"Was ist der Nordpol?" fragte Puh.
"Dunmer alter Bär!" sagte Christopher Robin. "Der Nordpol ist etwas, das entdeckt werden muß."
(A. A. Milne, Puh der Bär, 1926)
John Munro, "Wie ich den Nordpol entdeckte"
(Jules Verne gewidmet)
„Es ist möglich, und England sollte es tun!“
Das war der Titel eines Bildes eines bekannten Malers, das zu der Zeit, als wir unsere letzte Nordpolar-Expedition unter Kapitän Nares (jetzt Sir George) unternahmen, in der Öffentlichkeit für Aufsehen sorgte. Das Bild zeigte einen alten „Seebären,“ der von einer Karte der arktischen Regionen aufschaute und seinen Gefühlen mit diesen Worten Ausdruck verlieh, die aus dem tiefsten Herzen eines Volkes kamen, das mehr als jedes andere auf der Welt daran gesetzt hat, die großen Eiskappen unsere Welt zu erforschen. Sicher, es gab manche, die das Erreichen des Pols für ein kindisches und nutzloses Unterfangen hielten, oder es zumindest vorgaben, verglichen mit der wissenschaftlichen Erforschung der umliegenden Küstenregionen.
Beim Pol handelt sich mur um ein rein abstraktes Konzept, sagten sie, was macht es schon, wenn Kapitän Nares ihn nicht erreicht, wenn er zur Kenntnis der Geographie des Polarmeers beiträgt?
Vielleicht war es ihnen ja ernst damit – aber das Argument klang wie der Versuch, ein mögliches Scheitern kleinzureden. Wie dem auch sei, die allgemeine Öffentlichkeit, die nicht so gelehrt war, interessierte sich mehr für das Abenteuer als für die Wissenschaft. Sie hofften, daß unseren Seefahrern dieses Unternehmen gelingen würde und sie die englische Flagge auf dem obersten Punkt der Welt aufpflanzen würden. Und was würde dagegen sprechen?
Warum sollte es zwischen den Nationen nicht einen friedlichen Wettbewerb geben, wie zwischen den einzelnen Menschen, die um Ruhm und Ehre konkurrieren? Ist die Welt schon so alt und müde, daß es ihr egal ist, wer dies oder jenes vollbracht hat? Allein schon aus diesem Grund ist der Versuch, den Pol zu erreichen, lobenswert – weil er Männlichkeit und jugendlichen Unternehmungsgeist fördert.
Nares hat die nördlichen Passagen des Smithsund erkundet und eine Fülle wissenschaftlicher Daten mit zurückgebracht, aber er erreichte den Pol nicht, obwohl Leutnant Markham einen kühnen Vorstoß über das Packeis unternahm und den Union Jack weiter nördlich aufpflanzte, als je ein Mensch zuvor gewesen war. Eine Polarexpedition ist ein kostspieliges Unternehmen, und selbst ein wohlhabendes Land kann sich einen solches Luxus nicht allzuoft erlauben.
Aus diesem Grund hat sich England seitdem damit begnügt, anderen Nationen bei ihren Versuchen zuzuschauen, als wenn es sagen wollte: „Macht’s besser als wir!“ Was auch passiert ist. Von mehreren Versuchen, den Pol auf den drei möglichen Routen ins arktische Becken zu erreichen, hat der von Leutnant Greeley über den Smithsund die Stars and Stripes weiter nördlich aufgerichtet als „Markham’s Farthest.“
Die Schwierigkeit, den Pol im Sturm zu erobern, hat zu Plänen für ein etappenweises Vorgehen geführt; das will sagen: indem Vorratslager angelegt werden, die jeweils um 100 oder 200 Meilen vorgeschoben werden. Leutnant Peary hat gezeigt, wie einfach es heute ist, in der Arktis zu überwintern, und der Plan ist mit Sicherheit durchführbar, falls die Route über Land oder Packeis führt, aber all dies ist offenkundig eine Frage der Zeit.
Dr. Nansen hat den verwegenen Plan gefaßt, sein Schiff nördlich von Sibirien im Eis einschließen zu lassen und sich mit den Strömungen über das Polarmeer so nahe wie möglich zum Pol treiben zu lassen. Ich war dabei, als er im letzten Winter sein Vorhaben bei einer Sitzung der Königlichen Geographischen Gesellschaft vorstellte und kann seinen Glauben an seine eigene Theorie und seinen anstehenden Erfolg, wie ihn einst auch Kolumbus gezeigt hat, nur bewundern, obwohl erfahrene Polarfahrer mit ihren Befürchtungen, daß ein solches Unternehmen aussichtslos sein dürfte, nicht hinter dem Berg hielten.
Er plante, im folgenden Sommer mit seinem kleinen Segelschiff, der Fram, in See zu stechen und bis zur Eisgrenze irgendwo zwischen Kap Tscheljuskin und den Neusibirischen Inseln zu segeln. Dort würden er und seine zwölf Gefährten den Polarwinter in der üblichen Weise verbringen. Als Neuerung war ein elektrisches Licht auf der Mastspitze vorgesehen, die von einer Windmühle mit Strom versorgt werden sollte, und tägliche sportliche Ertüchtigungsübungen für seine Männer. Während der Wintermonate würde das Schiff kaum vorankommen, aber im folgenden Frühjahr und Sommer würde der Abfluß der sibirischen Ströme, besonders der Lena, und der Druck, den die von Süden kommenden Winde auf das Packeis ausüben, das Schiff in Richtung Pol bewegen.
Falls das Schiff vom Eis zerdrückt werden sollte, würde er seine Boote in Sicherheit bringen und ein Lager auf dem Eis aufschlagen. Wenn die Vorräte zur Neige gehen sollten, würde er seine Mannschaft mit den winzigen Krebstieren, von denen es im Eismeer wimmelt, ernähren. Die Zeit seiner Fahrt würde von der Schnelligkeit der Trift abhängen, und bis man von ihm wieder Nachrichten aus dem Norwegischen Meer zwischen Spitzbergen und Grönland, erhalten würde, könnte es vom nächsten Sommer bis hin zu fünf Jahren dauern. Abschließend bat er seine Zuhörer darum, ihn und seine Gefährten in ihrem Exil mit guten Wünschen zu begleiten, und es gibt sicher viele, denen das Bild des einsamen Schiffs mit seinem elektrischen Stern vor Augen steht, der das Licht der Zivilisation in der langen Polarnacht auf dem eisigen Dach der Welt leuchten läßt.
„Es ist möglich, und England sollte es tun!“ Die Worte kamen mir an jenem Abend immer wieder in den Sinn, und es sah ganz so aus, daß England keine Zeit verlieren durfte, wenn es erster sein wollte. Aber wie sollte das geschehen? Als ich nach Hause kam, rollte ich eine der Karten Nansens, die ich von seinem Vortrag mitgebracht hatte, vor mir aus und dachte darüber nach. Ein Vorstoß zum Pol mit Hundeschlitten wäre jetzt vielleicht aussichtsreicher, wenn man eine Stromleitung über das Eis verlegen könnte, damit die Forscher mit ihrem Schiff oder anderen Lagern in ständiger Verbindung bleiben könnten und sie mit Strom (oder zumindest mit Wechselstrom) für Wärme, Licht oder sogar Antriebskraft versorgt werden könnten.
Es bestanden freilich nur geringe oder gar keine Aussichten, daß die Regierung eine weitere Expedition finanzieren würde, die von den meisten als sinnlos betrachtet werden würde. Es wäre auch denkbar gewesen ein Unterwasserfahrzeug in der Manier von Jules Verne zu bauen, und wenn der Pol zugefroren wäre, wäre es möglich, das Eis mit Dynamit zu sprengen, um auftauchen zu können.
Auch ein lenkbarer Ballon mit einer geschlossenen und beheizbaren Gondel oder eine Flugmaschine kämen zur Überwindung des Luftwegs in Frage. Solche Transportmittel existierten aber nur in primitivster Form; sie waren der Zukunft vorbehalten. Und dann kam mir der Gedanke: warum müssen wir uns eigentlich selbst dahin bemühen, wenn wir einen Automaten in Gestalt eines kleinen Ballons losschicken können, der mit einer selbsttätigen Kamera ausgestattet ist, um den Pol zu photographieren, und mit selbsttätigen Instrumenten für wissenschaftliche Beobachtungen?
