I.
Im Gegensatz zum englischsprachigen Markt jenseits des Atlantiks (und zu einem gewissen Maß auch in England) war „die Zukunft“ in Gestalt der Science Fiction in ihrer audiovisuellen Darreichungsform, also auf der Kinoleinwand oder dem Fernsehbildschirm, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich als Importware präsent. Und die wenigen Produktionen, die der Medienapparat des westlichen deutschen Teilstaats bis zur Wiedervereinigung nach dem Mauerfall produziert hat, sind bis auf eine Ausnahme ausschließlich für das Fernsehen produziert worden. Diese Ausnahme sind die ersten vier Filme, die Roland Emmerich zu Beginn seiner Laufbahn als Regisseur in München gedreht hat. Aber schon sein Erstling „Das Arche-Noah-Prinzip,“ in den Jahren 1982 bis 1984 als Abschlußarbeit für die Hochschule für Fernsehen und Funk in München entstanden, war mit seinem Budget von knapp 1,2 Million D-Mark gegenüber der Konkurrenz aus Hollywood nur ein „Kammerspiel mit Spezialeffekten.“ Der Film kam zu einer Zeit in die Lichtspielhäuser, als das Publikum seit dem Boom des Genres mit „Star Wars,“ Spielbergs „Unheimlicher Begegnung der dritten Art“ und Ridley Scotts „Alien“ längst andere Maßstäbe gewohnt war. Ende 1983 war „E.T. – der Außerirdische“ der Film mit dem höchsten weltweiten Einspielergebnis der gesmaten Kinogeschichte geworden; ebenfalls 1983 war mit „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ der dritte und erfolgreichste Teil der Star-Wars-Reihe gelaufen; vier Wochen nach dem Kinostart von Emmerichs Film reiste ein Terminator der Baureihe T-3000 aus dem Jahr 2029 zurück ins Jahr 1984, um zu verhindern, daß der Anführer der Widerstandsbewegung gegen die die Künstliche Intelligenz von Skynet, die 1997 Selbstbewußtsein erlangt hat, geboren wird. Und selbst der relativ billige, aber zum Kultfilm gewordene „Repoman,“ der eine Woche nach dem „Arche-Noha-Prinzip“ in der Bundesrepublik Premiere hatte, wies ein höheres Produktionsbudget auf. Emmerich hat seine nachfolgenden Filme gleich auf Englisch mit Blick auf den internationalen Markt produziert. Und natürlich können die bescheidenen Erfolge von „Joey,“ „Hollywood Monster“ und „Moon 44“ in keiner Weise mit dem Erfolg seiner späteren, in Hollywood entstandenen „Blockbuster“ „Stargate“ (1994), „Independence Day“ (1996) oder „The Day After Tomorrow“ (2004) mithalten.
Aber „deutsche SF“ mit Bewegtbildern und Ton in der alten Bonner Republik meinte stets: Fernsehproduktionen. (Erstaunlicherweise hat es die DEFA, einziges Studio im Real Existenten Sozialismus, auf immerhin vier „waschechte Science Fiction“-Filme gebracht – von denen allerdings drei Ko-Produktionen mit anderen Bruderstaaten darstellten: „Der schweigende Stern“ von 1960 ist in Zusammenarbeit mit Film Polski entstanden, bei „Signale – ein Weltraumabenteuer“ (1970) griff man für die Spezialeffekte auf die Technik des Warschauers Studio Przedsiebiorstwo Realizacji Filmów zurück, bei „Eolomea“ sah sich die DEFA 1976 außerstande, die auf 70 mm gedrehten Szenen selbst zu entwickeln und mußte das Material jedesmal erst an die technische Abteilung von Mosfilm in Moskau einsenden, um sehen zu können, ob ein „Take“ gelungen war. Erst mit „Im Staub der Sterne“ brachte die DEFA eine Eigenproduktion in die Kinos.) Zu diesen Produktionen gehörten etwa die sieben Folgen der „Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion“ (1966), Tom Toelles „Das Millionenspiel“ (1970) nach der Erzählung „The Prize of Peril“ von Robert Scheckley aus dem Jahr 1958 (daß der Verlag Goldmann, von dem der WDR die Filmrechte erworben hatte, diese selbst nicht besaß, war übrigens der Grund, warum der Film erst 2002 wieder im deutschen Fernsehen gesendet worden ist – nicht, weil das Thema einer tödlichen Menschenjagd als Reality-TV „zu kontrovers“ war), und Rainer Werner Faßbinders Zweiteilers „Welt am Draht“ von 1973.
Und die meisten dieser Produktionen sind mit einem Namen verbunden: Rainer Erler. Anfangen mit seinem Erstling „Die Besucher“ aus dem Jahr 1968 über die fünf Folgen des „Blauen Palais“ (1974 bis 1976), „Fleisch“ (dessen Thema „illegaler Organhandel durch organisertes Verbechen““ Ende der 70er Jahre etwa auch das Thema von Robin Cooks Roman „Coma“ von 1977 und seiner Verfilmung durch Michael Crichton ein Jahr später bildet), und „News – Bericht über eine Reise in eine strahlende Zukunft“ (1986), in der die Behälter mit den abgebrannten Brennstäben von mafiosen Kernkraftwerksbetreibern einfach in der Wüste Nordaustraliens entsorgt werden. (Der Kleine Zyniker fragt sich, wie sehr die ausschließlich negative, „warnende,“ dämonisierende Einstellung zu neuen Technologien, wie sie in diesen Filmen zum Ausdruck kommen, mit zu der deutschen „Traumatisierung durch Atome und Gene“ beigetragen haben, die uns heute, am 15. April 2023, den endgültigen Ausstieg aus der bewährten Energiegewinnung durch Kernkraft beigetragen hat und dazu, daß aus den Grünen und ihrer elementaren Abscheu davor in den letzten 35 Jahren in Deutschland zur einzig relevanten politischen Kraft aufsteigen konnten – oder inwieweit Erler hier nur einen schon verbreiteten Zeitgeist aufgegriffen hat.)
Und der einzige „wirkliche“ westdeutsche SF-Film, mit dem Fokus auf die Zukunftstechnik Raumfahrt, ist Erlers „Operation Ganymed,“ ausgestrahlt vom Zweiten Deutschen Fernsehen am 11. Dezember 1977. Auch hier ist Erlers höflich ausgedrückt „skeptische“ Einstellung zu dieser Technik nicht zu übersehen – eine prinzipielle Ablehnung, ein Pessimismus, der erheblich zu den dramaturgischen Problemen beiträgt, die auffallen, wenn man den Film noch einmal in der Rückschau Revue passieren läßt. Der Film befaßt sich mit der Rückkehr von fünf Raumfahrern, den einzigen Überlebenden eines Flugs zum Jupiter, der 1986, fünf Jahre vor der Filmhandlung, von den Vereinten Nationen gestartet ist. (Der Kleine Pedant merkt an, die die UN eigentlich eher nicht für die Organisation von Raumfahrtangelegenheiten zuständig sind – sondern für ihre rechtliche Regulierung, wie etwa in den Verträgen von 1967 und 1972, die die Stationierung von Nuklearsprengköpfen verbieten oder die Nutzung von Ressourcen auf dem Mond, den Planeten des Sonnensystems und dem Asteroidengürtel regeln.) Zwei der drei Raumschiffe sind bei einem Bremsmanöver in der Atmosphäre des Jupiter verglüht; der Mannschaft des dritten ist es gelungen, nach der Landung auf dem Mond Ganymed Spuren außerirdischen Lebens sicherzustellen. Auch bei diesem Ausflug sind einige der Besatzungsmitglieder ums Leben gekommen. Daraufhin erklärt die UNO die gesamte Expedition als gescheitert und stellt den Funkverkehr ein. Als die Ganymed II nach 1500 Tagen 1991 wieder die Umlaufbahn der Erde erreicht, stellt die verbliebene Besatzung fest, daß von der Erde keinerlei Funksignal mehr zu empfangen und ist auch kein sonstiges Lebenszeichen. Die Landung der Kommandokapsel vor der westlichen Pazifikküste gelingt, aber das Schlauchboot mit den Astronauten wird an eine ausgestorbene Küste getrieben. Nur mit Notrationen und knappen Trinkwasservorräten machen sie sich auf den Weg nach Norden, finden aber nur verlassene Siedlungen vor. Von da ab mutiert der Film zu einem endzeitlichen Kammerspiel ohne begrenzende Wände, der sich der psychischen Regression der fünf kleinen Raumfahrerlein widmet. Donald George von der ESA, der Biologe der Expedition, wird mißhandelt, als sich herausstellt, daß er statt Medikamente Bodenproben vom Ganymed mitgenommen hat. Der Russe Oss, gespielt von Jürgen Prochnow (ja: der Kaleu aus „Das Boot“) kommt zu dem Schluß, daß nur ein Atomkrieg der Zivilisation ein Ende gesetzt haben kann; wird vom Amerikaner Doug erschlagen, der überzeugt ist, daß nur die UdSSR einen nuklearen Schlagabtausch ausgelöst haben kann, worauf Oss vom Kommandanten erschossen wird. Steve, der dritte amerikanische Astronaut, der die Wasservorräte bewachen soll, wird zum Kannibalen und stirbt, als er vor seinen Kameraden in die Wüste flieht. Und als Don mit letzter Kraft ein mexikanisches Dorf erreicht, hat er den Koffer mit den Bodenproben verloren. Die letzte Szene des Films ist eine Volte ins Irreale: Don, wieder mit seinem Probenkoffer, wird, derangiert und kaum noch einer Bewegung fähig, im einem Fernsehstudio vor Publikum und Kameras geführt und bricht zusammen, während er etwas vom „Traum von der Reise zu der Sternen“ ins Mikrophon stammelt.
Der Protokollant vermutet, daß Erler mit dieser Schlußwendung eine bescheidene Hommage an das Schlußtableau von Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ setzen wollte, in der sich Dave Bowman nach dem Flug durch das Sternentor in einer klassizistisch möblierten Hotelsuite (oder deren Simulation) wiederfindet, in der er, soweit es auszumachen ist, stirbt und als Sternenkind wiedergeboren wird – und daß es sich hier um die letzten Halluzinationen von Don (gespielt von Claus Theo Gärtner) handelt, der in der Wüste verdurstet. Dennoch wirkt dieses Finale wie eine letzte Übersteigerung des Pessimismus (und Zynismus) des Films, der in den Menschen, und der Menschheit überhaupt, nur die negativen Seiten sieht und in ihren Ambitionen und Idealen nur kindische Illusionen. Der Kleine Pendant verweist an dieser Stelle darauf, wie sehr sich eine solche Haltung von den Verhalten der Crew der Marsexpedition in Ridley Scotts „The Martian“ (2015) unterscheidet, die feststellt, daß das Expeditionsmitglied, das sie auf dem Mars zurücklassen mußten, überlebt hat und die buchstäblich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihn zu retten. Es kann sich auch nicht verkneifen anzumerken, daß es den Namen „Oss/Occ“ im Russischen nicht gibt (westliche SF im TV-Format scheint hier ein grundsätzliches Problem zu haben – zumindest bis zum Ende des Kalten Kriegs. Commander McLanes Anstandswauwau in der „Raumpatrouille“ trug den Namen Tamara Jagellovsk statt der korrekten russischen Endung auf -ka, und Vizeadmiral Alynna Netchayev aus „Star Trek: The Next Generation“ würde sich im wirklichen Leben Нечаева schreiben - so wie die Ökologin Нина Трофимовна Нечаева (1909-1996), die Kunsthistorikerin Татьяна Ивановна Нечаева (geb. 1948) oder die Schachspielerin Мари́на Евге́ньевна Нечаева (geb. 1986).
Die Weltraumszenen an Bord der „Ganymed II“ machen nur die ersten 25 der 93 Minuten von „Operation Ganymed“ aus; der Ausflug zum Kratersee auf dem Ganymed beschränkt sich auf wenige kaum ausgelichtete Schritte in der Schwärze eines nächtlichen Steinbruchs und den freien Sturz der Todgeweihten in die Tiefe, als das Seil reißt, das sie sichern soll. Daß das Besatzungsmodul kaum geräumiger das Innere des Space Shuttles, für einen fünfjährigen Flug ein wenig unterdimensioniert erscheint, läßt der Kleine Pedant als dramatische Notwendigkeit durchgehen. Ebenso, daß die neun Jahre, die zwischen 1977 und dem Start zum Jupiter liegen, kaum ausreichen dürften, um eine Flotte von drei bemannten Raumschiffen zu planen, zu konstruieren und erfolgreich zu testen – UNO oder nicht (zwischen dem Planungsstart für den Space Shuttle und dem ersten „regulären“ Einsatz mit vier Astronauten an Bord im Rahmen der Mission STS-5 im November 1982 vergingen mehr als 11 Jahre). Vielmehr dürfte Erler Wert darauf gelegt haben, seine Geschichte nur „zwanzig Minuten in der Zukunft“ spielen zu lassen, um nicht unweigerlich ins Haus stehende Entwicklungen wie Mobiltelephone oder ein allgemein weltweit zugängliches Datennetz für jedermann als Signal „wir sind nicht mehr in der Gegenwart!“ einplanen zu müssen. Wahrscheinlich verdankt sich das Startjahr 1986 der Vorgabe durch Wernher von Braun, dessen Entwurf für eine bemannte Expedition zum Mars, wie er sie in seinem Buch „The Mars Project“ (1952 auf Deutsch und 1953 auf Englisch erschienen) und im Rahmen der Symposien des Hayden-Planetariums entworfen hatte, deren Beiträge als Artikelserien in Collier’s Magazin gedruckt wurden (in diesem Fall „Can We Get to Mars?“ Collier’s,, 30. April 1954) umrissen hatte: mit einer Flotte von zehn Schiffen, einer Gesamtbesatzung von 70 Raumfahrern, eine An- und Abflugdauer von je 260 Tagen und einem Aufenthalt auf dem roten Planeten von 449 Erdtagen (oder 437 Marstagen, heute im Zug der Rovermissionen „Sol“ genannt) – mit einem Startdatum vom 12. März 1985, einer Ankunft am 27. November 1985, einem Rückstart zur Erde am 19. Februar 1987 und einer Landung dort am 6. November 1987. In den populären Darstellungen über solch einen Flug in den sechziger Jahren wird dieser Zeitrahmen immer wieder genannt
Der Kleine Pendant verweist aber darauf, daß ihm die dramatische Grundsituation bekannt vorkommt. In Theodore Sturgeons Erzählung „Crate,“ zuerst erschienen im Oktober 1970 im amerikanischen Herrenmagazin „Knight“ (das sich ab 1958 an den Erfolg von Hugh Hefners „Playboy“ anschließen wollte) und im Buchformat in folgenden Jahr in die Sammlung „Sturgeon Is Alive and Well“ aufgenommen, stürzt eine Raumfähre, die mit einer Ladung jugendlicher Häftlinge zu einer Strafkolonie unterwegs ist, über der Wüstenlandschaft des unwirklichen Planeten ab. Bevor er seinen Verletzungen unterliegt, übergibt ihnen der Führungsoffizer eine Kiste mit Medikamenten, die das Shuttle an Bord hat, weil dort eine Seuche ausgebrochen ist. (Solche Planetenseuchen sind seit Tom Godwins „The Cold Equations“ (1953) und Murray Leinsters „Med Ship“-Serie (1957 bis 1967) ein immer wieder auftauchendes Versatzstück im Genre.) Als sie mit letzter Kraft ihr Ziel erreichen, stellt sich heraus, daß es keine Seuche gibt und die Kiste nur wertloses Geröll enthält. Aber die Erfahrung, daß sich ihr Überleben nur ihrer gemeinsamen Anstrengung und Zusammenarbeit verdankt, ist der entscheidende Punkt – den Erler hier radikal konterkariert. Sturgeons kleine Erzählung ist auf deutsch 1974 mit dem „Titel „Unerwünscht“ im Rahmen der SF-Taschenbuchreihe des Goldmann-Verlags erschienen. Sturgeons Idealismus wirkt auf den Leser durchaus blauäugig und aufgesetzt. Es bleibt aber festzuhalten, daß im Wirklichen Leben™ das Personal, das für hochriskante und brisante Unternehmungen wie einen Flug zum Mond oder zum Jupiter ausgewählt werden, durch Auswahl, Ausbildung und Training durchaus nicht dazu neigen, sich bei Havarien und aussichtslosen Situationen, daß der Autor Gelegenheit bekommt, seinen inneren Schopenhauer von der Leine zu lassen.
II.
Und in diesem Wirklichen Leben™ kam es 1977, im Jahr von „Operation Ganymed,“ zu einem tatsächlichen Aufbruch zum Jupiter – sogar zweien, bei Start der amerikanischen Raumsondern Voyager 1 und 2. Es war nicht der erste Besuch von Raumsonden beim Jupitersystem – aber es war der erste, der hochauslösende Bilder von Ganymed (und den drei anderen großen, den galileischen Monden, lieferte – die ihr Entdecker im Januar 1610 nach seinem Mäzen Cosimo de Medici „Medicea sidera“ – die Sterne der Medicis – benennen wollte). Die ersten Bilder hatte die Raumsonde Pionier geliefert, die am 3. März 1972 von der Startrampe 36 in Cape Canaveral aus gestartet war und sich dem 3. Dezember 1973 den Jupiter in einer Entfernung von 132.000 Kilometern passierte. Die hochauflösendste Aufnahme des Ganymed mit seinen 2600 Kilometern Durchmesser aus einer Entfernung von 446.000 Kilometern zeigte „Einzelheiten“ mit einer Größe herunter bis zu etwa 400 Kilometern. Auch die Bilder der Schwestersonde Pioneer 11, am 6. April 1973 von der gleichen Startrampe die die Reise gebracht, die Jupiter beim Vorbeiflug am 2. Dezember 1974 dreimal näher kam als ihrer Vorgängerin – bis auf 42.000 Kilometer, zeigten keine höhere Auflösung. Insgesamt machten die beiden Raumsonden jeweils gut 500 Aufnahmen.
(Ganymed, aufgenommen von Pioneer 10)
Immerhin blieb als wissenschaftlicher Gewinn unter anderem das Wissen um die unerwartete Stärke des Magnetfelds des Jupiter, das dafür sorgte, daß die Aufnahme, die Pioneer 10 vom Mond Europa gemacht hatte, verlorenging, weil das Magnetband mit den Steuerbefehlen wie bei einem der damals aufkommenden Kassettenrekorder gelöscht wurde.
Bei den Voyagersonden war das ein halbes Jahrzehnt später anders. Die Bildmosaike der galileischen Monden, die aus mehr als einem Dutzend Bilder zusammengesetzt wurden, zeigen die Oberflächen der Monde mit einer Genauigkeit bis zu einem Kilometer. Voyager 1, die drei Wochen nach ihrer Schwestersonde von der Startrampe in Cape Canaveral gestartet war, passierte den Jupiter am 4. März 1979 und machte an folgen Tag Aufnahmen der Io (aus 18.460 km Entfernung), des Ganymed (112.30 km), der Europa (732.000 km) und am 6. März noch der Callisto (aus 123.950 km Distanz). Insgesamt gelangen während der 30 Stunden vor, während und nach des Vorbeiflugs 19.000 Bilder. Voyager 2, am 20. August 1977 von der selben Startrampe auf die Reise gebracht, passierte Jupiter am 9. Juli 1979 – zwei Tage, bevor die amerikanische Raumstation Skylab über dem Norden Australiens in die Atmosphäre eintrat und verglühte. (Die australische Gemeinde Esperance, Verwaltungssitz des Shire of Esperance, Einwohnerzahl 2000, stellte daraufhin der NASA einen Bußgeldbescheid über 400 Dollar wegen unerlaubter Abfallentsorgung aus.) Voyager 2 nahm 13350 Bilder des Planeten, seines bei dieser Mission entdeckten Ringsystem und seiner Monde auf. Der Unterschied in den beiden Flugbahnen ist darauf zurückzuführen, daß Voyager 2 durch die Begegnung mit Jupiter so umgelenkt wurde, daß sie anschließend noch beim den weiteren Gasriesen Saturn (am 26. August 1981), Uranus (am 24. Januar 1986) und Neptun (am 25. August 1989) einen Besuch abstatten konnte,
Aus den Bildern der beiden Voyager-Sonden wurde auch deutlich, daß zumindest der Mond Europa unter seiner gefrorenen Oberfläche aus Wassereis einen Ozean aus flüssigem Wasser besitzt, weil das Innere durch die gewaltigen Gezeitenkräfte, die der Jupiter ausübt, aufgeheizt wird. Anders waren die glatte Oberfläche ohne Spuren von Einschlagskratern, die von zahllosen dunklen Linien durchzogen war, die sich über hunderte von Kilometern erstreckten, nicht zu erklären. Wenn infolge dieser Kräfte oder durch einen Impakt ein Bruch in der Eisfläche entsteht, verdunstet das Wasser im Vakuum und ein großer Teil schlägt sich an den Bruchkanten, denen er dabei die Wärme entzieht, nieder. Auf diese Weise „heilt“ sich ein solcher Bruch gewissermaßen von selbst. Schon gleich nach ihrer Entdeckung wurden die dunkelroten Linien als Spuren der Minerale und salze bedeutet, mit denen das unter immensem Druck stehende Wasser des inneren Ozeans gesättigt sein muß. Für bei beiden anderen galileischen Monde Kallisto und Ganymed hat die Raumsonde Galileo, die als erster Orbiter den Planeten von Dezember 1995 bis zum September 2003 umkreiste, und die einen Logenplatz hate, als im Juli 1994 die 20 Bruchstücke des Kometen Shoemaker-Levy 9 in der Atmosphäre des Planeten einschlugen, ebenfalls solche unterirdischen (sit venia verbo) Ozean nachweisen können und zudem, daß der innere, steinerne Kern von Europa eine andere Rotationrate aufweist als die Eisoberfläche.
(Bildmaosaike von Ganymed, oben Aufnahmen von Voyager 1, unten von Voyager 2)
Statt der goldbeschichteten Plaketten der Pioneer-Sonden, die von Carl Sagan entworfen worden waren und neben der schematischen Darstellung des Sonnensystems und eines Wasserstoffatoms auch die Umrisse zweier unbekleideter Exemplare der Genus Homo sapiens sapiens zeigte (was der NASA 1972 Vorwürfe eintrug: was ihr denn einfiele, als erste Botschaft der Menschheit pornografische Darstellungen zu den Sternen zu schicken? – heute würde die Message: „es gibt nur zwei Geschlechter“ für noch höhere Empörung sorgen) hatten die Voyager-Sonden zwei goldbeschichtete Daten- und Tonträger an Bord, die „Voyager Golden Record.“ Auf ihnen waren neben 155 analog nach dem Muster der „Bildstonplatte,“ wie sie Phillips 1972 kurzfristig auf den Markt gebracht hatte, gesprochene kurze Grußbotschaften in 55 Sprachen enthalten sowie sowie fast 90 Minuten irdischer Musik. Der Kleine Zyniker hält fest, daß die deutsche Musikkultur dort durch der ersten Satz des zweiten Brandenburgischen Konzerts von Johann Sebastian Bach, die Arie der Königin der Nacht aus Mozarts „Zauberflöte“ und den ersten Satz der 5. Sinfonie von Ludwig van Beethoven repräsentiert wird, die amerikanische Tradition aber nur von Chuck Berrys „Johnny B. Goode.“ (Gut: Louis Armstrongs „Melancholy Blues“ ist auch noch dabei, in der Fassung, die er am 11. Mai 1927 mit den Hot Seven in Chicago eigespielt hat, der Combo, die er für die fünf Aufnahmesessions bei Okeh Records zusammengestellt hatte.) Die Voyager Records sind mittlerweile technikhistorische Artefakte: „klassische Langspielplatten“ mit Tonrille, mit einer Nadel abzuspielen, mit einem Durchmesser von 30 Zentimetern, als Spezialanfertigung des Firma CBS in acht Exemplaren hergestellt. Mittlerweile müßte man nicht nur allen Außerirdischen, sondern auch der halben Erdbevölkerung erklären, zu welchem Zweck dergleichen einmal gedient hat.
(Eine der "Voyager Records" und ihre Montage)
Und im Zusammenhang mit dem Thema „besondere Momente der Fernsehgeschichte“ gibt es mit dem Start von Voyager 2 eine kleine Szene, die nicht ganz zu Unrecht als „die am besten abgepaßte Einstellung in der Geschichte des Fernsehens“ genannt worden ist. James Burke, aus Nordirland stammend, der als Englischlehrer begonnen hatte, war 1966 als Fernsehjournalist zur Wissenschaftsredaktion der BBC gestoßen und dort die Reihe „Tomorrow’s World“ konzipiert, die sich mit neuen Entwicklungen in Technik und Wissenschaft befaßte. In dieser Funktion berichtete er auch live über die bemannten Mondlandungen der NASA. Von 1973 bis 1976 moderierte er jedes jahr ein halbes Dutzend Folgen von „The Burke Special.“ Und anschließend begann er mit den Arbeiten zur Serie „Connections,“ in der er anhand unerwarteter Konsequenzen technologischer Entwicklungen einen Parforceritt durch mehrere Jahrhunderte abendländischer Geschichte hinlegte. Der amerikanische Historiker Lynn White Jr (1907-1987) hat ein zumindest im englischen Sprachraum recht bekanntes Beispiel für solche Kaskadeneffekte aufgezeigt: Daß sich nämlich die Entwicklung der Wissenschaft und der Aufbruch in due Neuzeit als Folge einer ganz schlichten Erfindung verdankt: der des Spinnrads. Ab dem Ende des 13. Jahrhunderts ersetzte das Spinnrad, von der Levante her durch Kreuzfahrer und Händler nach Italien gebracht, im Lauf eines Jahrhunderts die bisherige Leinenherstellung durch den Spinnrocken. Mithilfe eines fußbetriebenen Spinnrads konnte ein Mensch pro tag die zehn- bis hundertfache Menge an Garn aus Flachs zusammendrillen wie vorher. Anhand der Verbote, die die Leinenwebergilden gegen die fatale Konkurrenz aus der Heimarbeit wehrten, läßt sich der Siegeszug der neuen Erfindung von Italien nach Frankreich und über die Alpen gut nachverfolgen. Aber natürlich war der Widerstand zwecklos, um es mit den Borg zu sagen. Als Folge davon kam es zum ersten Mal in der Geschichte (des Westens zumindest) zu einem Überschuß an Stoffen für Kleidung (und Abdeckungen, Behälter, Segel), wo vorher jede Hose, jede Jacke solange geflickt worden war, bis der Stoff zerbröselte. Und die steigende Menge als gebrauchtem Stoff, die zur Verfügung stand, führte dazu, daß es Material gab, das in Wasser in seine Fasern aufgelöst, mit Leim vermischt und flächig getrocknet werden konnte. Zum ersten Mal seit im römischen Reich Papyrus als Schreibmaterial gebräuchlich war, stand im Westen jetzt statt des bislang üblichen Pergaments, also fein abgeschabter Rinderhäute, dafür ein haltbares und in großer Menge vorhandener Ersatz dafür zur Verfügung. Das ermöglichte nicht nur die Durchsetzung jener anderen italienischen Kulturtechnik: der Buchführung (und des Bankwesens), sondern machte auch ein Verfahren rentabel, das die Verbreitung von Schriftstücken zur Massenproduktion machte: dem Buchdruck. Und ohne die Explosion des Wissens durch den Buchdruck und die Kunst des Lesens hätten weder Luthers Reformation noch die Entwicklung der Wissenschaft und die industrielle Revolution stattfinden können. Solche Episoden führen einem immer wieder schlagend vor Augen, daß die Vokabel „Technikfolgenabschätzung“ für nichts anders als Vermessenheit und historische Ahnungslosigkeit steht.
In den Folgen von „Connections,“ ausgestrahlt von der BBC an den zehn aufeinanderfolgenden Dienstagen zwischen dem 17 Oktober und dem 19. Dezember 1978, geht Burke zehn solchen Von-Hölzchen-auf-Stückchen kommenden Ariadnefäden nach. So auch in der achten Folge, „Eat, Drink, and Be Merry…“ der mit der neusten alltäglichen Neuerung beginnt: der Kreditkarte aus Kunststoff und zurückblendet zu den Herzogen von Burgund, die nur deshalb den Namens ihres unbedeutenden Fürstentums in die europäische Geschichte schreiben konnten, weil ihnen die italienischen Bankhäuser ermöglichten, ihre Armeen durch eben Kredit zu finanzieren. Die Schweizer, als armes, rückständiges Bauernvolk schafften es, die massive Söldnerarmee Karls des Kühnen 1477 in der Schlacht von Nancy vollständig aufzureiben, indem die sie ihre Soldaten in Gevierthaufen aufstellten. Und diese neue Gefechtstaktik, die sofort von allen Heeren Europas übernommen wurde, führte zur Einführung erst der Arkebusen und dann der Musketen als wirksame Distanzfeuerwaffen, da Reiter gegen die nach allen Seiten mit Piken geschützten wendigen Formationen chancenlos waren. Und der Stellungskrieg der unbeweglichen Musketierreihen, die schossen und nachluden, während die hinteren in Stellung gingen, führte vor allem seit dem dreißigährigen Krieg dazu, daß die Heere, die da gegeneinander antraten, von einigen Tausend Man auf mehrere hunderttausend zu den Zeiten des Kleinen Korsen anschwollen. Das wiederum machte die Versorgung dieser Heere zu einem zentralen Problem. Und dies wiederum führte zur Erfindung von Methoden, Lebensmittel wirksam haltbar zu machen – zunächst durch Einwecken, erfunden von dem französischen Konditor Nicholas Appert (der dafür vom französischen Innenminister 1810 eine Belohnung von 12000 Franc erhielt). Appert hatte dafür Champagnerflaschen verwendet aufgrund ihrer großen Wandstärke; in England wurden dafür Behälter aus Weißblech genommen – bis heute als Konservendosen bekannt. Und die Unzulänglichkeiten der frühen Konservendosen (die Dosen wurden oft nicht genügend und lange nach dem Verschließen erhitzt, um die Bakterien abzutöten – was zu massiven Versorgungsproblemen der britischen Arme im Krimkrieg 1854 führte) führte zur Anwendung eines mechanischen Kühlverfahrens - das auf der Kompression von Ammoniak beruhte und eigentlich zur Kühlung der Krankenzimmer von Malariapatienten gedacht war – für Lebensmittel. Und dieses Verfahren, von dem Arzt John Gorrie aus Florida erfunden, brachte den Besitzer der Mainzer Aktien-Bierbrauerei dazu, den Münchner Ingenieur Carl von Linde damit zu beauftragen, es so umzukonstruieren, daß damit der Inhalt von Fässern gekühlt werden konnte. Die Hefe des untergärigen Biers benötigt zur Reife Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt, was zur Folge hatte, daß solche Biere vor 1870 in Deutschland nur während des Winter gebraut werden durften. Mit den Kompressoren, die die Gesellschaft für Linde's Eismaschinen Aktien-Gesellschaft ab 1879 in Wiesbaden fertigte, war dies das ganze Jahr über möglich. Bis heute laufen solche Kompressoren in jedem Kühlschrank. Und die Verfügbarkeit gekühlter Lebensmittel regte 1892 den schottischen Physiker James Dewar dazu an, dafür einen kleinen Zwischenspeicher ohne Stromversorgung zu entwickeln, indem er zwei verspiegelte Glasflaschen ineinander setzte und die Luft aus dem Zwischenraum pumpte, so daß der Wärmeverlust durch Strahlung oder Konvektion auf ein Minimum reduziert wurde. Daß diese Isolierkannen bis heute weltweit als Thermosflaschen geläufig sind, liegt en der deutschen Thermos GmbH, die sie seit 1904 produziert und gegen die Dewar einen Prozeß verlor, weil er es versäumt hatte, seine Erfindung zum Patent anzumelden.
Und der ungeplante Nutzen der Thermosflasche: …
An dieser Stelle kommt der “best timed shot in the history of television” ins Spiel. In den letzten drei Minuten seiner Sendung sieht man Burke, nachdem er vorher noch einmal kurz rekapituliert hat, wie er auf Cape Canaveral an zwei waagrecht aufgebockten Raketenstufen entlanggeht und dabei auf freier Rede zum Schluß seiner Tour d’horizon kommt – frei sprechend und ohne Teleprompter:
(Minute 45:07) Die Geschichte hat noch eine Wendung, bevor wir zum Ende kommen. Sie erinnern sich, wie alles mit Kredit anfing, und die Schweizer Karl den Kühnen schlugen, und der Wettlauf um größere Heere, bis sie RICHTIG groß wurden und Napoleon Mühe hatte, seine Männer auf dem Schlachtfeld zu versorgen. Und wie Appert seine Erfahrungen mit der Champagneranbau nutzte, um das Einkochen in Flaschen zu erfinden. Und wie durch eine vertrackte Abfolge von Ereignisse die Idee des Einwecken nach England gelangte, wo Dunkin Blechdosen statt Flaschen verwendete. Dann ging dies schief, und John Gorrey glaubte, daß Malaria auf Fäulnis zurückging und die Airkondition erfand, um sie zu behandeln, und wie Kühlmaschinen und flüssige Gase die Folge waren, in Thermosflaschen, die ein Deutscher namens Reinhold Burger auf den Markt brachte.
(An dieser Stelle, bei Minute 46:05 erfolgt der Schnitt nach Florida)
Man kann den Einfluß, den Burger auf das Leben um die Jahrhundertwende hatte, nur schwer überschätzen. Die Thermosflasche wurde nicht nur zu Picknicks mitgenommen – sie änderte die Mittagepause des Arbeiters, sie sorgte dafür, daß Fluggäste in Zeppelinen etwas zu trinken bekamen. Sie reiste zum Südpol und ins Innere Afrika – zum Wohl der wagemutigen Entdecker und um heißee und gekühlte Proben zurückzubringen, und sie rettete zahllose Leben, weil sie verhinderte, daß Insulin verdarb.
Aber es war in der Form, die Sie hinter mir sehen können, in der die Thermosflasche am wirkungsvollsten im zwanzigsten Jahrhundert einschlug – und ich verwendet den Aufdruck Einschlag mit Absicht. Diese Form verdankt sich zwei Männern, deren Arbeit fast völlig unbeachtet blieb und einem dritten, der sie so verrichtete, daß sie niemand übersehen konnte. Der erst war ein Russe namens Ziolkowski, der alle Details ausarbeitete. Und sein Werk wurde bis nach seinem Tod in Russland ignoriert. Der zweite war ein Amerikaner namens Robert Goddard, der den größten Teil seiner Arbeit auf der Farm seiner Tante in Massachusetts durchführte. Und alles, was er als Lohn dafür erntete, war ein eher schwaches Interesse amerikanischer Meteorologen. Der dritte hieß Hermann Oberth. Und den Leuten fiel seine Arbeit auf, weil sie 1944 im Versuch bestand, London zu zerstören. Seine besondere Version der Thermosflasche wurde als Vergeltungswaffe 2 bekannt. Und bevor der Krieg zu Ende ging, hatte sie Tausende alliierter Soldaten und Zivilisten getötet. Jeder dieser drei Männer hatte erkannt daß sich manche Gase entzünden. Und die Thermosflasche erlaubt es, große Mengen dieser Gase in sicherer tiefgefrorener flüssiger Form aufzubewahren, bis sie miteinander reagieren sollen. Dann nimmt man den Deckel der Flasche ab, die Gase verdampfen, man gibt einen Zündfunken dazu – und PENG! Es sind zwei Gase, die dies besser tun als alle anderen. Und es war Oberths Assistent, der wirksamer als jeder andere mischen konnte. Sein Name war Wernher von Braun. Und die beiden Gase, die er aus seiner speziellen Version einer Thermosflasche entließ, die Sie hier hinter mir liegen sehen können, waren Wasserstoff und Sauerstoff.
(Die hinter Burke sichtbare Saturn V wird seit 1977 im Kennedy Space Center ausgestellt und ist 2007 restauriert worden. An dieser Stelle, bei Minute 48:15, erfolgt ein letzter Schnitt; hinter dem Moderator sieht man eine Rakete auf der Startrampe.)
Wenn man diese beiden Gase in einen begrenzten Raum mit einer Öffnung am anderen Ende entweichen läßt, sie dabei durchmischt und dann entzündet, dann bekommt man – DAS!
Und an dieser Stelle wendet sich James Burke zu der Rakete hinter sich um, weist mit dem Zeigefinger darauf – und eine Sekunde später, um 16 Uhr 29 und 0 Sekunden mitteleuropäischer Sommerzeit oder 10:29:00 nach Ortszeit in Florida, zünden die vier Triebwerke der Titan IIIE auf der Startrampe 41 und bringen Voyager auf seinen Kurs zum Rendezvous mit den vier Gasplaneten des äußeren Sonnensystems.
Kurs: der Mond – oder Moskau. Die Planeten – oder Peking.
(Der Kleine Pedant, den meine Geduld an dieser Stelle dazu gebracht, reichlich vorlaut zu sein, merkt an, daß hier gar keine Knallgasreaktion von Wasserstoff und Sauerstoff zu sehen ist. Die Titan IIIE verwendete bei der ersten Stufe als Treibstoff Aerozin 50, das aus einer Mischung von 1.1-Dimethylhydrazin und Hydrazin zu gleichen Anteilen bestand, und verwendete Distickofftetroxid als Oxydanten; während die beiden seitlich montierten Booster Feststoffraketen waren. Erst bei der dritten Stufe kamen Hydrogen und Oxygen zum Einsatz.)
III.
Um aber endlich zum aktuellen Anlaß dieses Beitrags zu kommen („ENDLICH!“ seufzt der gestreßte Leser, der bis hierher durchgehalten hat): vor drei Tagen, am Freitag, den 14. April 2023, 45 Jahre nach Erlers „Operation Ganymed,“ hat im sogenannten Wirklichen Leben ein tatsächliches Unternehmen mit dem Reiseziel dieses Jupitermonds begonnen, und ganz nach der Vorgabe im Zeichen der ESA und mit der Hoffnung, möglicherweise auf Spuren von Leben zustoßen, als um 14 Uhr 14 und 36 Sekunden mitteleuropäischer Sommerzeit die 6 Tonnen schwere Sonde JUICE an der Spitze einer Ariane 5 von der Startrampe ELA-3 in Kourou abhob und nach zweihundert Metern in der niedrigen Wolkendecke verschwand. Das Kürzel steht für Jupiter ICy Moons Explorer, und die Sonde wird erst einmal einen 6,1 Milliarden Kilometer langen Weg durch das innere Sonnensystem zurücklegen, bevor sie im Juli 2031 in eine Umlaufbahn um den größten Planeten des Sonnensystems einschwenkt, die sie im Lauf der nächsten viereinhalb Jahre 35 Mal an die Monde Kallisto, Europa und Ganymed heranführen wird, bevor sie denn im Dezember 2035 für das letzte Jahr ihrer Mission in eine Kreisbahn um Ganymed gelenkt wird. Wobei dieser „Kreis“ zunächst eine stark abgeplattete Ellipse bezeichnet, in der die Entfernung zum Eismond zwischen 100 und 10,000 Kilometern schwankt. Erst danach sollen kreisförmige Bahnen in Entfernungen von 5000, 500 und schließlich 200 Kilometern erreicht werden. Auf der Reise dahin wird sie bei mehreren Swingby-Manövern die notweniger Geschwindigkeit für die Passage zum Jupiter gewinnen: im August 2024 zunächst beim Mond (dem unserer Erde) und der Erde selbst, am 31. August 2035 bei der Venus, am 29. September 2026 wieder bei Terra und bei einer „dritten Begegnung der unheimlichen Art“ mit der Erde am 18. Januar 2029. Fast eine Tonne Treibstoff hat die gut vier Meter hohe Sonde für diese Manöver an Bord; die elf Instrumente weisen eine Masse von 280 kg auf. Dazu gehören neben den hochauflösenden Kameras diverse Teilchenspektrometer, Magnetometer, ein Laserhöhenmesser und das „Radar for Icy Moons Exploration,“ abgekürzt RIME, das zwei je acht Meter lange Ausleger benutzt und die Eisoberfläche der Monde bis zu einer Tiefe von neun Kilometern durchdringen kann. Die 24.000 Solarzellen zehn Sonnenpaneele, die die Sonde am Ziel in 750 Millionen km Entfernung mit einer Energie von 850 Watt versorgen sollen, sind mit einer Oberfläche von 80 m² die größten, die einer Planetensonde je an Bord hatte. Das der Jupiter gut sechsmal so weit von der Sonne entfernt ist wie die Erde, ist die Ausbeute dort entsprechend geringer.
(Die Polarlichtringe des Gamyned. Aufnahme des Hubble Space Telescope)
(Innerer Aufbau des Ganymed)
(Die von links oben nach rechts unten verlaufenden Streben bilden die Radarantenne)
Es ist durchaus möglich, daß auch dieses Instrument keine direkten Hinweise auf die Beschaffenheit des tief unter der Oberfläche liegenden Ozeans liefern könnte. In einigen Modellierungen der inneren Struktur des Ganymed sind Astronomen zu der Hypothese gekommen, diese feste Kruste (Spektralanalysen zeigen, daß sie je gut zur Hälfte auf Gestein und Wassereis besteht) eine Dicke von bis zu 150 Kilometern aufweisen könnte und der Ozeans darunter sich bis in einer Tiefe von bis zu 800 Kilometern erstrecken könnte. Die Forscher gehen nach dem heutigen Stand des Wissens davon aus, daß er mehr Wasser enthält als alle Ozeane der Erde zusammengenommen. Einer dieser Hinweise verdankt sich den Polarlichtern – denn Ganymed ist der einzige Mond des Sonnensystems, der über ein eigenes Magnetfeld verfügt. Und das „Schwanken“ dieser Polarlichter infolge der Wechselwirkung mit dem Magnetfeld des Jupiter läßt Rückschlüsse auf die innere Struktur zu. Es war übrigens der Physiker Joachim Saur im Institut für Geophysik und Meteorologie der Universität Köln, der dieses Verfahren 2015 vorgeschlagen hat („The search for a subsurface ocean in Ganymede with Hubble Space Telescope observations of its auroral ovals,“ J. Geophys. Res-Space Phys., 120 (3). S. 1715 - 1738). Saur und seine 13 Mitautoren kommen übrigens anhand ihrer Daten zu dem Schluß, daß der Ozean in einer Tiefe von 150 km beginnt und seinerseits eine Tiefe von 180 km aufweist. Aber es könnte sein, daß etwa die Zusammensetzung des Staubs an der Oberfläche Hinweise darauf liefert, mit welchen Elementen das Wasser in der Tiefe gesättigt ist.
JUICE wird bei dieser Mission nicht allein sein. Ob die Raumsonde Juno der NASA, die seit Juli 2016 den Jupiter auf einer polaren Umlaufbahn umkreist (sie hat vor etwas mehr als einer Woche, am 8. April, ihren 50. Umlauf beendet), in neun Jahren noch im Einsatz ist, kann heute noch niemand sagen – die zweite Verlängerung von Junos Mission erstreckt sich bis zum September 2025 und über eine weitere Fortsetzung wird dann von der Flugleitung entschieden – aber der Europa Clipper der NASA, der am Donnerstag, den 10. Oktober 2024, von der Startrampe 39A im Kennedy Space Center in Florida mit einer Falcon Heavy gestartet werden soll, wird en Jupiter am 11 April 2030 erreichen. Ursprünglich war, die der Name erkennen läßt, geplant worden, die Sonde in eine Umlaufbahn um Europa einschwenken zu lassen. Angesichts der starken energetischen Strahlenbelastung in der Nähe des Mondes entschied man sich aber auf 44 nahe Vorbeiflüge. Die Stärke des Magnetfeldes des Jupiter beträgt in der Entfernung, in der Europa ihn umläuft, noch das 10.000fache des irdischen; bei Ganymed ist es „nur“ noch das Hundertfache. Auch der Europa Clipper wird „Billard über mehrere Banden“ im Innenbereich des Sonnensystems spielen, um sein Ziel zu erreichen – mit dem Mars im Februar 2025 und der Erde im Dezember 2026.
Der Start am vergangenen Freitag war der vorletzte Flug einer Ariane 5, der 114 insgesamt und der 109 erfolgreiche seit ihrem ersten (fehlgeschlagenen) im Juni 1996. Als letztes soll am 21. Juni mit Syracuse 4B der zweite Kommunikationssatellit dieser Typenreihe (nach 4A, gestartet am 24. Oktober 2021) in eine geostationäre Umlaufbahn gebracht werden. Danach soll die Ariane 5 von dem Nachfolgemodell Ariane 6 abgelöst werden, das sich seit dem Jahr 2014 in der Entwicklung befindet und dessen Erststart für das letzte Quartal 2023 geplant ist.
(Montage von JUICE auf die Spitze der Trägerrakete am 4. April)
(Testeinrichtung am CERN in Genf zur Strahlenbelastung der Instrumente)
(Flugbahn von JUICE von der Erde zum Jupiter)
IV.
(Ankunft am Jupiter: die "Discovery" in "2001: Odyssee im Weltraum" - 2001 bzw. 1968)
(Ankunft am Jupiter: JUICE, Juli 2031)
Europa als Eismond mit einem tiefen Ozean aus flüssigem Wasser hat recht schnell Eingang in das Literaturgenre gefunden, das als einziges auf solchen Schauplätzen angesiedelt sein kann: der Science Fiction. Zuerst in Arthur C. Clarkes Forstsetzung zu „2001 – A Space Odyssey,“ dem Roman „2010 – Odyssey Two,“ erschienen im Dezember 1982 bei Ballantine Books oin den USA und zwei Jahre darauf von Peter Hyams verfilmt. Der Film verzichtet auf den kleinen Subplot des Romans, in dem das chinesische Raumschiff „Tsien“ gegenüber der „Leonov“ den Wettlauf zum Jupiter gewinnt. Als die Tsein auf Europa landet, um Wassereis an Bord zu nehmen, um darauf Wasserstoff und Sauerstoff als Treibstoff für den Rückflug zu gewinnen, wird eine Lebensform von den starken Scheinwerfen des Schiff angelockt, bricht durch das Eis und versenkt es. Ein ähnliches Szenario beendet auch Sebastian Corderos Film „Europa Report“ von 2013, nachdem die sechs Astronauten der Europa-One-Mission schon vorher, wie bei Erler, jeden Kontakt mit der Erde verloren hatten. Auch in Alastair Reynolds „A Spy in Europa“ (Interzone, Juni 1997), Paul McAuley “Sea Change, with Monsters” (Asimov’s Science Fiction, September 1998) oder Caítlin R. Kiernans „Riding the White Bull“ (Argosy Magazine, Januar-Februar 2004) erweist sich der Kontakt mit den Bewohnern dieser Tiefsee als fatal. Und wie es der Zufall will, fällt der Aufbruch von JUICE exakt die beiden Erscheinungsdaten des bislang letzten Durchspielens eines solchen letalen „Erstkontakts auf Europa.“
Der erste Band der französischen Comicserie „Europa,“ kreiert von dem aus Brasilien stammenden Zeichner Luiz Eduardo de Oliveira, der nur unter dem Pseudonym „Leo“ firmiert und seit 1981 in Frankreich mehr als 150 Alben publiziert hat, zumeist als Mehrteiler von 5 bis 7 Alben („Kenia,“ „Namibia,“ „Amazonia“ zu jeweils 5 Alben, 2001 bis 2020) angelegt, oft auch als SF-Szenarien angelegt (24 Bände der Reihe „Les Mondes d’Aldebaran,“ 1994 bis 2021), ist im Original unter dem Titel „La Lune de glace“ bei Delcourt erschienen, die deutsche Übersetzung bei Splitter im Mai 2021. Band 2, „Vertiges,“ ist ebenfalls bei Delcourt am 15. