10. Februar 2023

John Munro, “Sonnenaufgang auf dem Mond“ (1894)



I.

Ich bin allein und sitze auf einem Felsen, aber ich weiß nicht, wo. Es ist Nacht, und der Himmel über mir wirkt seltsam. Es fehlen der strahlende Mond und die schimmernden Wolken; kein Planet leuchtet dort wie eine goldene Laterne, kein Stern funkelt wie ein lebendiges Juwel in den blauen, klaren Tiefen des Äthers.

Ich sehe nur die gewaltige schwarze Kuppel des Himmels über mir, sie wirkt fast solide und mit schwachen blauen Lichtpunkten übersäht. Es ist ein toter Himmel, und er erinnert mich an die Tiefen eines Bergwerks, in der es von Totenlichtern glüht. Ringsherum umgibt mich eine Dunkelheit, die absolut wäre, wäre da nicht das matte Glitzern des Sternenlichts auf dem weißen, gefrorenen Boden. Nirgendwo ist etwas Lebendes zu sehen, eine furchtbare Stille herrscht hier, kein Luftzug streift meine Wangen, und die Kälte ist strenger als am Pol.

Plötzlich schießt ein prächtiger Meteor über den Himmel; sein Kopf flammt grün und blau auf, und seine Leuchtspur sprüht vor Flammen. Er schien ganz in der Nähe einzuschlagen, denn ich konnte den Aufprall und das Prasseln der aufspritzenden Steintrümmer hören. Einige Zeit später folgte ein zweiter, und ich fing an, mich um meine eigene Sicherheit zu sorgen, als ein seltsamer Lichtschein in der Ferne meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein blauweißes Glühen begann sich in der Dunkelheit zu zeigen, fast wie ein Nordlicht. Zuerst war es nur schwach auszumachen, aber dann wurde es langsam heller, größer und deutlicher.



Zugleich bemerkte ich, daß es um mich herum heller wurde. Türme und Gipfel aus uraltem Granit begannen sich, vom gleichen blauen Leuchten berührt, in der Schwärze abzuzeichnen. Es war, als würde der Tag über einer Bergkette anbrechen, wäre das nicht dieser blaue Schimmer des Lichts gewesen und die anhaltende Schwärze des Himmels.

Das Leuchten in der Ferne begann die Form einer Sichel anzunehmen – aber nicht die der Mondsichel, denn sie erstreckte sich waagerecht, nicht senkrecht. Außerdem konnte ich jetzt nicht nur einen, sondern mehrere Flecken und Sicheln des blauen Glanzes ausmachen, die sich bald zu Ringen auswuchsen in der Dunkelheit zu schweben schienen wie Inseln und Riffe aus Purpur in einem uferlosen Meer aus flüssigem Pech.

­ Habe ich uferlos gesagt? Nein – das währte nur kurze Zeit. Hinter diesen Riffen konnte ich jetzt einen gekrümmten Lichtstreifen ausmachen, der sich unmerklich verbreiterte, bis er einer Wand aus hohen Klippen glich, die die Steilküste eines Kontinents bilden, den die aufgehenden Sonne bescheint, und sich in der Ferne verloren. Dazu paßten auch die langen, leuchtenden Strahlenbündel, die durch die großen Klüfte und Pässe des Felsenmassivs, auf dem ich, wie ich jetzt erkannte, saß, und ihre purpurne Lichtflut über die Dunkelheit ergossen. Anhand der Sternbilder konnte ich feststellen, daß dieses Licht aus dem Westen kam – und seine gelbe Tönung war nicht die des Sonnenauf- oder -untergangs.

Wie seltsam und bedrückend war der Anblick dieses schwarzen Meeres mit seinen Purpurinseln, begraben unter schwarzen Himmel und den ewigen Sternen! Niederdrückend – und gleichzeitig so erhebend, daß man es nicht in Worte fassen kann. Nicht einmal die Phantasie eines Doré hätte sich die Größe dieses Tals des Todes ersinnen können. Es war mir, als sähe ich hier den Leichnam einer toten Welt, aufgebahrt in der schweigenden Gruft des Universums.

Nach einer Weile zeigte sich im Osten hinter der fernen Bergkette ein goldenes Licht, und ein Himmelskörper, der dem Mond glich, aber ihn an Größe um vieles übertraf, stieg majestätisch gelassen am Himmel empor. Anders als der Mond verbreitete er jedoch keinen Glanz um sich, denn der Himmel blieb so schwarz, wie er gewesen war. Das Licht seiner Pole war von blendendem Glanz, das sich vielleicht den Eisfeldern dort verdankte – aber gegen den Äquator zu wurde es schwächer und wandelte sich von einem hellen Grün zu einem rötlichen Braunton und einem matten Blau.



Die blauen Flecken waren möglicherweise Meere, und die brauen und grünen die Kontinente mit ihren Wüsten und Wäldern – und mir schien es, als könnte ich die Umrisse der Kontinente von Amerika, Afrika und Europa ausmachen – bis hin zu den britischen Inseln.

Das Licht hatte jetzt soviel zugenommen, daß ich mich umdrehte, u zu sehen, woher es kam, und einen wundervolleren Anblick bewahrte. Im Westen erstreckte sich ein Meer aus Schwärze, durchschossen mit blauem Licht, das ich nur mit einem sturmgepeitschten Meer vergleichen kann, dessen Wellenberge in blauem Meeresleuchten aufstrahlen, und über dem fernen Horizont leuchtete ein phantastischer Meteor wie ein Komet. Seine Scheibe war von gleicher Größe wie die Sonne und von gleißender Helligkeit, aber war ein Veilchenblau, der ins Violette spielte, und ein silbrigweißer Hof umgab ihn wie das Licht der Milchstraße. Was war das für ein Gestirn, das mich an eine elektrische Bogenlampe erinnerte, wenn ihre Elektroden blau erglühen?

Ich wandte mich wieder dem Panorama zu, das meine Aufmerksamkeit zuerst gefesselt hatte, aber ich erspare mir die Schilderung der weiteren Phasen des Tagesanbruchs. Nur soviel: beim Höherstiegen dieses Sterns am Himmel nahm die Helligkeit zu, bis ein graublaues Tageslicht alle Einzelheiten der Landschaft hervorhob. Jetzt sah ich, daß dieses Meer aus Dunkelheit in Wirklichkeit eine weite graue Ebene bildete, und das die purpurglänzenden Flecken darin die Gipfel und Krater von Vulkanen waren. Die hohen Klippen dahinter waren nicht die Steilküste eines Kontinents, sondern Teil eines gewaltigen Felswand, die die Ebene wie Wall umgab. Ich entdeckte, daß ich selbst hier direkt amRand dieses immensen Abgrunds saß, und Schwindel erfaßte mich, als ich feststellte, daß diese Wand senkrecht um viele hundert Meter bis zum Boden der Ebene abfiel.



Der Gipfel, auf dem ich mich befand, war gesäumt von Felsenspitzen und großen Lücken dazwischen, die wie die Wachtürme und Schießscharten einer Felsenbastion wirkten. Er warf einen langen scharfen, tintenschwarzen Schatten auf die graue Ebene unter mir, auf der die Krater der erloschenen Vulkane, die das Licht noch nicht erreicht hatte, Tintenfässern glichen. Aber als der Meteor höher und höher emporstieg, wichen die Schatten zurück oder wurden heller. Nirgendwo war eine Spur menschlichen oder tierischen Lebens oder von Vegetation auszumachen. Anscheinend gab es hier keinen Tropfen Wasser, und der leichte Nebel, der hier und da vom Boden aufstieg, bildete die einzige Bewegung.

Obwohl es jetzt heller Tag geworden war, blieb der Himmel so dunkel wie bisher – außer in der Nähe des hellen Gestirns – oder er zeigt ein so tiefes Blau, daß es schwarz schien, und die Sterne wirkten blau, scharf und kalt.

Als ich in die Gegenrichtung schaute, bot sich mir ein noch unirdischerer Anblick – eine merkwürdige, unheimliche Wildnis aus scharfgezackten Berggipfeln, erloschenen Vulkanen, Felsstümpfen, einzelnen Hügeln und Felsbrocken, Ringebenen und Aschenwüsten, durchzogen von erstarrten Lavaströmen oder zerrissen von tiefen breiten Schluchten, hier und da unterbrochen durch die Kegel versiegter Geysire erhoben oder der Senken früherer Teiche oder Mineralquellen, wie die Sinterterrassen und Schlammtöpfe des Yellowstone-Parks. Der Boden und die Steine leuchteten in allen Farben, von Ablagerungen, die das Weiß von Schnee oder Milchquarz oder das dunkle Grau von Granit zeigten, bis zum Gelb des Schwefels, vom Rot des Zinnobers bis zu dem Grün und Blau, daß sich an Lavaablagerungen findet, aber die vorherrschende Farbe war grau, und das Licht, das von Himmel her auf sie fiel, ließ schwarze Schatten über die Schlacken und Blasen spielen, als ob sie aus Elfenbein und Ebenholz geschnitzt wären.

Auch hier konnte ich keine Spur von Leben ausmachen – falls es sich bei den geborstenen Säulentrümmern an einem der Hänge nicht um die Überreste eines fossilen Waldes handelte, und wieder kam mir die Gedanke, daß ich hier die erstarrten Überreste einer toten Welt vor mir hatte.

