ist nämlich mehrmals vorgekommen, daß amerikanische Kriegsschiffe das Feuer auf Lichter am Himmel eröffnet haben, die sie für die Positionslichter von anfliegenden japanischen Flugzeugen – oder von Ballons mit Sprengstoffladungen hielten – und die sich nach erfolgloser Bekämpfung als der Planet Venus herausstellten.
Am 8. Juli 1941 eröffnete der australische Kreuzer HMAS („Her Majesty’s Armed Ship“) Sydney, der sich im östlichen Mittelmeer auf der Fahrt von Alexandria nach Malta befand, mit dem Rest der Konvois das Sperrfeuer auf einen vermeintlich in großer Höhe fliegenden deutschen oder italienischen Bomber – der sich als der Morgenstern entpuppte, der dort zur Ortszeit um 10 Minuten nach 7 Uhr morgens über den Horizont tauchte.
Am Dienstag, den 9. Dezember 1941, zwei Tage nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour, am Tag der amerikanischen Kriegserklärung auf die vorausgegangenen Kriegseintritte Japans und des Deutschen Reichs gegen die USA, wurde auf der USS Langley, dem ersten Flugzeugträger, den die amerikanische Marine in Dienst gestellt hatte, und der einen Tag zuvor von den Philippinen aus Kurs auf Balikpapan in Niederländisch-Indien genommen hatte, gegen Mittag Alarm ausgelöst. Wie der Richtschütze Lanson B. Ditto sich ein halbes Jahrhundert später erinnerte: „Wir sichteten ein Flugzeug – das war ziemlich genau zur Mittagszeit. Auf allen Schiffen wurde Gefechtsbereitschaft befohlen und wir erhielten den Befehl, das Feuer zu eröffnen. Wir konnten die Höhe des Ziels nur schätzen. Wir stellten die Zündzeit so ein, daß unsere Geschosse in der geschätzten Höhe explodierten. Wir fingen mit 5000 Fuß an, stellten fest, daß das zu niedrig war, erhöhten auf 7500 Fuß, was ebenfalls zu niedrig war und gingen auf das Maximum von 10000 Fuß. Wir bekamen bald Meldung von der Kommandobrücke – sie hatten festgestellt, daß es sich um den Planeten Venus handelte. Wir hatten also gut 300 Schuß auf die Venus abgefeuert. Ich habe vor kurzem Satellitenaufnahmen von der Venus gesehen und einige große Krater bemerkt. Wir haben also anscheinend unser Ziel getroffen.“
Und am 22. Februar 1945 schoß das amerikanische Schlachtschiff New York, das vom Atoll Ultihi in den Karolinen unterwegs nach Iwo Jima war, eine halbe Stunde lang auf eine silbrig aussehende Kugel, die für einen japanischen Ballon mit einer Sprengladung gehalten worden war, bis der wachhabende Navigationsoffizier fragte: „Why are you trying to shoot down Venus?“
Venus und Jupiter gelten nicht zu Unrecht als die Himmelskörper, die am häufigsten von unerfahrenen Beobachtern mit „unbekannten Flugobjekten“ verwechselt werden. Allerdings muß man in Fällen wie den erwähnten Nachsicht üben: auch ein Laie dürfte die beiden Planeten bei schwarzem Nachthimmel und hoch über dem Horizont für „Besucher aus einer anderen Welt“ halten. Aber in unmittelbarer Horizontnähe kann die Aberration der dichten Luftschichten dazu führen, daß diese Lichtpunkte die Farbe plötzlich ändern oder hin- und herzuspringen scheinen. Und die Venus ist neben dem Mond der einzige Himmelskörper, der auch am hellen Tage sichtbar ist (unser Zentralgestirn natürlich ausgenommen) – wenn man sie genau im Blick hat; so daß wie für unvorbereitete Beobachter wie aus dem Nichts aufzutauchen scheint. Und mitunter ist die Erklärung „Venus“ eben doch nicht zutreffend.
* * *
Fußnoten: „Im Land der Großen Ebenen“: Unser Berichterstatter hat sich hier eine kleine Freiheit erlaubt. Bei Montana handelt es sich neben Arizona, Colorado, Idaho, Nevada und Wyoming um einen der sogenannten „Mountain States,“ einen der Bundestatten, durch die die Bergkette der Rocky Mountains verläuft, nicht um die Great Plains. Ich habe mir zudem erlaubt, den Namen des Staatspräsidenten 习近平 nicht nach der üblichen Pinyin-Umschreibung wiederzugeben, sondern nach der an die Aussprache des Deutschen angepaßte Wade-Giles-Transliterierung, wie sie bei uns vor 120 Jahren üblich war.