Falls das arktische Eis im kommenden Sommer überhaupt passierbar sein sollte, könnte sich ein Schiff dem Pol bis auf 500 oder 600 Meilen nähern und an unterschiedlichen Positionen im Polarmeer eine ganze Reihe solcher Ballons starten, sobald der Wind günstig steht. In den mittleren Höhen ist die vorherrschende Windrichtung dort südlich, also vom Pol weggerichtet, aber in großer Höhe und auch in Bodennähe weht er zumeist in Richtung des Pols. Auf diese Südwinde setze ich meine Hoffnung – und selbst wenn es mir so nicht gelingen würde, den Pol selbst zu erreichen, so könnte ich ihm doch ziemlich nahe kommen oder zumindest etwa zu unserer Kenntnis des Polarmeers beitragen.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger phantastisch erschien sie mir, und ich begann mit Versuchen, um sie in die Praxis umzusetzen. Ich erspare mir hier eine genaue Beschreibung dieser tastenden Versuche mit dem Zweck, einen geeigneten Ballon zu entwerfen und die nötige Ausstattung zu entwickeln. Auch werde ich in diesem kurzen Artikel nicht alle technischen Details beschreiben, die sich nach vielen Versuchen als die am besten geeigneten erwiesen haben. Erwähnt sei nur, daß die Ballonhülle aus einer dreilagigen, überaus undurchlässigen Goldschlägerhaut bestand, die mit Wasserstoff oder Leuchtgas befüllt wurde.
Da das Gewicht, das der Ballon tragen mußte, relativ gering war, konnte die Größe des Ballons kleine gehalten werden. Eine Gondel, oder besser: ein Rahmen aus Bambus und Stahlrohren hing unter dem Ballonnetz wie ein Senkblei, und sorget dafür, daß sich das Ganze aufrecht hielt. An dieser Gondel befestigte ich eine Reihe von Kameras mit Selbstauslösern, um Photographien vom Land und Meer darunter und vom Himmel darüber zu gewinnen. Sie verfügten über Magazine für eine Reihe von Negativen und Objektiven mit unterschiedlich langer Brennweite, um die unterschiedliche Flughöhe des Ballons auszugleichen, und wurden in regelmäßigen Abständen durch Uhrwerke ausgelöst.
Die Kameras für die Himmelsbeobachtung platzierte ich am Rand des Gerüsts, damit die Hülle nicht die Sicht versperrte. Wenn man davon ausgeht, daß auf diese Weise während des Flugs alle 10 oder 15 Minuten Bilder aufgenommen werden können, die die Flugbahn des Ballons zeigen, dann stellt sich die Frage: wie läßt sich die genaue Position ermitteln, bei der jedes davon entstanden ist, und wie stellt man fest, daß der Pol erreicht ist? Darin liegt schließlich das Kernproblem des ganzen Unterfangens. Während der Dunkelheit der Polarnacht dürfte es einfach genug sein, wenn man eine Aufnahme Meeres mit einer des Nachthimmels darüber vergleicht, die zur gleichen Zeit aufgenommen worden ist, und diesen Zeitpunkt kennt, aber nicht in der Helligkeit des Polarsommers.
Die geschätzte Geschwindigkeit des Ballons, die sich aus der Windgeschwindigkeit und -richtung ergibt, die des Magnetkompass zeigt, könnte eine grobe Schätzung ermöglichen wie bei denen, die in der Seefahrt mittels Kompass und Logleine ermittelt, was als Kontrolle nützlich, aber für sich nicht genau genug war. Ich griff daher auf das Gyroskop zurück, wie es die französische Marine verwendet, und modifizierte es, um es als „Polanzeiger“ einsetzen zu können. Ein solcher Kreisel, der den Spielzeugen ähnelt, mit denen sich Schuljungen amüsieren, hat die Eigenschaft, daß seine Rotationsachse immer in der gleichen Richtung ausgerichtet bleibt, ganz gleich wie er bewegt wird.
Wenn ich also das Gyroskop so in Drehung versetzen würden, daß seine Rotationsachse parallel durch Rotationsachse der Erde liegen würde – also der gedachten Verbindungslinie zwischen Nord- und Südpol, dann würde diese Rotationsachse beim Erreichen des Pols genau senkrecht nach unten weisen. Mit anderen Worten: am Nordpol würde die Achse des Kreisels genau in einer Linie mit einer senkrecht darunter hängen Meßvorrichtung liegen. Ich mußte nur ein geeignetes Gyroskop an der Spitze der Gondel und ein Senkblei darüber so montieren, daß mit Hilfe von Kardangelenken eine oder mehrere Kameras ausgelöst wurden und Bilder vom Himmel und vom Meer aufnahmen, sobald die Rotationsachse des Gyroskops genau auf das Lot ausgerichtet war.
Am Gondelgerüst montierte ich eine Reihe wissenschaftlicher Instrumente zur Bestimmung der atmosphärischen Verhältnisse, darunter Alkoholthermometer zur Registrierung der niedrigsten und höchsten Temperaturen, ein Dosenbarometer, ein Hygrometer, ein Staubmessgerät, ein Magnetometer und einen Magnetkompass. Mit Ausnahme des Barometers, das seine Werte automatisch aufzeichnete, wurden die Anzeigen der übrigens Instrumente in regelmäßigen Abständen automatisch von Kameras aufgenommen.
Ich konstruierte verschiedene Möglichkeiten dafür, sowohl mechanisch als auch elektrisch, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, aber am besten gefiel mir ein einfacher elektrischer Kontakt, der zwischen der Achse des Gyroskops, sobald sie genau senkrecht stand und dem speziell konstruierten Senkgewicht geschlossen wurde. Die Stromversorgung übernahm eine Trockenbatterie, die selbst bei großer Kälte nicht einfrieren würde, und die die Kameras für die Land- und Himmelsphotographie mit Energie versorgte, wie auch das Gyroskop antrieb.
Um den Weg der Ballons nachzuverfolgen und sie bergen zu können, installierte ich eine automatische Auswurfvorrichtung für Nachrichten auf Kärtchen, die in verschiedenen Sprachen wie Englisch, Französisch, Russisch und Norwegisch bedruckt waren. Diese Kärtchen wurden in regelmäßigen Abständen ausgeworfen, fielen auf die Erde, und die Finder, die sie lasen, wurden gebeten, auf dem dafür freigelassenen Abschnitt zu notieren, wo und wann er die Botschaft gefunden hatte, und wenn er den Ballon gesichtet hätte, wie hoch er flog, wie schnell und in welche Richtung. Fall er den Ballon selbst finden sollte, sollte er die Fundumstände genau angeben und ihn sorgfältig aufbewahren, bis er vom Besitzer abgeholt würde – wofür ihn eine Belohnung versprochen wurde. In jedem Fall sollte er die ordnungsgemäß ausgefüllte Karte entweder an meine Adresse oder an die Behörden seines Landes schicken, die ich aufgelistet hatte.
Während ich meine Ballons vorbereitete, traf ich auch Anstalten, sie in die Arktis zu transportieren und zu ihrer Aufklärungsmission zu starten. Ich hatte vor, das Gebiet nördlich von Spitzbergen anzulaufen, wo das Packeis mitunter durch den Golfstrom offengehalten wird, und zu versuchen, mich dem Pol möglichst weit zu nähern, bevor ich sie startete. Um jedoch nicht nur auf eine Position beschränkt zu sein und damit gewissermaßen alles auf eine Karte zu setzen, hatte ich vor, in Richtung Nowa Zembla weiterzufahren und falls es die jahreszeitlichen Verhältnisse zuließen, die Nordostpassage in Richtung der Beringstraße zu durchqueren. Auf diese Weise wollte ich einen Halbkreis um die gesamte Polregion beschreiben, bei günstigem Wind meine Ballons steigen zu lassen und so zu versuchen, eine Erkundung gesamten Polarmeer anzugehen. Zu diesem Zweck charterte ich einen kleinen dampfgetriebenen Walfänger, die „Lodestar,“ der in Dundee registriert war. An dieser Stelle muß ich den Walfängern dieser Stadt und von Peterhead meinen Dank aussprechen für die guten Ratschläge und ihre Unterstützung, an der sie es nie fehlen ließen. Kapitän Macrae, der Skipper der „Lodestar,“ war ein erfahrener Seemann, den nicht nur viele Jahre lang im Walfang und der Robbenjagd tätig gewesen war, sondern auch Handelsfahrten bis hin zur Mündung der Lena unternommen hatte. Sein erster Offizier hatte Herrn Lamont bei seinen Jagdausflügen nach Spitzbergen und Nowa Zembla auf der Dampfyacht „Diana“ begleitet, und einige Matrosen der Mannschaft waren sowohl mit Kapitän Nares wie auch mit Walfängern auf Grönlandfahrt gefahren.