Tot vielleicht – und dennoch nicht ohne jedes Leben. Denn mit dem Verstreichen der Zeit sah ich, wie niedrige Pflanzenformen wie Moose und Stachelpflanzen in der wachsenden Hitze des Gestirns aus der dürren Erde sprossen und sogar die graue Ebene und die Berghänge mit einem Hauch von Grün oder hellem Rosa überzogen. Und dabei blieb es nicht: ich verlor vor Schreck beinahe die Besinnung, als eine große Schlange an mir vorbeiglitt. Weiter folgten ihr – und nicht nur Schlangen, sondern auch ungeheuerliche Kröten und fliegende Insekten, so groß wie Krokodile oder die geflügelten Drachen vergangener Erdzeitalter.

Sie zeigten alle möglichen Farben und Gestalten, ganz wie die Felsen, aber die meisten von ihnen waren schwarz oder weiß. Mitunter verschlang eine Schlange eine der Kröten, oder eine der Körten haschte nach einer Libelle – aber die Flut kam weiter heran, wie ein riesiges Heer. Ich wollte davonlaufen, aber ich fand mich wie festgenagelt – und zu meinem unausprechlichen Grauen kroch eine Schlange über meinen Leib, der zu Boden gestürzt war. In Todesangst versucht ich mich aus ihrem Würgegriff zu befreien – vergeblich. Ich schrie laut auf – und erwachte.



Zunächst wußte ich nicht, wo ich mich befand, denn ich spürte das Gewicht der Schlange noch auf mir. Aber dann erinnerte ich mich, und mir wurde klar, daß ich mich nicht dort befand, wo ich mich gewähnt hatte. Für einen Augenblick zweifelte ich an meinem Verstand, doch dann wurde mir bwußt, daß ich im Bett lag und meiner furchtbaren Erlebnisse nur ein Traum gewesen waren, der womöglich durch die Strahlen der Morgensonne ausgelöst worden war, die mir ins Gesicht schien.

Ich denke, es daß sich hier um das handelt, was das „doppelte Bewußtsein“ genannt wird, bei dem das Hirn den Eindruck erzeugt, es befinde sich zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten. Das Ichbewußstein war geweckt worden, während der Rest des Gehirns noch im Schlafzustand verharrte. Das Rätsel meines Traums fand seine Auflösung, als ich mich daran erinnerte, daß ich vor dem Einschlafen in den Schriften von Proctor, Sir Robert Ball, Mr. A. C. Raynard und anderer bekannter Autoren über den Mond gelesen hatte. Und ich stellte fest, daß meinem Traum ein gewisser schöpferischer Aspekt innewohnte – daß es sich um eine Vision einer Sonnenaufgang handelte, wie er sich einem Beobachter auf der Mondoberfläche darbieten würden; nicht einem Astronomen auf der Erde.

Mein Standort hatte sich auf dem südwestlichen Rand des großen Kraters – oder der „Ringebene“ – namens Clavius befunden, auf dem dritten oder südöstlichen Viertel der Mondscheibe, und der Zeitpunkt war der des Sonnenaufgangs, wenn der „Terminator,“ die Grenze zwischen Tag und Nacht, dort über die Oberfläche glitt und ihre Beschaffenheit beleuchtete.

Das Blau unseres irdischen Himmels verdankt sich der Streuung des Lichts in der Atmosphäre, aber falls der Mond über eine Atmosphäre verfügt, so ist sie außerordentlich dünn – so dünn, wie sie fünfzig oder sechzig Meilen über der Erdatmosphäre ist. Daher erschein der Mondhimmel sowohl am Tag wie auch bei Tag schwarz. Auf dem Gipfel des Montblanc zeigt sich schon eine beträchtliche Verfinsterung unseres blauen Himmels. Und die goldrote Färbung des Sonnenauf- und -untergangs geht auf die Absorption des blauen Anteils des Sonnenlichts durch die Atmosphäre zurück – so wie bei einer Gaslaterne, deren Licht im Nebel eine rote Tönung annimmt.

Außerhalb der Erdatmosphäre würde uns die Sonne als blau erscheinen, wie Herschels Violett, mit einem Stich ins Lilafarbene, wie Professor S. P. Langley gezeigt hat, und da der Mond keine oder nur eine sehr geringe Atmosphäre aufweist, die das Licht absorbiert, würde das Sonnenlicht dort eine violette Färbung annehmen. Außerdem würde die Sonne dort zusammen mit ihrer Chromosphäre und ihrer weißen Korona zu sehen sein, einschließlich dem Zodiakallicht.

Der Krater Clavius besitzt einen Durchmesser von 142 Meilen, oder bedeckt das Doppelte der Fläche von Wales, aber die Abwesenheit oder die Klarheit der Atmosphäre ist der Fernsicht dienlich. Er ist von einem Ring aus Felsen umgeben, der an einigen Stellen mehr als 17.000 Fuß über dem Kraterboden emporragt, der seinerseits gut 90 kleinere Krater aufweist. Selbst von der Ede aus gesehen bietet der Sonnenaufgang im Krater Clavius in einem guten Teleskop ein großartiges Schauspiel. Zuerst beleuchtet die Sonne den Westrand des Walls, während der Boden im Schatten verbleibt und als dunkle Bucht erscheint, die den südlichen Teil, oder das „südliche Horn,“ zu überfluten droht. Wenn die Sonne höher steigt, treffen ihre Strahlen die oberen Ränder der Krater im Innern und läßt sie wie „goldene Inseln in einem Meer aus Tinte“ aufleuchten.

Der östliche Rand des Kraters fängt ihr Feuer ein, und Lichtstrahlenbündel ergießen sich durch die Spalten an der westlichen Wand auf den Boden des Kraters – ein Effekt, dessen sich Mr. Rider Haggard in seinem bekannten Roman „She“ bedient hat, um „Sie“ und ihre Gefährten zur Flamme der Unsterblichkeit in den Höhlen von Kor zu führen, das ebenfalls inmitten einer „Wallebene“ lag, die denen auf dem Mond glich. Schließlich erreicht das Sonnenlicht den Kraterboden, die schwarzen Schatten ziehen sich zurück, und die gesamte Ebene liegt im hellen Licht.

Wir dürfen den Mond als eine tote Welt ansehen, die in ihrer Jugend gestorben ist. Die Erde ist als Himmelskörper viel älter, und hat viele Zeichen ihrer feurigen Jugend verloren – aber am Aussehen des Mondes können wir erkennen, sie diese einmal ausgesehen hat. An den vom Vulkanismus geprägten Teilen ihrer Oberfläche sehen wir langgestreckte Bergketten, von denen aber keine die Höhe der Anden oder des Himalajas erreicht. Auf dem Mond sind sie eindeutig das Resultat vulkanischer Kräfte.

Zum anderen bestehen die Anden und der Himalaja aus Gestein, das am Meeresgrund abgelagert wurde, und das durch das Absinken benachbarter Gebiete emporgehoben worden ist. In manchen Gebirgen der Erde gesteht der Kern aus vulkanischen Gesteinen, ähnlichen denen auf dem Mond, aber er ist von späteren Ablagerungen überdeckt worden – ganz wie ursprüngliche menschliche Charakterzüge unter späteren Gewohnheiten verborgen sein können.

Auf der Erde finden sich nur wenige große Krater, Ringe oder Wallebenen – und keine davon ist so groß wie die größten auf dem Mond. Vielleicht sind die irdischen durch Wind und Wasser, Hitze und Frost erodiert worden, aber es finden sich noch Beispiele dafür auf Java und anderenorts, und der Krater des Kilauea auf den Sandwichinseln ist noch aktiv, wo die geschmolzene Lava eine gefurchte graue Ebene bildet, die mit kleinen Kratern bedeckt ist, die die letzten Schlote des erlöschenden Vulkans bilden. Die sogenannten „Meere“ des Mondes, wie das „Meer der Ruhe,“ der „Sumpf der Fäulnis,“ und die „Regenbogenbucht“ scheinen trockene Ebenen oder Wüsten zu sein, die die Prärien und Pampas Amerikas, und ihre graugrüne oder rötliche Färbung geht wahrscheinlich auf Asche oder aber auf Vegetation zurück.

Die „Gruben“ oder Einsenkungen sind möglicherweise alte Krater, die ihre Ringwälle verloren haben; die „Spalten“ sind lang schmale Schluchten oder Risse, die sich noch nicht geschlossen haben, und bei den „Falten“ handelt es sich zweifellos um solche Risse, die sich geschlossen haben, als der Mond aufgrund des Hitzeverlusts aus seinem Inneren geschrumpft ist.

Bei den hellen „Strahlen,“ die von einigen Kratern ausgehen und die sich über Täler und Bergketten hinweg ziehen, handelt es sich vielleicht um erstarrte Lavaströme, und die „langen Wälle“ sind möglicherweise Intrusionen von Magma, ähnlich den „Gesteinsgängen,“ die wir auf der Erde finden. Die Ebenen aus Schwefel, die erloschenen Geysire und die mineralhaltigen Quellen, die ich in meinem Traum sah, sind bislang auf dem Mond noch nicht entdeckt worden, weil sie natürlich schwer auszumachen wären – aber es gibt kaum Zweifel, daß solche Merkmale vulkanischer Tätigkeit dort vorhanden sind.

Für den augenscheinlichen Mangel an Luft und Wasser auf dem Mond sind verschiedene Erklärungen vorgeschlagen worden. Es scheint wahrscheinlicher, daß die Atmosphäre im Lauf der Zeit in den Weltraum entwichen ist – wie es Herr S. T. Preston vermutet hat – als daß sie infolge der extremen Kälte gefroren oder vom Mondboden absorbiert worden ist. Allerdings neigen immer mehr Astronomen zu der Ansicht, daß auf dem Mond immer noch Wasser wie auch eine Atmosphäre existiert – wenn auch nur rudimentär. Während der langen, zwei Wochen dauernden Nacht würde dieses Wasser zweifellos gefrieren, und die merkwürdige weiße Färbung der Mondoberfläche, besonders an den Polen, geht vielleicht auf gewöhnlichen Schnee zurück, oder auf gefrorene Kohlensäure oder Salze wie Kalkborat zurück. Falls es auf dem Mond Luft und Wasser geben sollte (diesen Standpunkt habe ich hier vertreten), wann würden sie während des zwei Wochen andauernden Tages verdunsten; Regen würde folgen, und niedrige Pflanzenarten könnten keimen. Ob es je höheres pflanzliches oder tierisches Leben auf dem Mond existiert hat, darf bezweifelt werden. Wahrscheinlich gab es auf dem Mond niemals menschenähnliche Wesen – obwohl einige Sternkundige die Umrisse einer sehr schönen Frau und eines sehr häßlichen Mannes auf dem Mond ausgemacht haben wollen.

Es besteht aber kein Grund daran zu zweifeln, daß viele niedrige Tierarten vorzeiten die grauen Ebenen und die bewaldeten Hänge der Mondberge bevölkert haben, und es nicht undenkbar, daß manche von ihnen immer noch bestehen, in einer Gestalt, die an ihre Umwelt angepaßt ist, daß sie den Sonnenlicht nachziehen wie bei uns die Schwalben, und daß meinem grausigen Albtraum so der Rang einer prophetischen Vision zukommt.

II.



„Sun-Rise on the Moon” ist im Oktober 1894 in der englischen Illustrierten „Cassell’s Family Magazine“ erschienen, in der 11. Nummer des 20. Jahrgangs. Das Journal war zunächst zum Jahresanfang des Jahrs 1854 als Wochenmagazin unter dem Titel „Cassell’s Illustrated Family Paper“ erschienen und mit der Dezemberausgabe 1874 auf monatliches Erscheinen umgestellt worden. AB Anfang der 1890s Jahre versuchte der Herausgeber Bonavia Hunt, dem erfolgreichsten Magazin jener Jahre, dem „Strand Magazine,“ Konkurrenz zu machen, indem er auf eine ähnliche Mischung aus informativen Artikeln, reichlichen Stahl- und Holzschnittillustrationen und populärer Unterhaltungsliteratur setzte. Während im „Strand“ etwa exklusiv die Abenteuer des „beratenden Detektivs“ mit Wohnsitz in der Baker Street 221b abgedruckt wurden, erschienen in „Cassell’s“ die Chroniken des „Gentleman-Gauners“ Stamford Raffles aus der Feder von Conan Doyles Schwager E. W. Hornung. Das konnte bis zur Arbeitsteilung bei einzelnen Autoren gehen: der „Strand“ berichtete von Mowgli Abenteuern im indischen Dschungel; acht Jahre später konnten die Leser von „Cassell’s“ die Fährnisse Kims, des „kleinen Freunds aller Welt“ aus der Hand von Rudyard Kipling nachlesen, die dort zwischen Dezember 1900 und November 1902 vorabgedruckt wurden. Ende 1932 wurde das Magazin vom Verleger Amalgamated Press, der es 1927 übernommen hatte, in den dürftigsten Zeiten der Weltwirtschaftskrise mit dem Konkurrenzunternehmen „The Storyteller“ aus dem gleichen Haus zusammengelegt (der „Storyteller“ ging dann Ende 1937 den Weg aller solchen Publikationen).

II.

John Munro, 1849 im englischen Bristol geboren und dort auch Ende 1932 gestorben, als „vergessenen Autor“ zu bezeichnen, würde allen tatsächlich im Vergessenheit geratenen Schreibern ei Unrecht tun, da er es auch zu Lebzeiten in dieser Funktion nie zu irgendeiner nennenswerten Bekanntheit gebracht hat. (Von G. K. Chesterton stammt der Satz: „Journalismus besteht hauptsächlich darin, Leuten zu erzählen, daß Lord X tot ist, die noch nie davon gehört haben, daß Lord X je gelebt hat.“) Zu den wenigen Erzeugnissen aus seiner Nebentätigkeit neben seinem Brotberuf als Elektroingenieur zählen sieben populär gehaltene Jugendbücher über sein Spezialgebiet („Electricity and Its Uses,“ 1887, „The Romance of Electricity,“ 1893), eine kurze Biographie von Lord Kelvin, ebenfalls für junge Leser (1902) und zwischen 1877 und 1901, zumeist für „Cassell’s“ geschrieben, 40 Artikel über technische und naturwissenschaftliche Themen – zumeist über Telegraphie, aber auch die ersten Filmaufnahmen von Königin Viktoria („Living Photographs of the Queen,“ August 1897), aber auch den „großen Kometen von 1881“ (September 1881). Nur in zweien davon, dem oben übersetzten Stück, und „A Message from Mars“ (März 1895) begibt er sich in die Nähe jener Spekulation, die wir heute als Science Fiction bezeichnen. Der zweite Text ist dann zwei Jahre später, zum Auftakt seines einzigen Romans, „A Trip to Venus“ (Jarrolds, 1897) geworden, in dem er seinen – richtig: jungen – Lesern eine höchst banale Utopie auf unserem Nachbarplaneten vorführt. Ideengeschichtlich in den Fundus der SF hat es nur in kleines Beiseit in einem der zahllosen didaktischen Gespräche des Buchs, in dem einer der Protagonisten die Bemerkung fallen läßt, die Sterne seien so weit entfernt, daß eine Reise dorthin Millionen von Jahren dauern würde und zahllose Generationen sie damit zubringen würden, niemals ihr Ziel zu erreichen. Es handelt sich um die allererste Erwähnung des Konzepts eines „Generationenraumschiffs“ in der Literatur überhaupt.

Die Illustrationen zu unserem Text – wie auch zu „A Message“ from Mars“ stammen von Paul Hardy (1862-1942), der um die Jahrhunderte einer der gefragtesten Illustratoren für „historische Abenteuerromane“ in England war. Hardy hatte seine Karriere als professioneller Zeichner für „Cassell’s“ 1888 begonnen, war aber nach drei Jahren, Ende 1891, zur besser zahlenden Konkurrenz beim – man ahnt es – „Strand Magazine“ abgewandert – für das er aber noch einige Arbeiten ablieferte.

Der Kleine Pedant muß an dieser Stelle einwerfen, daß Munros Ich-Erzähler im Traum an einer Stelle eine ungebührliche Kreativität an den Tag legt: schon dem ersten „literarischen Mondträumer,“ Duracotus in Johannes Keplers „Somnium“ (1608 geschrieben und postum 1634 veröffentlicht), war es ein großes Anliegen zu betonen, daß unser Trabant der Erde immer dieselbe Seite zuwendet, und daß die „Privolvier“ auf der erbabgewandten Seite, anders als ihre „subvolvischen“ Nachbarn, niemals in den trostreichen Genuß des Anblicks der Volva, die wir als Erde kennen, kommen.

Etsi siderum fixorum aspectus tota Levania habet nobiscum eosdem, motus tamen planetarum et quantitates ab iis, quas nos hic videmus, observat diversissimas, adeo ut plane alia sit totius apud ipsos astronomiæ ratio. Quemadmodum igitur geographi nostri orbem Terrae dividunt in quinque zonas propter phænomena cœlestia, sic Levania ex duobus constat hemisphæriis, uno subvolvarum, altero privolvarum, quorum illud perpetuo fruitur sua volva, quæ est illis vice nostrae Lunae, hoc vero Volvæ conspectu in aeternum privatur. Et circulus hemisphæria dividens instar nostri coluri solstitiorum per polos mundi transit appellaturque divisor.


Obwohl die Fixsterne überall auf Levania (der Name der Mondbewohner für ihre Welt) so wie bei uns erscheinen, sehen wir bei den Bewegungen und den Hellligkeiten der Planeten so große Unterschiede, daß sie ihre eigene, völlig andere Astronomie entwickelt haben. So wie bei uns die Geographen die Erdkugel gemäß ihren Himmelserscheinungen in fünf Zonen unterteilen, so teilt sich Levania in zwei Hemosphären, die eine davon ist subvolvisch, die andere privolvisch, von denen die ersteren ewig die Volva leuchtet, die für sie wie bei uns der Mond ist, während die Volva den anderen ewig verborgen bleibt. Und der Kreis, der die beiden Hälften ihre Welt trennt wie bei uns das Mittel zwischen den beiden Polen (= der Äquator), wird der Trenner genannt.


Allerdings bedeutet die Tatsache, daß der Mond der Erde stets dieselbe Seite zukehrt, nicht, daß unser Heimatplanet dort am Himmel festgenagelt verharrt. Dafür sorgt ein Phänomen, das als „Libration“ bekannt ist und das dafür sorgt, daß sich während eines Mondumlaufs, einer „Lunation,“ die Erde in einem fast kreisförmigen Oval zu bewegen scheint. Die Libration ergibt sich aus drei Umständen: zum einen ist die Bahn des Mondes gegenüber der Ekliptik, also der Bahn, die die Sonne am irdischen Taghimmel beschreibt, um gut 6 Grad geneigt; während eines Mondumlaufs befindet er sich also zur Hälfte der Zeit „darüber“ (nördlich) oder „darunter“ (südlich). Infolgedessen sehen wir die Polregionen aus unterschiedlichen Blickwinkels. Diese „Libration in Breite“ beträgt 6,68 Bogengrad; im Lauf von 27,21 Tagen (oder 653 Stunden) wandert, von der Mondoberfläche gesehen, Terra um 13,5 Grad auf und ab. Das zweite ist die „Libration in Breite“: das Drehmoment des Mondes ist so beschaffen, daß er sich in 27,32 Tagen einmal um seine Achse dreht, und dies natürlich mit gleichbleibender Geschwindigkeit. Bei einer exakt kreisförmigen Umlaufbahn wäre diese „gebundene Rotation“ bei jedem Zeitpunkt perfekt. Aber die Mondbahn besitzt, was die Astronomen „Exzentrizität“ besitzt: eine Abplattung von 0,0549. Im erdnächsten Punkt seiner Bahn ist er 363.000 Kilometer von uns entfernt; beim fernsten 405.000. Gemäß dem zweiten Keplerschen Gesetz bewegt er sich schneller auf seiner Umlaufbahn, je näher er uns ist. Das führt dazu, daß Beobachter von der Erde aus bei der größeren Nähe einen Teil der rechten, der östlichen Mondhälfte zu Gesicht bekommen, die bei „perfekt planer Draufsicht“ verborgen bliebe, und bei großer Erdferne, im Perigäum, entsprechend vom Ostrand. Diese „Libration in Breite“ beläuft sich auf 7,9 Bogengrad über einen Zeitraum von 27,55 Tage. Hinzu kommt noch die sogenannte „parallaktische Libration“: da die Erde einen Durchmesser von 12.700 km aufweist, verschiebt sich der Standpunkt des Beobachters im Lauf einer Nacht. All dies zusammen führt dazu, daß sich die Erde für einen Beobachter auf dem Mond in einer Ellipse von 15,8 Grad Breite und 13,4 Grad Höhe bewegt.

Es gibt also durchaus Bereiche auf dem Mond, an der die Erde auf- und untergeht. Freilich nicht im Krater Clavius, den Munro explizit als Standort seines Albträumers angibt. Das Zentrum des gut 225 Kilometer durchmessenden „Ringwalls“ liegt auf 16 Grad westlicher Länge und 59 Grad südlicher Breite, ist also weit von allen solchen dafür infrage kommenden Zonen entfernt. Tatsächlich gibt es nur einen markanten Krater, der als Standort für ein solches Schauspiel geeignet ist: der Krater Bailly, von uns aus genau am Rand der Mondscheibe gelegen in etwa der 19-Uhr-Position und mit 300 km Durchmesser etwas größer als Clavius. Allerdings „steigt“ Terra auch dort nicht „majestätisch gelassen“ über dem Kraterrand empor: für den Nord-Süd-Weg von 13,4 Grad benötigt sie, wie eben vermerkt, 653 Stunden – um einen Bogengrad zurückzulegen, braucht sie mithin 48 Stunden. An den Scheitelpunkten ist die Bewegung fast stillgestellt; auf halber Strecke am schnellsten. Der Durchmesser der Erde, vom Mond aus betrachtet, beläuft sich auf das Vierfache der Mondes, von unserer Warte aus gesehen – im Perigäum weist sie einen Durchmesser von 2,02452 Grad auf, im Apogäum von 1,81001 Grad. Mithin benötigt Mutter Erde also volle vier Tage, um in ganzer Schönheit über dem Kraterrand aufzutauchen.

Eine vergleichbar bengalische ausgeleuchtete Landschaft findet sich in Max Dauthendeys Roman „Raubmenschen“ aus dem Jahr 1911, der im Mexiko spielt und in dem der Autor diesem Landstrich eine „urweltliche“, nachgerade dämonische Aufgeladenheit verleiht, der dieses Land in seinem Text wie ein Brodem einhüllt und der Grund dafür scheint, daß es dort zugeht „wie auf dem Grund des Meeres.“

Kaum aber schaute ich von der Zeichnung des dunkeln Tales auf und zu dem Popocatepetl und Ixtaccihuatl zurück, da erschrak ich fast. Die weiße Wolke hatte sich wie eine orangerote Lavaglutmasse entzündet, der Himmel war giftgrün geworden, wie eine Grünspankugel leuchtend, die Schlagschatten im Tal wurden indigoblau, und die Krater unten im Tal standen wie blau eingewickelte Zuckerhüte nebeneinander; die Landschaft hatte ein einziger Augenblick verhext. Auf Tausende von Meilen hin waren Farben, orangerot, giftgrün und indigoblau, aufgetaucht. Im Westen spielte die Sonne als ein dreifach farbiger Scheinwerfer und stieß an den Erdrand des schwarzen Hügelwellenlandes, dahinter sie unaufhaltsam hinabsank, so daß die Schatten wie schwarze Strahlen plötzlicher Nacht über mich und die Landschaft fuhren, als würde die Nacht ein zweiter Scheinwerfer, der schwarze Strahlen würfe neben der Sonne. Es bewegten sich um mich alle Hügel, Täler wurden zu finstern Ebenen; die nächste Nähe, selbst das Gras zu meinen Füßen, wurde fremdartig, wurde wie von Abgründen erfüllt; es wuchsen Moore von Finsternissen neben langen scharlachnen Lichtgassen auf der Erde, und die Indigobläue verwandelte sich in lila Nebel; die Krater verschwanden es war, als wandelten die Berge fort –, und eine eisige Kälte strahlte aus den Grasspitzen zu meinen Füßen auf. Alles ging so eilig, so sichtbar und greifbar vor sich, als wäre das Licht hier eine Pulvermasse, die abbrennte, rauchte, lebte und sich verzehrte, wie eine Materie, die überall hier verschiedenfarbig ausgeschüttet wäre und explosiv aufleuchtete und sich verkröche. Hypnotisiert von diesem hexenhaften Sonnenuntergang, der wie ein chemischer Prozeß sich vor meinen Sinnen zubereitete und zu Ende war, ehe ich wußte, daß es mit dem Nachtwerden Ernst war, saß ich still, unentschlossen, ob ich gehen oder bleiben sollte – es war, als müßte alles nochmals beginnen und das Scheinwerferspiel sich mechanisch wiederholen. Ich glaubte es selbst der untergegangenen Tropensonne nicht, daß sie fortbleiben wollte. Dieser Sonnenuntergang hatte sich so benommen, als hätte ich dem Beleuchtungsinspektor in einem Theater hinter den Kulissen zugesehen und befände mich dicht bei den Beleuchtungskörpern selbst, die draußen auf der Szene den Sonnenuntergang vor den Zuschauern arrangieren sollten.

Es war, als stünde jemand dicht hinter mir, der diese Skala von handgreiflichen Effekten in Szene gesetzt hätte. („Raubmenschen,“ Kapitel 4)


III.





Aber moment einmal: Clavius? Der Mondkrater Clavius – und menschliche Beobachter? Ist das nicht…? Jawohl: das ist der Standort, auf dem Arthur C. Clarke und Stanley Kubrick für „2001 – A Space Odyssey“ 1968 sowohl in der Film wie der Buchfassung die erste Basis, Clavius Base, auf dem Mond errichtet haben. Allerdings nicht so sehr aus raumfahrttechnischen Gründen, sondern um bei dem Landeanflug der Raumfähre, die Dr. Heywood Floyd zum Basis von TMA-1, dem zweiten Monolithen des Films, die Erde dekorativ in Horizontnähe über dem Mondhorizont zeigen zu können. (Aus demselben Grund hat sich George Pal für seinen Film „Destination Moon“ von 1950 beschlossen, seine „ersten Menschen auf dem Mond“ im Krater Harpalus, auf einer Breite von 52 Grad auf der nördlichen Mondhalbkugel gelegen, landen zu lassen.)

Clavius ist mit 150 Meilen Durchmesser der zweitgrößte Krater auf der síchtbaren Mondscheibe, und liegt in der Mitte der südlichen Hochlands. Er ist sehr alt; Äonen von Vulkanismus und Beschuß aus dem All haben seine Umwallung zernarbt und seinen Boden zerfurcht. Aber seit dem Ende der Kraterentstehung, als der Schutt aus dem Asteroidengürtel noch auf die Planeten des inneren Sonnensystems niederging, war er seit einer halben Jahrmilliarde zur Ruhe gekommen.

Aber jetzt regte es sich wieder von neuem auf und unter seiner Oberfläche, denn hier errichtete die Menschheit ihren ersten ständigen Brückenkopf auf dem Mond. Die Clavius-Basis konnte im Notfall eines völlig autark für sich bestehen. Alles Lebensnotwendige wurde mit Hilfe des Gestein vor Ort erzeugt – nachdem es zermahlen, erhitzt und chemisch aufbereitet worden war: Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Phosphor – all das sowie die meisten weiteren Elemente warne auf dem Mond zu finden – wenn man wußte, wo man nach ihnen zu suchen hatte. Die Station bildete ein geschlossenes System -wie ein winziges Abbild der Erde, in dem die Grundstoffe des Lebens ständig wiederaufbereitet wurden. Die Atmosphäre wurde in einem gewaltigen „Treibhaus“ gereinigt – einem großen, kreisförmigen Bereich, der sich direkt unter der Mondoberfläche befand. Unter gleißenden Lichten während der Nacht, und gefilterten Sonnenlicht bei Tag wuchsen dort auf hektargroßen Flüchen robuste Pflanzen. Es handelte sich um besondere Züchtungen, die auf die Anreicherung der Luft mit Sauerststoff und die Erzeugung von Kohlehydraten optimiert worden waren. Weitere Lebensmittel wurden aus chemischer Aufbereitung und aus Algenkulturen gewonnen. Obwohl der grüne Schleim, der in den durchsichtigen Kunststoffröhren trieb, keinem Feinschmecker Appetit gemacht hätte, konnten die Biochemiker ihn in Koteletts und Steaks verwandeln, die nur ein Spezialist vom Original unterscheiden konnte. (Arthur C. Clarke, „2001: A Space Odyssey,“ Kap. 10: „Clavius Base“)



(Standphoto aus „2001: A Space Odyssey“)

Oder, wie die Arctic Monkeys 2018 in ihrem Song „Four Out of Five” (von ihrem sechsten Album, „Tranquility Base Hotel & Casino“) sangen

Lunar surface on a Saturday night
Dressed up in silver and white

Cute new places keep on popping up
Around Clavius, it's all getting gentrified




IV.

In „2001“ findet kein Erdauf- und -untergang statt (dafür hält sich Dr. Heywood Floyd nicht lang genug auf dem Erdtrabanten auf – aber in Clarkes Roman „Earthlight“ aus dem Jahr 1955, der zur Gänze auf dem Mond spielt, bildet ein solches Schauspiel den Auftakt, während eine Einschienenbahn den Protagonisten zum Observatorium auf der Mondrückseite bringt, von wo aus die Astronomen nicht durch den Schein (und den Radiolärm) der Heimatwelt gestört werden.

Die Sichtfenster waren nicht so groß, wie er es bevorzugt hätte. Irgendwelche Sicherheitsvorschriften waren dafür verantwortlich. Aber hier störte ihn keine Innenbeleuchtung, und er konnte sich ganz der eisigen Schönheit dieser uralten, leeren Landschaft widmen.

Eisig – er glaubte sofort, daß draußen vor dem Fenster die Temperatur bereits auf zweihundert Grad unter Null gesunken war, obwohl die Sonne erst vor wenigen Stunden untergegangen war. Etwas an dem Licht, das von den fernen Meeren und Wolken der Erde reflektiert wurde, erweckte diesen Eindruck. Er war ein Licht, das ins Blaue und Grüne spielte: ein eisiges Leuchten ohne einen Hauch von Wärme. Ein hübsches Paradox, dachte Sadler bei sich – schließlich stammte es von einer Welt voller Licht und Wärme.

Der Zug gewann langsam an Höhe, und dann schnitt eine Klippe zur Rechten den Blick ab. Zur Linken – das müßte, Moment, Süden sein – fiel das Land in einer Reihe von Schichten ab, als ob vor einer Milliarde von Jahren die heiße Lava, die aus dem heißen Herzen des Monds gequollen war, in aufeinanderfolgenden, schwächer werdenden Wellen erstarrt wäre. Es war ein Ort, der es einem im Inneren kalt werden ließ – aber es gab auf der Erde ebenfalls solche trostlosen Orte: die Badlands von Arizona waren fast so öde, und die Höhen des Mount Everest waren gefährlicher, denn hier gab es zumindest keine tobenden eisigen Winde.

Und dann hätte Sadler fast vor Schreck laut aufgeschrien: denn die Klippenwand zur Rechten endete plötzlich, als wenn sie ein ungeheuerer Grabstichel von der Mondoberfläche gemeißelt hätte. Sie versperrte nicht länger den Ausblick; er hatte freie Sicht nach Norden. Die Geschick des Zufalls hatte eine so atemberaubende Wirkung erzeugt, daß man nur schwer glauben konnte, daß dies alles nur der reinen Absichtslosigkeit zu verdanken war.

Die Gipfel der Apenninen zogen sich in flammender Pracht über den Himmel und glühten im letzten Licht der untergegangenen Sonne. Die plötzlich Lichtflut blendete Sadler fast, er wandte seinen Blick von dem grellen Licht ab und wartete, bis er wieder etwas sehen konnte. Als er wieder hinsah, hatte sich die Verwandlung bereits vollzogen. Die Sterne, mit denen der Himmel eben noch übersäht gewesen war, waren verschwunden. Seine verengten Pupillen konnten sie nicht mehr wahrnehmen, selbst das Leuchten der Erde wirkte nur noch wie schwacher matter grüner Schimmer. Das gleißende Licht der Berge, die noch hundert Kilometer entfernt waren, überstrahlte alle anderen Lichtquellen.

Die Gipfel schwebten wie phantastische Flammenpyramiden am Himmel. Sie schienen so wenig am Boden zu haften wie Wolken, die auf der Erde einen Sonnenuntergang einrahmen. Die Schattenlinie verlief messerscharf, die unteren Hänge der Berge waren in vollkommene Dunkelheit getaucht, und nur die brennenden Gipfel schienen wirklich zu sein. Es würde noch Stunden dauern, bis der letzte dieser stolzen Gipfel in den Schatten des Mondes geriet und in der Nacht versank.


IV.

In der spekulativen Literatur der Nachkriegszeit (wobei es gleichgültig ist, ob hier der Erster Weltkrieg oder der Zweite als Wegscheide zwischen der „utopisch-technischen Spekulation“ im Sinne eines H. G. Wells, Kurd Laßwitz oder Jules Verne und der modernen Spielart der Science Fiction angesetzt wird) sind solche Naturschauspiele rar – Otto Willi Gails „Der Schuß ins All“, (1925), literarischer Zentralpunkt der Raumfahrtpropagierung in der Weimarer Republik, verzichtet gleich ganz auf die Landung auf dem Erdtrabanten. Aber auch viele der Vorkriegspioniere des Genres verzichten darauf bei ihren Stippvisiten auf dem Erdtrabanten – etwa George Griffith in der ersten Episode von „A Honeymoon in Space“ (1901; das Buch –„Roman“ wäre angesichts der nichtvorhandenen Handlung zuviel gesagt – überträgt den Flitterwochentrip „Ganz Europa in zwei Wochen“ kurzerhand auf das gesamte Sonnensystem), oder W. S. Lach-Szyrna „Letters from the Planets,“ ebenfalls in Cassell’s Family Magazine erschienen, dessen erste Folge, „A Ruined City in the Moon“ vom Januar 1887 gar nicht lange mit der Erzeugung einer Atmosphäre – im doppelten Wortsinn! – aufhält. Anders H. G. Wells in „The First Men in the Moon,“ vom November 1900 bis zum August 1901 im „Strand Magazine“ vorabgedruckt und im Oktober 1901 bei George Newnes als Buch erschienen. Nachdem Cavor und Bedford mit ihrer Antischwerkraft-beschichteten Kugel auf der dunklen Seite des Mondes gelandet sind, bildet das Kapitel 7, „Sunrise on the Moon,“ die erste Konfrontation mit der W7ndern eines fremden Welt (Wells benutzt hier eine Technik, der er sich schon 6 Jahre zuvor in der „Zeitmaschine“ bedient hat: der ekstatischen Vision, der ozeanischen Entgrenzung folgt alsbald die albtraumhafte Ernüchterung unter der Erde (oder in diesem Fall dem Mondboden): Der Zeitreisende glaubt zunächst, im Jahr 802.701 im irdischen Paradies, in der sozialistischen klassenlosen Gesellschaft, gelandet zu sein – nur um auf die Morlocks zu stoßen, denen die kindlichen Eloi als Mastvieh dienen; während Bedford und Cavor von den ameisenähnlichen Seleniten ins Mondinnere entführt werden.

H. G. Wells, “Die ersten Menschen im Mond,“ Kapitel 7:

“Sonnenaufgang auf dem Mond“

Wie wir sie zuerst erblickten, war es die wildeste und trostloseste Szene. Wir lagen in einem ungeheuren Amphitheater, auf einer weiten, kreisrunden Ebene, dem Boden des Riesenkraters. Seine klippenartigen Wände schlossen uns auf allen Seiten ein. Von der westlichen her fiel das Licht der unsichtbaren Sonne darauf und reichte bis hinab zum Fuße der Klippe; sie zeigte einen wirren Hang schmutzig grauen Felsens, der hier und dort mit Bänken und Rissen voll Schnee gespickt war. Das war vielleicht ein Dutzend Meilen entfernt, aber anfangs verminderte keine dazwischenliegende Atmosphäre den bis ins kleinste Detail gehenden Glanz, mit dem uns diese Dinge anstarrten. Sie standen klar und blendend vor einem Hintergrunde gestirnter Schwärze, die unsern irdischen Augen eher wie ein glorreich flitterbesäter Samtvorhang erschien, als wie die Weite des Himmels.