„99 Luftballons,“ am 4. Januar 1983 (vor fast exakt 40 Jahren!) auf Nenas erstem Album herausgekommen, erreichte am 29. März 1983 die Nr. 1-Position in den deutschen Charts und löste für eine Woche lang Peter Schillings „Major Tom (völlig losgelöst)“ ab, der dort acht Wochen lang im Orbit gekreist hatte, bis es nach einer Woche seinerseits von „Bruttosozialprodukt“ von Geier Sturzflug abgelöst wurde. In den USA erhielt die deutsche Version ein Jahr darauf, am 26. März, eine Goldene Schallplatte, in England erreichte sie am 24. Februar 1984 die Nr. 1. Es war ihr einziger Welterfolg, weswegen sie seitdem außerhalb des deutschen Sprachbereichs als „One Hit Wonder“ gilt. Die englische Version mit einer Textfassung von Kevin McAlea, der auf Alben von Kate Bush und Barclay James Harvest Keyboard gespielt hatte, die im April 1984 herauskam, blieb in den USA ohne Erfolg. Ich habe mich für die Version entschieden, die die amerikanische Combo Goldfinger im Jahr 2000 für ein fünftes Album „Stomping Ground“ aufgenommen hat.
„Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff“: Der (oder die Verfasser) und die Erscheinungsmodalitäten dieser ersten deutschen Science-Fiction-Serie liegen bis heute so im Dunkeln wie Herkunft und der Reichtum des maskierten Kämpfers für die Gerechtigkeit. Nicht einmal der Erscheinungsturnus der gut 30 Seiten umfassenden, undatierten Heftchen läßt sich feststellen – wenn sie alle 14 Tage erschienen sind, würde das Erscheinen der letzten Hefte in den Sommer 1914 fallen.
Sicher ist nur, daß es sich bei dieser Reihe um die beliebteste Jugendlektüre im Bereich des zahllosen Heftserien jener Jahre handelte; bei den Ablieferungsaktionen, die an den Schulen des Deutschen Reichs in den ersten Kriegsjahren durchgeführt, um Altpapier zu sammeln und gleichzeitig die Jugend vor dem zersetzenden Einfluß der „Schundliteratur“ zu bewahren, standen die gelben Heftchen an erster Stelle. Im April 1916 wurde die Serie zusammen mit weiteren 160 weiteren im Zuge der Vereinheitlichung der bis dahin lokal erfolgten Zensurmaßnahmen verboten. Allerdings gibt der rückwärtige Umschlagtext des „Verlags für moderne Lektüre“ in Berlin, zu dem die Serie ab Heft 94 wechselte, die Erscheinungsweise mit „wöchentlich“ an:
"Der Luftpirat" erscheinen wöchentlich in abgeschlossenen Bänden zum Priese von 10 Pfg. pro Band. "Der Luftpirat" ist durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen zu beziehen, man erhält diese Bände aber auch gegen Einsendung des Betrages (Porto bezahlt der Verlag)."
Heinz J. Galle, Chronist dieser Art von serieller Trivialliteratur im Kaiserreich und der Weimarer Republik, der 2005 sechs Hefte des „Luftpiraten“ für einen nachdruck im Verlag Dieter von Reeken zusammengestellt und kommentiert hat, vermutet in seinem Nachwort, daß es bei dem Verfasser zumindest der im Weltraum spielenden Hefte um den heute ebenfalls völlig vergessenen Oskar Hofmann (1868-1928) gehandelt haben könnte. Das Raumfahrzeug, das Hoffmanns Protagonist in seinem Roman „Mac Milfords Reisen im Universum: Von der Terra zur Luna oder Unter den Seleniten,“ 1902 im Verlag A. Weller & Co. in (holt Luft) Papiermühle-Roda in Hermsdorf-Klosterlausnitz erschienen für seinen Flug zum Erdtrabanten benutzt, zeigt in der Tat frappierende Ähnlichkeiten mit dem „Weltenfahrzeug“ des Luftpiraten.
„Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung. Ich setze auf das Pferd.“ Diese Satz, der Wilhelm der II. so oft zugeschrieben worden ist, daß er mittlerweile fest mit diesem Namen verbunden ist, und der wahlweise auf das Jahr 1900, 1904 oder 1905 datiert wird, ist von ihm niemals gesagt worden – so wie auch Captain Kirk nie „Beam me up, Scotty!“ gesagt hat oder Sherlock Homes „Elementary, my dear Watson.“ Der Kaiser war durchaus von den neuen Möglichkeiten der Technik begeistert. Was er hingegen tatsächlich als „vorübergehend“ ansah, war die Sozialdemokratie, wie er bei der Feier an der Technischen Hochschule zu Berlin zum Beginn des neuen Jahrhunderts am 10. Januar 1900 erklärte: „Die Socialdemokratie halte ich für eine vorübergehende Erscheinung. Die wird sich austoben.“ (Nachzulesen ist die Rede in der „Reichspost“ vom 11. Januar 1911.) Der Kleine Zyniker vermutet, daß hier der wahre Grund dafür liegt, daß sich die immer noch nicht ausgetobten Socialdemokraten in Tateinheit mit den Grünen daran machen, dafür zu sorgen, daß das Automobil zumindest bei uns tatsächliche zu einer vorübergehenden Erscheinung werden wird.
„Gruithuisens Mondstadt“: Franz von Paulas Gruithuisens Schrift „Entdeckung vieler deutlicher Spuren der Mondbewohner, besondere eines colossalen Kunstgebäudes derselben“ wurde 1824 in Augsburg ohne Angabe des Verlages gedruckt und umfaßt 105 Seiten. Die Reaktion der astronomischen Fachwelt beschränkte sich auf Spott
Gruithuisens vorgebliche „Mondstadt“ befindet sich innerhalb des Mondkraters Schröter, ziemlich in der Mitte der sichtbaren Mondscheib, im Mare Insularum gelegen, westlich des Doppelkraters Murchison und Pallas. Der darin gelegene Krater Schröter W bildet die „Stadtgrenze“ in südlicher Richtung; bei niedrigem Sonnenstand, während des ersten und des letzten Viertels, zeichnet sich der flache Bereich nördlich davon als ein annähernd rautenförmiger Fleck ab.
„Und mitunter ist die Erklärung ‚Venus‘ eben doch nicht zutreffend“: Der berühmteste Fall einer „Verwechslung UFO/Venus“ liegt im Fall einer Sichtung durch den früheren amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter vor. Zwei Jahre, bevor er 1971 sein erstes politisches Amt als Gouverneur des Bundesstaates Georgia antrat, sollte er im Januar 1969 einen Vortrag im Lions Club des Örtchens Leary (Bevölkerung 1970: 907) in eben Georgia halten; vor dem Restaurant wurde er auf einen leuchtenden Fleck am Himmel hingewiesen, der sich in westlicher Richtung gute 30 Grad über dem Horizont befand. Nach der Beschreibung, die Carter im September 1973 auf Anfrage des International UFO Bureau in Oklahoma City geschrieben hat, hatte der leuchtende Fleck eine gut sichtbare Ausdehnung, war etwa so hell wie der Vollmond und schien sich auf die Beobachter zuzubewegen, dann zum Stillstand zu kommen und schließlich abzutreiben. Dabei wechselte er die Farbe – von weiß zu blau und schließlich rot. In seinem Bericht vermerkt Carter den Oktober 1969 als Datum; aus den Akten des örtlichen Lion’s Club geht hervor, daß ihn hier sein Gedächtnis gefoppt hat: der Vortrag fand am 6. Januar 1969 statt. Robert Schaeffer, der als überzeugter Skeptiker Jahrzehnte damit verbracht hat, herauszufinden, was hinter solchen Augenzeugenberichten „wirklich“ verborgen sein könnte, stellte Mitte der 1970er Jahre fest, daß zu diesem Zeitpunkt in Leary klarer Himmel herrschte und gegen 19:15 Uhr Ortszeit die Venus als strahlender Abendstern über dem Horizont stand. Seitdem galt dieser Fall als geklärt.
Allerdings hat Carter immer darauf bestanden, daß er sich sein Lebtag für Astronomie interessiert habe und ziemlich genau wisse, wie denn der Abendstern aussähe – auf jeden Fall nicht wie das Phänomen, das er beschrieben hätte.
So standen die Dinge bis 2016, als die Familie des ehemaligen Präsidenten einen Brief von Carl G. "Jere" Justus veröffentlichte, der im Berufsleben als Astronom für das Marshall Space Flight Center tätig gewesen war. Ich erlaube mir einmal, diesen Text in voller Länge zu übersetzen.
Nachdem ich kürzlich das Buch „Georgia Myths and Legends“ des Journalisten Don Rhodes von der Augusta Chronicle gelesen habe, speziell das Kapitel 5, „Jimmy Carter and the UFO,“ bin ich ziemlich sicher, daß ich weiß, was Präsident Carter damals gesehen hat. In den sechziger und frühen siebziger Jahren arbeitete ich mit an einem durch die Air Force beförderten Projekt, die dem die Eigenschaften der oberen Erdatmosphäre durch Freisetzung leuchtender chemischer Wolken erforscht wurde. Diese Wolken wurden durch Raketen erzeugt, die vom Raketenstartplatz der Eglin Air Force Base in Florida gestartet wurden. Manche dieser chemischen Wolken, vor allem aus Barium und Sodium, waren aufgrund der Resonanzen bei der Streuung des Sonnenlichts sichtbar. Die Wolken mußten kurz vor oder nach Sonnenauf- oder -untergang erzeugt werden. Der Grund war, daß die Wolken noch vom Sonnenlicht beschienen werden mußten, während am Boden schon Dunkelheit herrschte, um vor dem Hintergrund des dunklen Himmels ausgemacht werden zu können. In Carters offiziellem Bericht, dem Rhodes wiedergibt, erklärt er, daß er er dieses Phänomen im Oktober 1969 um 19:15 Uhr gesehen hat. Anhand der Akten des Lions Club läßt sich feststellen, daß Carter das ‚UFO‘ gesehen haben muß, als er am 6. Januar 1969 vor dem Ortsverein in Leary, Georgia sprach. Der Bericht ‚U.S. Space Science Program Report to COSPAR, 1970” (QB504.U54, Anhang 1, S. 154), dokumentiert einen Start zur Erzeugung einer Bariumwolke von der Eglin AFB (Nummer der Rakete AG7.626), die am 6. Januar 1969 um 19 Uhr 35 Eastern Standard Time (7. Januar 1969, 0 Uhr 35 UTC, Universal Time/Greenwichzeit) freigesetzt wurde. (COSPAR steht für „Committee on Space Research.“) Die Höhe dieser Wolke wird mit 152 km angegeben. Da die Entfernung zwischen Leary, Georgia und Elgin AFB, Florida etwa 234 km Luftlinie beträgt, wäre diese Wolke in einem Winkel von 33 Grad über dem Horizont sichtbar gewesen (das mit Carters Einschätzung von ‚etwa 30 Grad‘ übereinstimmt). Carters Bericht vermerkt, daß die Sterne zu sehen waren; die Nacht muß also klar gewesen sein. Ich kann auch eigener Erfahrung bestätigen, daß eine solche Bariumwolke aus der Entfernung von Leary in Georgia sichtbar gewesen wäre. Carter schreibt, das UFO ‚wäre im Westen aufgetaucht.‘ Von Leary, Georgia aus gesehen liegt die Elgin AFB in westsüdwestlicher Richtung. Somit stimmt diese Bariumwolke mit Carters ‚UFO‘ sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch in Höhe und Himmelsrichtung überein. Außerdem entspricht das Aussehen in Carters dem einer Bariumwolke in großer Höhe. In seinem Bericht heißt es das es ‚zunächst bläulich, dann rötlich, leuchtend, aber nicht von fester Gestalt‘ war. Eine elektrisch neutrale Bariumwolke würde zunächst bläulich oder grünlich leuchten, anschließend würden sich Teile davon rötlich verfärben, weil Teile des Bariums durch die Sonneneinstrahlung in dieser Höhe ionisiert werden. Die Größe und Helligkeit, die denen des Vollmonds ähnlich waren, würden auch die eine Bariumwolke in Eglin, gesehen von Leary, Georgia, gleichkommen. Carter hat erklärt, daß er nie geglaubt hat, er hätte ein außerirdisches Raumschiff gesehen, aber das eine nicht wüßte, was er genau gesehen hat. Ich wüßte gerne, ob diese Information Präsident Carter zugänglich gemacht werden kann, damit er besser versteht, was er damals gesehen hat.
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Nachtrag:
Und während ich dies schreibe, zeichnet sich bereits eine neue Volte in der Washingtoner Ballon-Scharade ab. Vorgestern wurde in den amerikanischen Medien vermeldet, daß solche Vorfälle – das Überfliegen amerikanischen Staatsgebiets – durch chinesische Ballons auch während der Amtszeit von Präsident Trump vorgekommen seien; dreimal sogar. Der Tenor war: seine Regierung habe sich nicht darum gekümmert – im Gegensatz zur amtierenden. Heute nacht um drei Uhr MEZ hieß es nun: "Biden aides say the intel community is willing to offer key Trump officials briefings on China’s surveillance program. They say details were found after Trump left office about balloons that briefly flew over the US as well areas in Europe and Asia." Und das kann im Klartext eigentlich nur heißen: das Militär war zwar darüber informiert, sah sich aber nicht veranlaßt, die Regierung darüber in Kenntnis zu setzen.
Heute nachmittag hat ein Sprecher des Pentagons nach der Untersuchung der Trümmerteile mitgeteilt, daß der, daß der Ballon eine Sprengladung zur Selbstzerstörung an Bord hatte, daß seine Nutzlast mehrere Tonnen und die Größe eines Passagierjets aufwies, bei einem Ballondurchmesser von gut 60 Metern.
Der größte Teil der Trümmerstücke ist mittlerweile geborgen worden, aber die amerikanische Regierung hat heute darauf hingewiesen, daß in den nächsten Tagen noch einzelne Trümmerstücke an Land getrieben werden können und die Bevölkerung von Myrtle Beach, South Carolina, davor gewarnt, diese zu berühren oder als Andenken mitzunehmen.
(Die Bergung der Trümmer)
U.E.
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