Am 30. Juni 1893 war die „Lodestar“ fertig beladen und zum Auslaufen bereit. Dr. Nansen war schon zu seiner gefährlichen, um nicht zu sagen leichtsinnigen Expedition aufgebrochen und befand sich auf dem Weg zum Kap Tscheljuskin.
Wir verließen Dundee am 1. Juli, und nach einem Zwischenaufenthalt in Lerwick, um die Vorräte an frischem Fleisch und Gemüse aufzustocken, setzten wir zum norwegischen Hammerfest über, wo wir Kohle bunkerten und dampften dann genau nach Norden in Richtung Spitzbergen. Das Wetter war gut, der Wind blies nur schwach, und das kristallklare Meer zeigte ein leuchtendes tiefes Blau. Nur der gelegentliche Anblick eines Sturmvogels oder das Ausblasgeräusch eines Finnwals gaben uns einen Hinweis darauf, daß wir uns bereits in den arktischen Regionen befanden. Aber bald schon tauchten Schwärme von Meerestauchern auf, die das Schiff umflatterten, und in der Takelage ließen sich Schneeammern nieder. Vor uns tauchten die kahlen Hügelketten der Bäreninsel auf, die normalerweise in dichten Nebel gehüllt sind, und wir fuhren durch unrein-grünliches Wasser, in dem es von Kleinlebewesen wimmelte, so daß uns klar wurde, daß wir die warme Strömung des Golfstroms hinter uns gelassen hatten. Auf dem Wasser zeigten sich die schwarzen Umrisse auftauchender Robben und Walrosse, und am 9. Mai tauchten die Berge und Gletscher von Spitzbergen vor uns auf. Nach der Durchquerung der tausend Inseln umschifften wir die Ostküste, wo wir auf Treibeis stießen, und erreichten nach zwei Tagen das Nordkap. Auch auf dem Kurs in Richtung der Sieben Inseln fanden wir Treibeis vor, das aber nicht dicht genug war, um eine Kursänderung von unserem Ziel am Nordende der Parry-Insel nötig zu machen, wo wir bei 80 Grad und 40 Minuten nördlicher Breite und 21 Grad östlicher Länge Anker warfen.
Die Insel besteht aus zwei Bergen, die mit arktischen Gräsern bedeckt sind, und war von einem Gürtel aus Packeis umgeben. Wir schickten Kundschafter aus, um die Berge zu besteigen und uns über die Eisverhältnisse im Norden der Insel zu berichten, und das der Wind günstig war, bereitete ich mich darauf vor, meinen ersten Ballon vom Fuß des Eisfelds aus zu starten, wo ich mehr Platz hatte als auf dem Schiffdeck. Der Wind blies mit einer Geschwindigkeit von 25 oder 30 Meilen aus Süden, und da wir uns etwa 560 Meilen vom Pol entfernt befanden, wäre er in gut 24 Stunden zu erreichen, wenn die Windverhältnisse so blieben. Meine Berechnungen hinsichtlich des nötigen Auftriebs des Ballons und die Einstellungen der Kameras waren schnell erledigt; die Hülle wurde mit dem Leuchtgas aus den Stahlzylindern, in denen es unter Druck enthalten war, befüllt, und die Instrumente wurden am Gondelgerüst an den vorgesehenen Stellen befestigt. Um drei Uhr nachmittags war alles bereit, und der Ballon blähte sich in der Luft unter den Halteseilen, die von unseren Männern gehalten wurden und wartete auf das Startkommando.
„Loslassen!“ rief ich, und sofort schoß der Ballon in die Höhe, unter dem die Gondel baumelte, und segelte majestätisch in Richtung des Pols. „Hurra!“ riefen die Männer, und während wir atemlos zusahen, wie sich der schimmernde Tropfen in der Weite verlor, murmelte ich vor mich hin: „Es ist möglich, und England sollte es tun!“
Da einer der Kundschafter von dichtem Eis im Norden berichtet hatte, entschloß ich mich, zunächst vor Ort zu bleiben und einen zweiten Ballon loszuschicken. Nachdem wir damit fertig waren, erhielten wir Nachricht, daß die Eisdecke im Norden dünner geworden war und daß dahinter ein „Wasserhimmel“ auszumachen war. Da wir vorhatten, so weit wie möglich nach Norden vorzustoßen, fuhren wir erneut los und schafften es, durch Manövrieren und langsame Fahrt durch die Treibeisfelder einen Bereich offenen Wassers zu erreichen, dem wir bis 81 Grad und 43 Minuten nördlicher Breite und 22 Grad und 0 Minuten östlicher Breite folgten – der nördlichste Punkt unserer Reise , an dem wir unseren dritten Ballon vom Schiffdeck aus starteten. Bis zum Pol waren es nur noch ungefähr 500 Meilen, aber der Wind hatte nachgelassen und drohte ganz abzuflauen. Unsere Position war gefährlich, denn das Packeis, das vom Südwind aufgebrochen war, fing an, sich infolge der Windstille wieder zu schließen, und da wir keine Zeit zu verlieren hatten, gab ich Befehl, Kurs auf Nowa Zembla zu setzen.
Unser Kurs führte uns am geheimnisumwitterten Gillisland entlang, dessen runde Bergekuppeln hinter dem Eisfeld zu sehen waren, das es umgab. Der Wind hatte auf Nordost gedreht, und es schien sich ein Schneesturm im Anzug zu befinden, aber ich wollte die hohen Breitengrade nicht verlassen, ohne noch einen weiteren Startversuch zu unternehmen, und ließ einen Versuchsballon aufsteigen, um festzustellen , ob der Wind in größeren Höhen auf Richtung Süden blies. Als sich dies Vermutung als zutreffend erwies, schickte ich einen vierten Ballon mit größerer Tragfähigkeit los, der von der kräftigeren Strömung ergriffen wurde, nach er die unteren Luftschichten passiert hatte, und schnell in Richtung Pol getrieben wurde. Zu diesem Zeitpunkt, an 13. Juli, befanden wir uns bei 80 Grad nördlicher Breite und 35 Grad und 10 Minuten östlicher Länge.
Wir hielten südlichen Kurs durch das Treibeis und gelangten zur Ostseite der Admiralitätsinsel, die Teil von Nowa Zembla (75 Grad und 0,5 Minuten nördlicher Breite und 54 Grad östlicher Länge) bildet, wo wir am 21 Juli Anker warfen. Die Eisverhältnisse hinderten uns daran, in Richtung Norden zum Kap Nassau oder sogar noch weiter zu fahren, und ein heftiger Schneesturm aus östlicher Richtung sorgte dafür, daß wir unsere Fahrt unterbrechen mußten. Nach zwei Tagen schwächte sich der Sturm ab, und nach einem weiteren windstillen, nebligen Tag kam eine Brise aus Süden auf, so daß wir zwei weitere Ballons starten konnten. Wir nahmen Kurs nach Süden, fanden in der Matoschkinstraße offenes Wasser vor und liefen in die Karasee ein.
Sie war weitgehend eisfrei, von einigen brüchigen Eisschollen abgesehen, und trotz Gegenwind und dichtem Nebel konnte wir am 17. August am Kap Tscheljuskin oder Nordostkap (77 Grad und 30 Minuten nördlicher Breite und 104 Grad östlicher Länge) vor Anker gehen. Wir lagen dort drei Tage in einer kleinen Bucht dieses niedrigen Vorgebirge, das den nördlichsten Punkt Asiens markiert, warteten auf günstigen Wind und nahmen Kontakt zu den Samojeden auf, die in der Nähe ein Lager aufgeschlagen hatten und uns berichteten, daß Nansen vor vielen Wochen hier vorbeigekommen war. Am 20. Juli stellten wir fest, daß die Höhenwinde in Richtung Pol bliesen, und ließen einen weiteren Ballon frei, sehr zum Erstaunen der Samojeden.
Gleich darauf machten wir uns auf den Weg zu den Liaschoff- oder Neusibirischen Inseln, aber aufgrund des Eis- und Wetterverhältnisse mußten wir die Küste weiträumig umschiffen, und erreichten Liaschoff erst am 30. August. Dort, unter 70 Grad und 10 Minuten nördlicher Breite und 141 Grad östlicher Länge, starten wir zwei Ballons (Nr 8 und 9) bei kräftigem Südwind und setzten dann unsere Reise fort. Der Bereich des freien Wassers zwischen dem Rand des Packeises und der Küste wurde beständig schmaler, aber trotz lästiger Nebel und Untiefen erreichten wir die Bäreninseln (auf 71 Grad nördlicher Breite und 161 Grad östlicher Länge) und starten am 2. September einen weiteren Ballon. Unser Versuch, östlichen Kurs auf das Kap Schlegsski (70 Grad nördlicher Breite und 171 Grad östlicher Länge) zu nehmen, scheiterte. Wir fanden den Weg durch undurchdringliche Eismassen versperrt und mußten weiter der schmalen Fahrrinne entlang der Küste folgen. Am 6. August umrundeten wir das Kap Schelagski, und gingen vor Anker,, um auf günstigen Wind zu warten. Als ich am nächsten Tag das nahegelegene Zeltlager einiger Tschuktschen aufsuchte, stieg ich auf einen kleinen Hügel und sah in nördlicher Richtung offenes Meer, das sich als eine Einbuchtung im Eis westlich des Wrangellands herausstellte. Wir nahmen also Kurs Norden und erreichten eine Position bei 73 Grad und 14 Minuten nördlicher Breite und 172 östlicher Länge, wo wir am 14. September vom Schiffsdeck aus unsere letzten Ballons starteten. Während wir zuschauten, wie sie in der Ferne verschwanden, bemerkte keine von uns, wie sich das Eis um uns herum schloß, und bevor wir es gewahr wurden, waren wir wie in einer Falle gefangen. Das Schiff wurde grausam zwischen den mahlenden Schollen eingezwängt, hielt aber zum Glück dem fürchterlichen Druck stand. Es war so spät im Jahr, daß sich fortwährend neues Eis bildete, und ich fürchtete schon, daß wir für den Winter festsitzen würden, aber mit Hilfe von Dynamit gelang es uns, einen Weg nach Süden freizusprengen. Als wir auf unserem Ostkurs das Wrangelland hinter uns gelassen hatten, wurde das Wetter milde und regnerisch, und am 18. September umrundeten wir das Ostkap und liefen in die Beringstraße ein. In Vancouver verließ ich das Schiff, das die Heimreise über Kap Hoorn antrat, nahm die Canadian Pacific Railway nach New York und traf am 31. Oktober nach vier Monaten Abwesenheit wieder in London ein.
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Es verging einige Zeit, ohne daß ich etwas von meinen Ballons hörte, und ich fürchtete schon, nach ich nie mehr etwas über ihren Verbleib erfahren würde, als ich zu meiner Überraschung eine Sendung der Hudson Bay Company zugestellt bekam, der ein Brief beigefügt war, der vom Chief Factor von Fort Enterprise, einen Handelsposten für den Pelzhandel der Gesellschaft in Rupert’s Land, an mich adressiert worden war. Mit Herzklopfen erbrach ich den Umschlag und las hoch erfreut, daß in der Nähe des Forts einer meiner Ballons gefunden worden war, der sich auf dem Weg nach Süden befand.
Wie es schien, hatte ein Tlicho-Indianer, der dort Ende September auf der Jagd war, den Ballon über den Great Bear Lake fliegen sehen und ihn, nachdem er seinen Schrecken über dieses Flugobjekt überwunden hatte, ihn mit einem gezielten Gewehrschuss abgeschossen. Da er vor einem Rätsel stand und den Verdacht hegte, es könne sich hier um eine „neue Medizin“ des weißen Mannes handeln, hatte er den Ballon mit seiner Familie nach Fort Enterprise gebracht, wo ihn der Pelzhändler in Augenschein nahm und an die angegeben Adresse weitergeschickt hatte, nachdem er eine meiner Karten gelesen hatte.
Fort Enterprise liegt am Winter Lake, zwischen den Oberläufen der Flüsse Yellow Knife and Coppermine, auf 64 Grad und 15 Minuten nördlicher Breite und 113 Grad und 30 Minuten westlicher Länge. Ich muß zugeben, daß nicht nicht damit gerechnet hate, daß es einen meiner Ballons in dieser Ecke die Welt verschlagen würde. Wie man sich denken kann, war ich äußerst gespannt, was er bei seinem Flug über das Polarmeer aufgezeichnet hat. Vor gut einer Woche ist er eingetroffen, und obwohl die Instrumente stark beschädigt waren, mußte ich feststellen, daß meine Anstrengungen nicht ganz umsonst gewesen sind und einige der Bilder nach ihrer Entwicklung gut auswertbar waren.
Der Ballon erwies sich als die Nummer 9. Man wird sich erinnern, daß dies einer der beiden Ballons war, die wir von der Liachov- oder Liaschoff-Insel, einer der neusibirischen Inseln, auf 73 Grad nördlicher Breite und 141 Grad östlicher Länge gestartet hatten. Den Angaben des Kompasses zufolge hatte er einen Kurs in nordöstlicher Richtung genommen, und ein Bild des Eismeers, das bei 79 Grad nördlicher Breite und 125 östlicher Länge aufgenommen war, gab mir zunächst einige Rätsel auf. Es zeigte einen dunklen Fleck inmitten einer weißen Eiswüste, der die Umrisse eines Schiffs hatte, mit weiteren kleinen schwarzen Punkten, bei denen es sich um Menschen handeln könnte. Als ich diese Stelle vergrößerte, stellte ich erstaunt fest, daß es sich tatsächlich um ein Schiff handelte, das im Packeis gefangen war. Ich glaube sogar, bei einer der schemenhaften Gestalten an deck die Züge von Dr. Nansen ausgemacht zu haben, der seinerseits den Ballon mit einem Fernglas beobachtete! Wenn ich bedenke, wie unwahrscheinlich es ist, daß sich in diesem Gebiet ein anderes Schiff im Eis aufhält, muß ich davon ausgehen, daß dieses Bild die Fram zeigt.
Ein weiteres interessantes Bild zeigt, so scheint es mir, daß sich nördlich von Nansens Position eine große Insel oder eine Kontinentalmasse befindet, die sich fast bis zum Pol, wenn auch nicht ganz bis dorthin, erstreckt. Leider sich die Bilder, die dort entstanden sind, unscharf und verschwommen, aber ich meine, die Umrisse von schneebedeckten Hügeln und Gletschern ausmachen zu ausmachen zu können.
Was den Pol selbst betrifft, so möchte ich ich feststellen, daß ich bei den Aufnahmen der Kameras, die durch das Gyroskop (oder den „Polanzeiger“) ausgelöst worden sind, mehrere Aufnahmen gefunden habe, die sämtlich undeutlich und unscharf ausgefallen sind, auf denen aber in allen Fällen eine gefrorene Ödnis aus Eis und Schnee zu sehen ist, kein offenes Meer. Sie sind aus großer Höhe aufgenommen worden, und diese Umstand macht es, zusammen mit dem Gleißen des Schneefelder, fast unmöglich, hier weitere Einzelheiten auszumachen. Auf einem der Bilder sind Spuren von Schründen an der Oberfläche zu erkennen, aber ob es sich hier um Hügel oder um aufgeworfene Eisschollen handelt, kann ich nicht entscheiden. Wie immer dem auch sei – ich bis davon überzeugt, daß ich den Nordpol entdeckt habe – zwar nicht von meinem Lehnsessel aus, aber doch immerhin nur mit dem Aufwand einer Urlaubsreise.
In der Nähe des Pols scheint der Ballon von einer Aufwärtsströmung in eine große Höhe getragen worden zu sein (höher, als ich gerechnet hatte) und dann vom Wind nach Südosten in Richtung Grönland gedriftet zu sein; ein oder zwei Bilder von diesem Abschnitt des Flugs zeigen Land, des zwischen dem Pol und dem jetzigen Grahamland liegt. Ob diese Landfläche bis zum pol selbst reicht und wie weit sie sich nach Süden erstreckt, kann ich nicht sagen, weil der Vorrat an negativen erschöpft war. Anschließend scheint der Ballon in südwestlicher Richtung geflogen zu sein, bis er schließlich von dem indianischen Schützen abgeschossen wurde. Einen ausführlicher Bericht über die Ergebnisse werde ich in meinem Buch liefern, das ich demnächst veröffentlichen werde, einschließlich unseres Expeditionsberichts, der Wiedergabe der Photographien und der gewonnenen Forschungsergebnisse.
Die Vorteile einer solchen automatischen Fernerkundung liegen auf der Hand, ich spare mir den Hinweis, daß ihr eine große Zukunft bevorsteht, besonders was die Frage der Erkundung des Südpols und der Gebiete um die Antarktis sowie anderer unzugänglicher oder zumindest unerforschter Gebirge und Wüsten angeht. Solche Forschungsballon werden die Erforschung durch den Menschen nicht ersetzen, sondern sie erleichtern, weil er das Gebiet, in das der Reisende aufbricht, im Voraus erkundet und ihm einen Blick aus der Vogelperspektive gewährt.
P.S. – Während ich die Druckfahnen dieses Artikels korrigiere, erhalte ich soeben ein Telegramm von der Regierung in Sankt Petersburg, in dem mir mitgeteilt wird, daß einer meines Ballons in der Nähe einer Siedlung im Norden Sibiriens, deren Namen ich nicht entziffern kann, gefunden worden ist und jetzt sicher in Jakutsk aufbewahrt wird.
(„How I Discovered the North Pole,“ erschien in “Cassell’s Family Magazine” in der Ausgabe vom Juni 1894, in der siebten Nummer des 20. Jahrgangs. Die Illustrationen stammen von W. Thomas Smith, 1862 geboren, der zu Beginn seiner Laufbahn als Künstler zwischen Anfang 1894 und Anfang 1897 für gut 50 verschiedene Illustriertennummern der „Strand“ in der Hauptsache aber dem „Boy’s Own Paper“ abgeliefert hat. Da sich die Sujets zumeist auf das Thema „Polarfahrten“ und dem Hohen Norden beschränken, nehme ich an, daß hier eine Personalunion mit dem Künstler William Thomas Smith vorliegt, der 1862 in Belfast geboren wurde, bis 1902 in London nachzuweisen ist und anschließend nach Kanada emigrierte, wo er als Landschaftsmaler im impressionistischer Manier mit oft arktischen Themen reüssierte und wo er 1947 starb.)
(Deutsche Schulwandkarte der Nordpolarregionen aus dem Jahr 1895)
Fußnoten
„Kapitän Nares (jetzt Sir George)“: George Nares (1831-1915), der erste Arktiserfahrungen in den Jahren 1852 bis 1854 an Bord der HMS Resolute auf einer der Suchexpeditionen gesammelt hatte, die die englische Admiralität zur Suche nach dem Verbleib der Franklin-Expedition von 1845 losgeschickt hatte, leitete 1875-1876 die Britische Arktis-Expedition, die in der Hoffnung auf ein eisfreies Polarmeer den Weg zum Nordpol finden sollte.
Beim Smithsund handelt es sich um eine zwischen 40 und 50 km breite Wasserstraße, die sich zwischen dem nördlichen Westufer Grönlands und Kanada erstreckt, und dessen Durchfahrt riskant ist, weil dort das ganze Jahr über Packeis anzutreffen ist.
„Peary hat gezeigt, wie einfach es ist, heute in der Arktis zu überwintern“: Robert Peary Überwinterte zum ersten Man im Nordern Grönlands während des Winter 1891-92, auf der er nachweisen konnte, daß es sich bei Grönland tatsächlich um eine Inseln handelt.
„Ich war dabei, als er im letzten Winter sein Vorhaben bei einer Sitzung der Königlichen Geographischen Gesellschaft vorstellte“: Fritjof Nansen stellte seinen Plan zuerst im Februar 1890 vor der Norwegischen Geographischen Gesellschaft in Christiana, dem heutigen Oslo, vor. Ausgelöst war das Vorhaben durch den Fund von Trümmerstücken des amerikanischen Schiff „Jeanette“, das 1881 vor der Küste Nordsibiriens gesunken war. Drei Jahr später wurden sie in Ostgrönland angetrieben, so daß es offenkundig eine Strömung gab, die das Eis über das Polarmeer, womöglich sogar über den Pol selbst trieb. Der Vortrag, auf den Munros Erzähler hier anspielt, fand am 5. Februar 1892 vor der Royal Geographical Society in London statt. Bei der anschließenden Sammlung kamen 300 Pfund Sterling zur Finanzierung dieses Vorhaben zusammen.
Die Fram verließ Oslo am 24. Juni 1893, erreichte Trondheim am 5. Juli Tromsö, nördlich des Polarkreises eine Woche später. Am 3. August erreichte Nansen die Karasee. Im März 1895 machte sich Nansen zusammen mit Fredrik Hjalmar Johansen und einem Gespann von Schlittenhunden auf den Weg zum noch 660 km entfernten Nordpol, da die Eistrift das Schiff nicht in die geplante Richtung getrieben hatte. Auf diesem Treck erreichten die beiden mit 86 Grad und 13,6 Minuten nördlicher Breite (dieser Duktus färbt ab…) eine Position, die um mehr als 3 Breitengrade weiter nördlich lag, als sie je ein Mensch zuvor erreicht hate. Da sich das Vorwärtskommen immer mühseliger gestaltete, beschlossen sie umzukehren und erreichten am 4.Juni 1896 das Franz-Josefs-Land, wo sie zwei Wochen später von George Frederick Jackson, der diese Insel kartierte, gefunden wurden. Nachdem Jacksons Versorgungsschiff „Windward“ am 26 Juli in dessen Basislager am Kap Flora eingetroffen war, fuhren Nansen und Johansen am 7. August nach Norwegen ab, wo sie am 13. August eintrafen. Die Fram selbst unter Führung von Kapitän Otto Sverdrup hatte ebenfalls am 13. August wieder freies Meer nordöstlich von Spitzbergen erreicht.
„Gyropskop“: der wohl erstaunlichste prophetische Volltreffer Munros. Was er hier beschreibt, ist das Prinzip des Trägheitsnavigation, die heute von Geschützen über Schiffe bis zu sämtlichen Arten von Fluggeräten wie Flugzeugen, Helikoptern bis hin zu Drohnen zur Anwendung kommen. Bei der französischen Armee wurden Gyroskope Ende des 19. Jahrhunderts zur Stabilisierung von Torpedos eingesetzt. Das erste Patent auf einen Gyrokompass erhielt 1885 Marinus Gerardus van den Bos; der erste einsatzfähige Modell wurde 1906 in Deutschland von Hermann Anschütz-Kämpfe gebaut und kam nach der erfolgreichen Erprobung auf den Schiffen der deutschen Marine zum Einsatz.
„Sein erster Offizier hatte Herrn Lamont bei seinen Jagdausflügen nach Spitzbergen und Nowa Zembla auf der Dampfyacht „Diana“ begleitet…“: Sir James Lamont of Lockdow, 1828-1913, erster Baronet seines Namens, unternahm zeit seines Lebens zahlreiche Erkundungsreisen, nicht nur nach Afrika und die Karibik, sondern eben auch in die etwas schattigeren Bereiche des Globus. Während seiner erste Fahrt nach Spitzbergen 1859 beschrieb er die dortige Fauna und Flora in ausführlichen Briefen an Charles Darwin (der kleine Pedant vermerkt am Rande, dass Darwin heute, da ich diese Zeilen schreibe, seinen 214. Geburtstag feiern könnte.) 1869 ließ er sich von der Werft Alexander Stephens & Sons in Kelvinhaugh die Dampfyacht „Diana“ bauen, ein Dreimastschoner von 251 Tonnen bauen mit verstärktem Rumpf zum Schutz vor Treibeis, mit einer Länge von 31 Metern und einer Breite von 7 Metern und einer Dampfmaschine mit 30 Pferdestärken, mit der er im selben Jahr eine Fahrt nach Spitzbergen und Nowa Zembla unternahm. (Bevor jemand fragt: da Munros Text auf den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts stammt, habe ich mich für die damals üblichen Schreibweisen entscheiden, nicht für das heute gebräuchliche Nowaja Semlja). 1880 wurde das Schiff von der Hudson Bay Company übernommen,1889 von der französischen Reederei Boussière frêres in Le Havre, im Juli 1891 von der Grimsby Steam Fishing Company im englischen Grimsby, zwei Jahre später vom Londoner Turner Engine Syndicate, die des Schiff 1895 nach Grimsby zurückleaste. Am 6. April 1898 havarierte das Schiff Pillings Sands in Lancashire an der englischen Westküste. Im Vierteljahresbericht „The Life-Boat“ der Royal National Life-Boat Organization vom Mai 1899 heißt es dazu:
6. April [1898]. "Seenotboot Maude Pickup. Der Fischtrawler Diana aus Grimsby, der auf Barnard's Warf bei starkem Wind WSW, schwerer See und Sturmwetter gestrandet war, setzte Notsignale; das Rettungsboot lief um 23:45 Uhr aus und fand das Schiff beim seinem Eintreffen untergehend. Sie hatte ihre Schiffschraube, das Steuerruder und den Heckspriet verloren, und mehrere Fuß ihres Kiels waren durch das beständige Aufschlagen auf dem Sand zerstört worden. Die Tide hatte das Schiff angehoben und trieb es vom Ufer fort auf die tieferen Bereiche zu. Der Kapitän gab auf Anweisung des Bootführers die Ankerkette frei, da das Schiff nicht mehr zu steuern war, und vermochte unter Einsatz aller Lenzpumpen das Schiff über Wasser zu halten, bis ein Schlepper, den das Rettungsboot angefordert hatte, das Schiff in den Hafen schleppen konnte. - Kosten für den Einsatz: 18 Pfund, 19 Schilling, 6 Pence."
„Tausend Inseln,“ norwegisch Tusenøyane ist eine Schärengruppe südlich von Edgeøya, der drittgrößten Insel von Spitzbergen; die „Siebeninseln“ (Sjuøyane) nördlich von Nordaustland bilden den nördlichsten Punkt des Archipels.
Fort Enterprise liegt an der Südgrenze Kanadas zu dem Vereinigten Staaten gut 1000 Kilometer westlich der Großen Seen in den Northwest Territories. Zu mehr als einem Handelsposten wurde es erst nach 1948 nach der Fertigstellung des Macknezie Highways, der die östlichen und westlichen Ränder Kanadas miteinander verbindet, zwischen denen sonst nördlich der Grenze nur endlose Leere liegt. Im Original spricht Munro von einem „Dogrib-Indianer“, wie die damals übliche Name lautete. Diese Bezeichnung bezieht sich auf den Schöpfungsmythos dieses Volks, nachdem sie aus der Rippe einer gottähnlichen Wesen ins Hundegestalt erschaffen worden sind. Da dieser Stamm anders als etwa die Sioux, die Apatschen und Irokesen bei uns eher unbekannt ist und sein Name falsche Assoziationen wecken könnte, habe ich mich für die bei ihnen übliche Bezeichnung entschieden. (Und jetzt brauche ich mir nicht mehr nachsagen zu lassen, ich hätte mit „politischer Korrektheit“ nichts am Hut.)
II.
„Das geheimnisumwitterte Gillisland“: Kvitøya, die „weiße Insel,“ bildet den östlichsten Punkt von Spitzbergen und liegt bereits in der Barentssee; die Viktoria-Insel, die zu Russland gehört, befindet sich nur 62 km weiter östlich. Auf den Land- (bzw. Meereskarten) taucht sie ab 1707 ab unter dem alten Namen auf, weil sie zuerst in diesem Jahr von dem holländischen Seefahrer Cornelius Gilles gesichtet wurde und zählt zu den „Phantominseln,“ deren Größe, Gestalt und Lage von Karte zu Karte wechselt. Giles-Land hat deshalb in der Geschichte der Nordpolfahrten einen Platz, weil er die letzte Destination der Ballon-Expedition von Solomon Andrée war, der im Juli 1897 den Nordpol mit einem Ballon erreichen wollte und von dazu von der Däneninsel (Danskøya) gestartet war. Nach zehn Stunden bei guter Fahrt verlor der Ballon zunehmend an Höhe; das der mitgenommene Vorrat an Ballastsand durch eine hektische Manöver aufgebraucht war, gab es für die Besatzung keinerlei Möglichkeit mehr, hier einzugreifen, und nach weiteren 55 Stunden Schleiffahrt mit zahlreichen Bodenberührungen blieb der Ballon nach gut einem Drittel der Strecke zum Pol auf dem Eis liegen. Andrée und seine beiden Begleiter machten sich zu Fuß auf den Rückweg nach Spitzbergen, die Distanz zu den beiden Depots, die im Vorfeld angelegt worden waren, betrug jeweils gut 320 Kilometer. Sie trafen am 15 September 1897 auf der weißen Insel ein; die letzte Tagebucheintragung Andrées stammt vom 5. Oktober. Als Todesursache wird zumeist Trichinose angenommen, die durch den Verzehr von Eisbärenfleisch übertragen worden ist; auch eine Vergiftung durch Vitamin A durch Eisbärenlebern ist in Betracht gezogen worden. In der Nähe des Weißen Insel stürzte auch im Mai 1928 das Luftschiff „Italia“ von Umberto Nobile ab. Damals wurde beim Aufprall auf das Eis die Pilotengondel abgerissen, während sechs der 17 Expeditionsteilnehmer, die sich in der Motorengondel oder im Rumpf aufhielten, von dem steuerungslosen und leichter geworden Schiff mit in die Höhe gerissen wurden und wenige Minuten später bei der Explosion auf dem Terrain der Weißen Insel ums Leben kamen.
Von Andrées Aufbruch um zehn Minuten vor 14 Uhr nach Greenwichzeit sind jedem, der sich mit der Geschichte der Polarforschung auch nur ansatzweise befaßt hat, die Photographien des Ballons in Erinnerung geblieben, der wie eine schwarze Kugel über der schneeverwehten Landschaft vor dem Hangar, den Andree bei seinem ersten Anlauf im Sommer zuvor errichtet hatte, aufsteigt und dann, immer kleiner werden, sich über dem Meer verliert. Es sind Bilder, die man nicht ohne eine leichte Beklemmung ansehen kann – und dieses unheimliche Bild hat sich nicht erst mit den späteren Wissen darum, was den drei Männern im Korb bevorsteht, eingestellt.
(Der Ballon nach der Landung am 14. Juli 1897 um 7 Uhr morgens)
Was auf diesen Bildern schwarz über das Wasser schelift, sind lange Seile, die durch das Herbalassen auf die Wasseroberfläche eine gewissen Lenkmöglichkeit für den Ballon ermöglichen sollten. Beim Start sogen sie sich mit Wasser voll, zogen den Ballon bis fast auf die Oberfläche hinab, verknäulten sich und lösten sich dann aus ihren Halterungen, so daß die Hautplenkungsmöglichkeit von Anfang an ausfiel.
Vollends gespenstisch mutet es an, wenn man Kurd Laßwitz' Roman "Auf zwei Planeten" aus demseleben Jahr, von 1897, aufschlägt und den Beginn des Romans liest:
Eine Schlange jagt über das Eis. In riesiger Länge ausgestreckt schleppt sie ihren dünnen Leib wie rasend dahin. Mit Schnellzugsgeschwindigkeit springt sie von Scholle zu Scholle, die gähnende Spalte hält sie nicht auf, jetzt schwimmt sie über das offene Wasser eines Meeresarms und schlüpft gewandt über die hier und da sich schaukelnden Eisberge. Sie gleitet auf das Ufer, unaufhaltsam in gerader Richtung, direkt nach Norden, dem Gebirge entgegen, das am Horizont sich hebt. Es geht über die Gletscher hin nach dem dunklen Felsgestein, das mit weiten Flecken bräunlicher Flechten bedeckt mitten unter den Eismassen sich emporbäumt. Wieder schießt die Schlange in ein Tal hinab. Zwischen den Felsbrocken sproßt es grün und gelblich, Sauerampfer und Saxifragen schmücken den Boden, die spärlichen Blätter eines Weidenbuschs zerstieben unter dem Schlag des mit rasender Geschwindigkeit hindurchfahrenden Schlangenleibes. Eilend entflieht eine einsame Schneeammer, erschrocken und brummend erhebt sich aus seinem Schlummer der Eisbär, dem soeben die Schlange das zottige Fell gestreift hat.
Die Schlange kümmert sich nicht darum; während ihr Schweif über die nordische Sommerlandschaft hinjagt, hebt sie ihr Haupt hoch empor in die Luft, der Sonne entgegen. Es ist kurz nach Mitternacht, eben hat der neunzehnte August begonnen.
Schräg fallen die Strahlen des Sonnenballs auf die Abhänge des Gebirges, das unter der Einwirkung des schon monatelang dauernden Tages sich mit reichlichem Pflanzenwuchs bedeckt hat. Hinter jenen Höhen liegt der Nordpol des Erdballs. Ihm entgegen stürmt die Schlange. Wo aber ist der Kopf des eilenden Ungetüms? Man sieht ihn nicht. Ihr dünner Leib verfließt in der Luft, die klar und durchsichtig über der Polarlandschaft liegt. Doch welch seltsame Erscheinung? Der Schlange stets voran schwebt, von der Sonne vergoldet, ein rundlicher Körper. Es ist ein großer Ballon. Straff schwillt die feine Seide unter dem Druck des Wasserstoffgases, das sie erfüllt. In der Höhe von dreihundert Meter über dem Boden treibt ein starker, gleichmäßig wehender Südwind den Ballon dem Norden zu. Die Schlange aber ist das Schlepptau dieses Luftballons, der in günstiger Fahrt dem langersehnten Ziel menschlicher Wißbegier sich nähert, dem Nordpol der Erde. Auf dem Boden nachschleppend reguliert es den Flug des Ballons. Wenn er höher steigt, hemmt es ihn durch sein Gewicht, das er mit aufheben muß; wenn er sinkt, erleichtert es ihn, indem es in größerer Länge auf der Erde sich ausstreckt. Seine Reibung auf dem Boden bietet einen Widerstand und ermöglicht es damit den Luftschiffern, durch Stellung eines Segels bis zu einem gewissen Grade von der Windrichtung abzuweichen.
Aber das Segel ist jetzt eingezogen. Der Wind weht so günstig unmittelbar von Süden her, wie es die kühnen Nordpolfahrer nur wünschen können. Lange hatten sie an der Nordküste von Spitzbergen auf das Eintreten des Südwinds gewartet. Schon neigte sich der Polarsommer seinem Ende zu, und sie fürchteten unverrichteter Sache umkehren zu müssen, wie der kühne Schwede Andrée bei seinem ersten Versuche. Da endlich, am 17. August, setzte der Südwind ein. Der gefüllte Ballon erhob sich in die Lüfte; binnen zwei Tagen hatten sie tausend Kilometer in direkt nördlicher Richtung zurückgelegt. Der von Nansen entdeckte nordische Ozean war überflogen und neues Land erreicht, das sich ganz gegen Erwartung der Geographen hier vorfand. Schon entschwand das Supan-Kap auf Andrée-Land im Süden ihren Blicken. Bald mußte es sich entscheiden, ob die beiden Expeditionen, die eine im Ballon, die andere mit Schlitten unternommen, wirklich, wie ihre Führer meinten, den Pol selbst erreicht hätten. Bei der Unsicherheit der Ortsbestimmung in diesen Breiten waren Zweifel darüber entstanden, die Aussicht vom Ballon war durch Nebel getrübt gewesen, der Schlittenexpedition fehlte ein weiterer Überblick. Jetzt war durch die Mittel eines reichen Privatmanns, des Astronomen Friedrich Ell, eine deutsche Expedition ausgerüstet worden, die noch einmal mittels des Ballons den Pol untersuchen sollte.
Statt zu scheitern, treffen Laßwitz' Luftfahrer am Pol bekanntlich auf eine Station der Marsbewohner, die von dieser geheimgehaltenen Basis aus das Treiben der Erdlinge observieren.
Lars Gustafsson hat nicht angegeben, an welche Aeronauten er beim Titelgedicht seines ersten Gedichtbandes aus dem Jahr 1962, „Ballongfararna“ (Die Ballongfahrer) gedacht hat) – aber der Eindruck, es könnten die Herren Andrée, Nils Strindberg (ein Großneffe von August Strinberg) und Kurt Faenkel gemeint sein:
Aus der Nähe ist der Ballon gewaltig, wie ein Riesenkürbis
Leuchtet und wächst er, er hat viele Farben.
Und das Gemurmel der Zuschauer: ein Hummelschwarm.
Sie rufen und winken den Reisenden zu im Korb,
die tun als sähen sie nichts und hüllen ihr Ziel in Schweigen.
Diese sind unbeweglich und gerüstet zur Reise.
Wenn sie aufsteigen, werden sie einschrumpfen zu einem Punkt
Bis sie die höchsten Luftschichten und den Schnee erreichen.
Der weißeste Schnee, der blendet und kühlt,
wird die Luft erfüllen die sie atmen, ihre Stirn berühren.
Im Herbst kann man ihn fallen sehen als Reif,
der Atem der Höhe der über die Äcker tappt,
und in manchen Herbsten, wenn der Frost früh fällt
wirst du plötzlich an sie denken und an ihre Fahrt,
wie sie immer noch weiter steigen, wie im Schwindel,
höher, durch dünnere als Winterluft,
und tönen wie ein verwitterndes Glas,
aus tiefen, brüchigen Regenwäldern
und wie sie mit den Jahren immer höher steigen,
bis selbst ihr Andenken spröde wie Glas tönt –
und das ist unerträglich, vergiß mich, hör mir nicht zu!
(Übersetzung: Hans Magnus Enzensberger)
Die Bildersequenz des aufsteigenden Ballons ist übrigens von dem deutschen Journalisten Theodor Lerner (1866-1931) aufgenommen worden, der während einer Wehrübung in Hannover einen Zeitungsbericht von der ersten, dann nicht stattgefundenen Expedition von 1896 gelesen hatte und sich nach Norwegen aufgemacht hatte, um Zeuge davon zu sein. Lesern von Martin Mosebachs Roman „Der Nebelfürst“ aus dem Jahr 2000 wird er als die windige Titelfigur des Buchs in Erinnerung sein, die mit dem Versuch, nichtexistente Schürfrechte für die Kohlevorkommen auf der Bäreninsel ans leichtgläubige Publikum zu verkaufen, kläglich scheitert.
1906 lernte Lerner auf Spitzbergen Hjlamar Johansen, der uns weiter oben schon begegnet ist, kennen, und unternahm mit ihm eine Überwinterung im Norden des Archipels. Ab 1909 begeisterte des dann den Grafen Zeppelin für die Idee, einen Flug zum Pol mit einem Luftschiff zu unternehmen und wurde Generalsekretär der zu diesem Zweck gegründeten Deutschen Arktischen Luftschiff-Expedition. Der Plan zerschlug sich, weil Zeppelin Lerner ein Jahr später hinauswarf, nachdem ihm Gerüchte über Lerners windiges Geschäftsgebaren zu Ohren gekommen waren
III.
(Darstellung von Cheynes Projekt in der Zeitschrift "The Graphic," 1879)
Theodor Lerner ist aber nicht der einzige halbseidene Charakter, der im Zusammenhang mit einer „abenteuerlichen Lufft-Fahrt zum Pol“ zu nennen ist. Eine Generation hatte er einen Bruder im Geiste, den englischen Marineoffizier John Powel Cheyne, in dessen Person sich dieselbe Mischung aus unleugbarem persönlichen Mut und Geschick angesichts der Gefahren der lebensfeindlichen Arktis und ein windiges, zumindest blauäugiges Geschaftsgebaren in temperierteren Zonen, eine Neigung zum Blenden und Hochstapeln zeigt. Cheyne, im Dezember 1826 in Islington geboren, der als junger Seekadett an drei der Suchfahrten nach der verschollenen Franklin-Expedition teilgenommen hatte. 1859 begann er, auf Lichtbildervorträgen stereoskopische Photographien jener Überbleibsel, die von den Schiffen Erebus und Terror aufgefunden worden waren und unter der Leitung von Leopold M‘Clintock mit dem dampfgetriebenen Schoner „Fox“ nach England zurückgebracht worden waren, vor Publikum zu zeigen. 1870 nahm er im Rang eines Commanders seinen Abschied von der Marine. 1877, nach der als tief enttäuschenden Rückkehr der Nares-Expedition, die wegen zum Pol vorgestoßen war noch die erhoffte Nordwestpassage gefunden hatte, entwarf er das Projekt, mit Hilfe von drei Ballons zum Pol zu fliegen. Ab 1881 ging er in den USA, von deren Bürgern er sich mehr Risikokapital für ein solches Unternehmen erhoffte, ohne aber die nötigen Summen dafür zusammenzubekommen.
Cheyne präsentierte dem staunenden Publikum mit Hilfe einer Laterna Magica nicht nur bunt illustrierte Panoramen der zerklüfteten Eisberge, sondern auch Bilder der drei Ballons mit den Namen „Enterprise,“ „Resolution“ und „Discovery.“ Ohne jede öffentliche Unterstützung oder Förderung durch Institutionen war dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt, und in den zeitgenössischen Berichten erscheint Cheyne zunehmend als Scharlatan und Blender. Nach einigen Jahren zog er sich nach Halifax, Nova Scotia, zurück, wo er am 8. Februar 1902 starb.
(Transparent für die Projektion mithilde der Laterna Magica)
Von all den heute kaum noch bekannten Pionieren des „heroischen Zeitalters der Polarforschung“ (das mit dem Herztod von Ernest Shackleton im Vorfeld seiner letzten geplanten Antarktis-Expedition auf Südgeorgien1922 zu Ende geht), dürfte Cheyne unter all den Fast-Vergessenen, die es neben den heute noch geläufigen Namen wie Amundsen, Scott, Shackleton, Peary oder Nansen eben auch gab, einer der Verschollensten sein – noch vergessener als der Lerners.
IV.
Um aber zum unmittelbaren Anlaß dieses Beitrags zu kommen. Eines der Thema, das ich an dieser Stelle seit Anfang dieses Jahres mehrfach aufgegriffen habe, ist die Theroie, die Idee, das Phantasma, daß wir uns hier, statt in einer materiellen Welt mit unverrückbaren physikalischen Gegebenheiten in einer Simulation, einer Matrix befinden – und daß, wer immer uns den Eindruck einer soliden Präsenz eines Universums mit handfesten Gegebenheiten vorgaukelt, sich gelegentlich dadurch zu erkennen gibt, daß er veritable „Easter Eggs“, virtuelle Überraschungseier in das vor uns ablaufende Programm einschmuggelt, die anhand von statistischen Wahrscheinlichkeiten und zufälligen Übereinstimmungen schlichtweg nicht mehr zu erklären sind. (Zumindest als Jeu d’esprit, als ein „längeres Gedankenspiel,“ wie Arno Schmidt das formuliert hat, hat diese Vorstellung einen gewissen Reiz).
Ich habe vor 6 Tagen, am Dienstag, den 7. Februar, in meinem Beitrag über das „geheimnisvolle Luftschiff“ auf die literarische Traditionslinie verwiesen, die das Auftauchen eines solchen „unbekannten Flugobjekts“ in der deutschen, französischen und vor allem amerikanischen Unterhaltungsliteratur zwischen 1885 und 1910 aufweist – gut 12 Stunden, nachdem der chinesische Ballon über den Atlantikküste mit einer Rakete abgeschossen worden ist. Und um zur Abwechslung einmal auf ein Thema zurückzugreifen, daß so gar nichts mit den momentanen Mißhelligkeiten zu schaffen hat, habe ich drei Tage später John Munros kleine Phantasie über den „Sonnenaufgang auf dem Mond“ übersetzt – nicht ohne kurz die übrigen Texte zu überfliegen, die dieser mir bislang völlig unbekannte Autor zu seiner Zeit denn sonst noch veröffentlicht hat – darunter eben den oben übersetzten (dessen Gestus „wir erledigen die Frage der Polarfahrt, die andere nicht zustande bekommen, mal eben so in unseren Ferien“ – frappant an Ursula Le Guins Erzählung „Sur“ aus dem Jahr 1982 erinnert).
Und keine 24 Stunden nach diesem neuen Beitrag schoß die amerikanische Luftwaffe um etwa 17:00 nach Mitteleuropäischer Zeit ein weiteres „unbekanntes Flugobjekt“ aus gut 12 Kilometern Höhe ab – vor der Nordküste Alaskas nahe der Siedlung Deadhorse ab – ein Objekt, von den es in den Medienberichten heißt, es sei so „groß wie ein Kleinwagen gewesen,“ von zylindrischer Form, silbrig glänzend, und es habe keine Fähigkeit zum Manövrieren gezeigt. Und keine 24 nach diesem zweiten Abschuß kam es gestern, am Samstag, dem 11. Februar, als eine amerikanische F-22 ein weiteres „zylindrisches Objekt“ aus einer Höhe von 12 Kilometern abschoss, auf dem Gebiet des Bundesstaats Yukon, gut 100 km von der amerikanisch-kanadischen Grenze entfernt.
An dieser Stelle hatte ich etwas, das man gemeinhin als „Déjà Vu“ bezeichnet. Das habe ich doch erst vor ein paar Tagen gelesen? Und als ich es drei Mal geprüft hatte, daß mich meine Erinnerung nicht gefoppt hat, daß der Verfasser des „Sonnenaufgangs auf dem Mond,“ erschienen in „Cassell’s Family Journal“ im Oktober 1894, im gleichen Magazin vier Monate vorher den Abschuß eines unbekannten Flugobjekts über der Wildnis des westlichen Kanada geschildert hat, das sich wortwörtlich als automatischer Spionageballon mit zahllosen Kameras an Bord entpuppt, muß das Aufprallen meiner Kinnlade auf meinem Schreibtisch bis nach Nova Zembla zu hören gewesen sein. Wenn nicht bis zur Wrangelinsel.
(Vielleicht eines noch: es dürfte nicht ganz unbekannt sein, daß ich - außerhalb der Matrix des Internetzes - mit der Universität Münster verbunden bin. Theodor Lerners erste Frau, die er 1902 heiratete, und die sich sechs Jahre später von ihm scheiden ließ, Ilse von Stach, 1879 in Borken geboren und ebenfalls völlig vergessene Autorin von Romanen wie "Die Sendlinge von Voghera", 1909 oder "Haus Elferdings," 1913. Nach ihrer Scheidung konvertierte sie zum Katholizismus und zog mit ihrem dritten Mann, dem Kunsthistoriker Martin Wackernagel, den sie 1912 geheiratet hatte, 1921 nach Münster, wo sie bis zu Ihren Tod 1941 im Geistviertel in der Hochstraße 3 wohnte - knapp zwei Kilometer von meinem Arbeitsplatz auf der anderen Seite des Aasees gelegen.)
Wie gesagt, wer sich anheischig machen will, mich davor zu überzeugen, daß wir NICHT in der Matrix leben, dem steht ein hartes Stück Arbeit bevor.
(Die drei nicht mit Legenden versehenen Abbildungen stammen aus Jacques Tardis "Le démon des glaces" von 1974)
U.E.
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