Die östliche Klippe war zunächst nur ein sternenloser Saum zur steinigen Kuppel. Kein rosiges Licht, keine kriechende Blässe verkündete den beginnenden Tag. Nur die Corona, das Zodiakallicht, ein riesiger, kegelförmiger, leuchtender Nebel, der zum Glanz des Morgensterns emporzeigte, sprach uns von der unmittelbaren Nähe der Sonne.

Was an Licht um uns war, wurde von den westlichen Klippen reflektiert. Es zeigte eine riesige gewellte Ebene, kalt und grau, ein Grau, das sich nach Osten hin in das absolute Rabenschwarz des Klippenschattens vertiefte. Unzählige gerundete, graue Gipfel, geisterhafte Kegel, Wogen schneeiger Masse, die Kamm hinter Kamm in die ferne Finsternis erstreckten, gaben uns den ersten Wink über die Entfernung der Kraterwand. Diese Kegel sahen aus wie Schnee. Zur Zeit dachte ich, es sei Schnee. Aber das waren sie nicht – es waren Hügel und Massen gefrorener Luft!

So war es erst, und dann kam, plötzlich, rasch und verblüffend, der Mondtag.

Das Sonnenlicht war die Klippe hinabgekrochen, es berührte die hingewehten Massen an ihrer Basis und kam alsbald mit Siebenmeilenstiefeln auf uns zugeschritten. Die ferne Klippe schien zu schwanken und zu beben, und bei der Berührung mit dem Sonnenaufgang strömte ein Qualm grauen Dunstes vom Kraterboden empor, Wirbel und Wolken und treibende Gespenster eines Grau, immer dichter und breiter und enger, bis zuletzt die ganze westliche Ebene wie ein nasses Tuch dampfte, das man vors Feuer hält, und bis die westlichen Klippen nur noch ein gebrochener Glanz dahinter waren.

»Das ist Luft,« sagte Cavor. »Es muß Luft sein – sonst würde es nicht so aufsteigen – bei der bloßen Berührung mit einem Sonnenstrahl. Und mit dieser Geschwindigkeit ...«

Er blickte nach oben. »Sehen Sie!« sagte er.

»Was?« fragte ich.

»Am Himmel. Schon. Auf der Schwärze – ein leichter Hauch von Blau. Sehen Sie! Die Sterne scheinen größer. Und die kleinen und all die dunklen Nebelmassen, die wir im leeren Raum sahen – das ist verborgen!«

Schnell und stetig nahte uns der Tag. Ein grauer Hügel nach dem andern wurde von der Glut erfaßt und in eine rauchende, weiße Dichtigkeit verwandelt. Schließlich war westlich von uns nichts mehr vorhanden als eine Bank aufsteigenden Nebels, der nahende Aufruhr und Aufstieg wolkigen Dunstes. Die ferne Klippe wich weiter und weiter zurück, hatte durch den Wirbel geragt und sich verändert, und war zuletzt in seinem Wirrwarr untergegangen und verschwunden.

Näher kam diese dampfende Wand, näher und näher, und sie kam so schnell wie der Schatten einer Wolke vor dem südwestlichen Winde. Um uns erhob sich ein dünner, vorgreifender Nebel.

Cavor packte meinen Arm.

»Was?« sagte ich.

»Sehen Sie! Der Sonnenaufgang! Die Sonne!«

Er drehte mich um und zeigte auf die Braue der östlichen Klippe, die über dem Nebel um uns aufragte, kaum heller als das Dunkel des Himmels. Aber jetzt war ihre Linie durch seltsame rötliche Gestalten markiert, Zungen scharlachner Flammen, die sich wanden und tanzten. Ich meinte, es müßten Dunstspiralen sein, die vom Licht gefaßt waren und diesen Kamm feuriger Zungen gegen den Himmel bildeten, aber in Wirklichkeit waren es die Sonnenauswüchse, die ich sah, eine Feuerkrone um die Sonne, die irdischen Augen durch unsern atmosphärischen Schleier auf ewig verborgen ist.

Und dann – die Sonne!

Stetig, unvermeidlich kam eine glänzende Linie, kam ein dünner Rand unerträglicher Glut, der runde Gestalt annahm, ein Bogen wurde, ein blendendes Szepter wurde, und einen Hitzstrahl auf uns entsandte, als wäre es ein Speer.

Und mit diesem Glühen kam ein Schall, der erste Schall, der uns von draußen erreichte, seit wir die Erde verlassen hatten, ein Zischen und Rascheln, das stürmische Schleifen des Luftgewandes im vorwärtseilenden Tage. Und mit dem Schall und dem Licht zugleich legte sich die Sphäre um, und blind und geblendet taumelten wir hilflos gegeneinander. Sie legte sich wieder um, und das Zischen wurde lauter. Ich hatte die Augen gewaltsam geschlossen und machte plumpe Anstrengungen, mir den Kopf mit meiner Decke zu verhüllen, und dieser zweite Stoß warf mich hilflos von den Beinen. Ich fiel gegen den Ballen, und als ich die Augen öffnete, sah ich einen Moment die Luft gerade außerhalb unseres Glases. Sie schmolz – es war ein Kochen – wie Schnee, in den man eine rotglühende Stange wirft. Was feste Luft gewesen war, wurde plötzlich bei der Berührung mit der Sonne ein Brei, ein Schlamm, eine schmutzige Flüssigkeit, die zu Gas verzischte und kochte.

Es folgte ein noch gewaltsamerer Wirbel der Atmosphäre, und wir hatten einander gepackt. Im nächsten Moment wurden wir wieder herumgeschleudert. Wir gingen kopfüber und kopfüber, und dann lag ich auf allen Vieren. Der Tagesanbruch auf dem Monde hatte uns ergriffen. Er wollte uns kleinen Menschen zeigen, was der Mond mit uns machen konnte.

Ich konnte einen zweiten Blick auf die Dinge draußen werfen, auf die Dampfstrahlen, halbflüssigen Schlamm, der untergraben wurde, glitt und fiel und glitt. Wir sanken ins Dunkel. Ich stürzte mit Cavors Knien auf meiner Brust. Dann schien er von mir fortzufliegen und einen Moment lag ich ohne Atem in meinem Körper da und starrte nach oben. Ein taumelnder Fels von dem schmelzenden Zeug war über uns gespritzt, hatte uns begraben und wurde jetzt dünner und kochte von uns ab. Ich sah die Blasen oben auf dem Glase tanzen. Ich hörte Cavor schwach rufen.

Dann hatte uns ein riesiger Rutsch in der tauenden Luft gefaßt, und indem wir Proteste hervorsprudelten, begannen wir einen Hang hinabzurollen, rollten schneller und schneller, sprangen über Spalten und prallten von Bänken ab, schneller und schneller, nach Westen hin, in den weiß-heißen kochenden Aufruhr des Mondtags hinein.

Aneinandergeklammert, wirbelten wir herum, flogen hierhin und dorthin, und unser Gepäckballen sprang auf uns los und drosch auf uns umher. Wir kollidierten, wir griffen uns, wir wurden auseinandergerissen – unsere Köpfe schlugen zusammen, und das ganze Weltall barst in feurige Pfeile und Sterne! Auf der Erde hätten wir uns ein dutzendmal zerschmettert, aber auf dem Mond war zu unserem Glück unser Gewicht nur ein Sechstel dessen, was es auf der Erde ist, und wir fielen sehr gnädig. Ich erinnere mich einer Empfindung äußerster Übelkeit, eines Gefühls, als wäre mein Gehirn im Schädel umgekehrt und dann – –

Etwas war auf meinem Gesicht an der Arbeit, ein paar dünne Fühler quälten meine Ohren. Dann entdeckte ich, daß der Glanz der Landschaft um uns durch eine blaue Brille gemildert war. Cavor stand über mich geneigt, und ich sah sein Gesicht umgekehrt, auch seine Augen durch gefärbte Gläser geschützt. Sein Atem ging unregelmäßig, und seine Lippe blutete von einer Quetschung. »Besser?« sagte er und wischte sich das Blut mit dem Rücken der Hand ab.

Alles schien eine Zeitlang zu schwanken, aber das war nur meine Schwindligkeit. Ich merkte, daß er ein paar von den Jalousien der äußeren Sphäre geschlossen hatte, um mich vor dem direkten Sonnenstrahl zu schützen. Mir fiel auf, daß alles um uns sehr glänzend war. »Himmel!« keuchte ich. »Aber dies –!«

Ich reckte meinen Hals, mich umzublicken. Ich merkte, daß draußen eine blendende Helle herrschte, ein absoluter Wechsel aus dem finsteren Dunkel unserer ersten Eindrücke. »Bin ich lange besinnungslos gewesen?« fragte ich.

»Ich weiß nicht – der Chronometer ist zerbrochen. Einige Zeit ... Mein lieber Kerl! Ich habe Angst gehabt ...«

Ich lag eine Zeitlang da und nahm das in mich auf. Ich sah, sein Gesicht trug noch Spuren der Aufregung. Eine Weile sagte ich nichts. Ich strich mit fragender Hand über meine Kontusionen und sah ihm nach ähnlichen Schäden ins Gesicht. Der Rücken meiner rechten Hand hatte am meisten gelitten und war hautlos und wund. Meine Stirn war zerstoßen und hatte geblutet. Er reichte mir ein kleines Maß mit etwas von dem Stärkungsmittel – den Namen habe ich vergessen – das er mitgenommen hatte. Nach einiger Zeit fühlte ich mich ein wenig besser. Ich begann meine Glieder vorsichtig zu strecken. Bald konnte ich sprechen.

»Das wäre nichts gewesen,« sagte ich, als sei gar keine Zeit verstrichen.

»Nein, wahrhaftig.«

Er sann, und die Hände hingen ihm über die Knie. Er spähte durch das Glas und starrte dann mich an. »Großer Gott!« sagte er. » Nein!«

»Was ist geschehen?« fragte ich nach einer Pause. »Sind wir in die Tropen gesprungen?«

»Es war, wie ich erwartet hatte. Diese Luft ist verdunstet, und die Oberfläche des Mondes ist zutage gekommen. Wir liegen auf einer erdigen Felsbank. Hier und da zeigt sich der nackte Boden. Ein wunderlicher Boden!«

Ihm fiel ein, daß es unnötig war, zu erklären. Er half mir in eine sitzende Stellung, und ich konnte mit eigenen Augen sehen.


(Zitiert nach der ersten deutschen Übersetzung von Felix Paul Greve, erschienen 1905 im Verlag J. C. C. Bruns in Minden)



(Ill. v. Claude A. Shepperson im „Strand Magazine,“ Februar 1901)

V.

Und ein Sonnenaufgang auf dem Mond figuriert prominent am Auftakt des des ersten „wirklichen SF-Romans“, den die polnische Literatur kennt, in „Na srebrnym globie“ (Auf der silbernen Kugel), von Jerzy Żuławski, 1903 beim Verlag Towarzystwo Wydawnicze im damals k.u.k. österreichisch-ungarischen Lemberg, bzw Lwów/Lviv erschienen, der den ersten Band der sogenannten „Mond-Trilogie“ (Trylogia księżycowa) bildet. Das Werk, das der 1874 in Lipowiecz in Galizien geborene und 1915 in Dębica an Typhus gestorbene Żuławski außerdem über 20 Jahre lang verfaßt hat, ist heute weitgehend vergessen (zwei weitere Romane, ein Dutzend Theaterstücke sowie ein halbes Dutzend Gedichtbände) – aber dieser Roman über die erste Expedition zum Mond und ihr Scheitern, sowie die beiden Folgebände „Zwycięzca“ (Der Sieger; Warschau 1910) und „Stara Ziemia“ (Die alte Erde, 1911), haben es in Polen zu Klassikern des Genre gebracht.



(Porträtzeichnung von Stanislaw Wyspianski)

Der erste Band setzt ein mit der mißglückten Landung des bemannten Projektils der Expedition in der Mitte des 20. Jahrhunderts, bei der zwei der fünf Besatzungsmitglieder ums Leben kommen, einschließlich ihres Leiters. Wie vorgesehen läßt sich die Kapsel aber noch durch ans Montieren ovn Achsen und Rädern in ein Expeditionsfahrzeug umbauen. Mit nur beschränkten Luft- und Wasservorräten und ohne die Möglichkeit einer Rückkehr machen sich die Überlebenden auf den Weg zur Mondrückseite, sie sie hoffen, eine atembare Atmosphäre und Wasser sowie Pflanzen vorzufinden. Die beiden Folgebände setzen Jahrhunderte später ein, im irdischen 27. Jahrhundert, mit dem Kampf der auf der Mondrückseite entstandenen Gesellschaft mit den dortigen „Szerns,“ den intelligenten Mondbewohnern, um die knappen Ressourcen und der Landung eines weiteren Raumschiff, das von der Erde losgeschickt worden ist - und schließlich der Rückkehr zweier „Seleniten“ in diesem Raumschiff.

Żuławski greift mit dem Konzept einer bewohnbaren Rückseite des Mondes eine Hypothese des deutschen Astronomen Peter Andreas Hansen auf. Hansen, 1798 in dänischen Tondern und 1874 in Gotha gestorben, war seit 1829 Direktor der Seeberg-Sternwarte in Gotha. 1856 stellte er die Hypothese auf, die gebundene Rotation des Mondes würde dazu führen, daß die uns zugewandte Seite gute 50 Kilometer „näher“ zu uns herangezogen würde, als es ohne diesen Gezeiteneinfluß der Fall wäre – und daß eine denkbare Lufthülle deshalb auf der Vorderseite kaum nachweisbar, auf der von niemandem einsehbaren Rückseite dagegen so dicht sein könnte, daß sie Leben ermöglichen könnte. Daß sich dieser Gedanke bis etwa 1870 einiger Beliebtheit erfreut hat, hat natürlich in erster Linie ästhetische Gründe: er konterkarierte das Bild des Mondes als einer völlig toten Welt direkt vor unserer kosmischen Haustür, als Memento Mori, das den Ideen von der „Vielzahl der bewohnten Welten“ Hohn sprach. Die Viertelstunde des Ruhms dauerte bis 1870, als Simon Newcomb auf die inneren Widersprüche dieser Theorie Hinweis, aber in der populären Phantasie, der sich Autoren in der Regel eher verpflichtet fühlen, hielt sie sich länger – so wie eine Generation später auf das Phantom der „Marskanäle.“

David Lake, australischer Spezialist für das Werk von H. G. Wells und seines Zeichens ebenfalls SF-Autor, hat in der Kommentierung der „Ersten Menschen auf dem Mond,“ die er 1996 für die Oxford University Press ediert hat, gemutmaßt, daß Wells seine beiden Möchtegern-Kolonisatoren ebenfalls auf der Mondrückseite hat landen lassen – aus dem gleichen Grund.

Bei Wells, Żuławski und Griffith haben wir ein schönes Beispiel für „Steam Engine Time“ vor uns: das Phänomen, daß Erfindungen – in diesem fall literarischer Art – zur gleichen Zeit und völlig unabhängig voneinander gemacht werden – weil die „Idee in der Luft“ hängt. „The First Men in the Moon“ ist wie erwähnt, zwischen November 1900 und August 1901 im „Strand Magazine“ als Vorabdruck erschienen; Griffiths Zyklus „Stories of Other Worlds“ von Januar bis Juni 1900 in „Pearson’s Magazine“ (Buchfassung 1901) und „Na srebrnym globie“ von Dezember 1901 bis April 1902 in der Zeitschrift „Głos Narodu“ (Stimme des Volks), die von 1893 bis 1927 in Krakau erschien. Ein Blick in den Inhalt der drei Bücher zeigt, daß sie nichts miteinander zu schaffen haben: Wells‘ „Albtraum des Fleisches“ (wie G. K. Chesterton Wells’ „Scientific Romances“ charakterisierte) endet darin, daß sich Cavor stellvvertretend für die gesamte Menschheit vor dem streng logischen Grand Lunar verantworten muß wie einst Lemuel Gulliver vor dem König von Brobdingnag; Żuławski dekliniert einen „Kampf um Dasein“ ganz im Sinn des Sozialdarwinismus seiner Zeit durch.



Jerzy Żuławski, „Auf silbernen Gefilden. Ein Mond-Roman.“

Wir sind nur noch vier. In einer Weile treten wir die Reise an. Alles ist bereit: unser Fahrzeug hat sich, nachdem die Räder befestigt sind und nach Aufstellung des Motors, in einen Wagen verwandelt, der uns, diese Wüste durcheilend, dem Lande zuführen soll, wo wir leben und atmen können ... O’Tamor wird hier bleiben ...

Wir sind von der Erde geflohen, — aber der Tod, der mächtige Herr des Erdengeschlechtes, hat mit uns den Weltenraum durchflogen und uns gleich im Anfang in Erinnerung gebracht, daß er bei uns ist — unbarmherzig, siegreich — wie dort! Wir fühlten seine Gegenwart und Nähe, seine Allherrschaft so lebhaft wie niemals auf der Erde. Wir sehen uns unwillkürlich an: Wer kommt jetzt an die Reihe? ...

Es war noch Nacht, als plötzlich Selena aus der Ecke hervorkam, wo sie seit einigen Stunden zusammengekauert gelegen und, die Schnauze dem durch das Fenster leuchtenden Halbmond der Erde entgegenstreckend, entsetzlich zu heulen begann. Wir sprangen alle auf, wie von einer inneren Kraft in die Höhe geworfen.

— Der Tod kommt! schrie Martha.

Woodbell, der sich besser fühlte, stand am Lager O’Tamors und wandte sich langsam zu uns:

— Er ist schon gekommen, sagte er.

Wir trugen die Leiche aus dem Fahrzeug hinaus. In diesem felsigen Grunde ist es unmöglich ein Grab zu graben. Der Mond will unsere Toten nicht beherbergen — wie wird er uns Lebende aufnehmen?

Wir legten also die Leiche auf diesem harten Mondfelsen auf den Rücken, das Gesicht der am Himmel leuchtenden Erde zugekehrt und sammelten die hier und da auf der Ebene zerstreut liegenden Steine, um aus ihnen ein Grab zurechtzulegen. Wir umgaben den Dahingeschiedenen mit einem nicht allzu hohen Wall, konnten jedoch keine genügend große Steinplatte finden, um ihn zu bedecken. Da sagte Peter durch das Rohr, das unsere Köpfe verband und so eine Verständigung ermöglichte:

— Lassen wir ihn hier so liegen ... Siehst du nicht, daß er auf die Erde blickt?

Ich betrachtete den Toten. Er schien in der Tat mit verglasten, weit aufgerissenen Augen in das Auge der Erde zu starren, das sich immer mehr schloß, immer mehr vor dem Glanze der uns noch unsichtbaren Sonne, die bald aufgehen sollte. Mag er so liegen bleiben ...

Aus zwei Eisenstäben, den Bruchstücken des zerschmetterten Gerüstes, das uns während des Falles vorm Zermalmen bewahrt hatte, machten wir ein Kreuz und befestigten es auf dem Steinwall über dem Haupte O’Tamors.



Da — als wir die traurige Arbeit gerade beendet hatten und zum Fahrzeug zurückkehren wollten, geschah etwas Seltsames. Die Gipfel der Berge, die vor uns in dem fahlen Schein der Erde auftauchten, färbten sich plötzlich, ohne jeglichen Übergang, blutigrot und dann erstrahlten sie in einem weißlich glühenden Glanze auf dem Hintergrunde des tiefschwarzen Himmels. Der Fuß der Berge erschien jetzt, durch den Kontrast der Beleuchtung gänzlich verdunkelt, fast unsichtbar; nur die höchsten Kappen hingen über uns, wie ein im Feuer erglühter Stahl, sich allmählich, aber stetig vergrößernd. Infolge des Mangels der Luftperspektive, die auf der Erde die Schätzung der Entfernung ermöglicht, schienen diese weißen Flecke auf dem Hintergrunde des schwarzen Himmels, inmitten der Gestirne, gerade über unseren Häuptern zu hängen, wie abgerissen von dem felsigen Fundament, das sich in der Dämmerung verlor. Wir wagten kaum die Hand auszustrecken, aus Furcht, diese Stücke des lebendigen Lichtes zu berühren.

Sie aber wuchsen und wuchsen vor unseren Augen, als wenn sie sich uns in langsamer, unerbittlicher Bewegung näherten; bald waren sie so dicht vor uns, daß wir unwillkürlich zurückwichen ... gänzlich vergessend, daß diese Gipfel Hunderte, vielleicht auch Tausende von Metern von uns entfernt sind.



Plötzlich sah Peter sich um und stieß einen Schrei aus. Ich wandte, seiner Bewegung folgend, den Kopf und — stand wie festgebannt vor einem unerhörten, nicht zu schildernden Schauspiel im Osten!

Über dem schwarzen Grat eines Berges glimmte die blasse, silberne Säule eines Zodiakallichtes. Wir starrten, einen Augenblick den Toten vergessend, auf diesen Punkt, als unten an der Säule, dicht an der Grenze des Horizontes, kleine, springende rote Flämmchen im Kranze zu flackern begannen.

Die Sonne ging auf! Die mit so heißer Sehnsucht erwartete, lebenspendende Sonne, die O’Tamor hier nicht mehr sehen soll!

Wir weinten beide wie Kinder.

Und schon erstrahlte sie am Horizonte, hell und weiß. Jene zuerst wahrgenommenen roten Flämmchen waren Protuberanzen, starke Ausströmungen glühender Gase, die von der Sonnenkugel nach allen Richtungen hinschießen und auf der Erde, wo sie durch die Atmosphäre verblassen, nur während einer vollkommenen Sonnenfinsternis sichtbar sind. Hier, beim Fehlen der Luft, zeigten sie uns das Erscheinen der Sonnenscheibe an und werden es noch lange jeden Tag so anzeigen, für kurze Augenblicke einen blutigen Schein auf die Berge werfend, ehe sie in blendender Weiße im vollen Tagesglanz erglühen.



Nach einigen Minuten erschien an Stelle des roten Flammenkranzes ein weißes Segment der Sonnenscheibe über dem Horizont; eine volle Stunde brauchte diese Scheibe, um hinter den Felsen im Osten hervorzukommen.

Diese ganze Zeit hindurch waren wir, trotz der immensen Kälte, mit den Vorbereitungen zur Reise beschäftigt. Jeder Augenblick ist wertvoll; man darf die Abfahrt nicht länger hinausschieben. Jetzt ist schon alles bereit.

Es ist seit Aufgang der Sonne wärmer geworden. Ihre Strahlen, obwohl sie noch schräg fallen, wärmen mit der ganzen Kraft, da sie nicht durch die Atmosphäre abgeschwächt sind, wie dies auf der Erde der Fall ist. Ein seltsamer Anblick! ...

Die Sonne flammt wie eine strahlenlose Kugel, die auf den Bergen wie auf einem mächtigen schwarzen Kissen ruht. Es gibt hier nur zwei Farben, die durch ihren scharfen Kontrast das Auge unaussprechlich quälen: Weiß und Schwarz. Der Himmel ist schwarz und, obwohl es schon Tag geworden, mit einer unermeßlichen Anzahl von Sternen übersät; rings um uns breitet sich eine leere, wilde, Entsetzen erregende Landschaft, ohne Milderung des Lichtes, ohne Halbschatten, zur Hälfte schimmernd weiß vom Sonnenglanz, zur Hälfte dagegen in tiefes Schwarz gehüllt. Es fehlt jene Atmosphäre, die auf der Erde dem Himmel die wundervolle blaue Farbe verleiht, die, selbst von Licht übersättigt, die Sterne vor Sonnenaufgang verrinnen läßt und wonnige Dämmerungen schafft; die sich beim Morgen- und Abendrot in zartes Rosa taucht, in Regenbogen tränkt, mit Wolken verfinstert und feine Übergänge vom grellen Licht zur milden Dämmerung malt.

Nein, unsere Augen sind nicht für dieses Licht und diese Landschaftsbilder geschaffen!



Wir befinden uns auf einer weiten Ebene von massivem Gestein, das hie und da von Spalten zerrissen ist, die sich in nordwestlicher Richtung erstrecken. Im Westen (Osten und Westen unsrer Welt bezeichne ich, übereinstimmend mit der tatsächlichen Lage, also umgekehrt wie wir dies in den Mondkarten auf der Erde finden) im Westen also sieht man steile Hügel, über denen in nordwestlicher Richtung der zerrissene Grat eines Berges thront. Im Norden erhebt sich die Ebene allmählich, jedoch, wie es scheint, zu bedeutender Höhe. Nach Osten zu werden unzählige Spalten, Gebirgsvorsprünge und kleine Schluchten, die künstlich ausgegrabenen Vertiefungen ähneln, sichtbar, und gegen Süden erstreckt sich eine unabsehbare Flachebene.

Varadol behauptet, auf Grund der in Eile vorgenommenen Messungen des Höhenstandes der Erde am Himmel, daß wir uns tatsächlich auf dem Sinus Medii befinden, wohin wir nach den Berechnungen hätten fallen müssen. Mir scheint dies jedoch nicht ganz richtig zu sein, denn die Gipfel, die im Norden und Westen jene Flachebene begrenzen, nämlich die aus den Karten bekannten: Mosting, Sommering, Schroter, Bode und Pallas, entsprechen weder ihrer Lage noch ihrer Höhe nach dem, was wir hier vor uns sehen. Aber schließlich ist es einerlei! Wir fahren nach Westen, um längs dem Äquator, wo nach den Karten der Mondgrund am gleichmäßigsten zu sein scheint, diesen Globus zu umkreisen und auf seine andere Seite zu gelangen. Bald wird von uns hier nichts mehr übrig sein! Nur das Grab mit dem Kreuze bezeichnet für ewige Zeiten die Stelle, an der die ersten Menschen auf dem Monde gelandet sind.

Lebewohl denn, Grab meines Freundes, du erster Bau, den wir auf dieser neuen Welt errichteten! Lebewohl, toter Freund, teurer und treuloser Vater, der du uns von der Erde entführtest und beim Eintritt ins neue Leben verlassen hast! Das Kreuz, das über deinem Grabe steht, gleicht einer Standarte, die Zeugnis dafür ablegt, daß der siegreiche Tod mit uns gekommen und auch dieses Reich erobert und in Besitz genommen hat ... Wir fliehen vor ihm; du bleibst mit ihm zurück, ruhiger als wir, auf die unbewegliche Erde starrend, die dich gezeugt, das Kreuz, dessen treuer Bekenner du warst, über deinem Haupte.


(Zitiert nach der ersten deutschen Übersetzung von Kasimir Lodygowski, die 1914 in München beim Verlag Georg Müller erschienen ist. Die Illustrationen stammen aus der polnischen Erstausgabe, in der der Name des Zeichners nicht angegeben wird.)



(Umschlag der ersten ungarischen Übersetzung von 1922)

Die Übersetzungen der Texte von Munro und Clarke stammen von mir (wie auch die Übertragung von Keplers kurzer Passage).

U.E

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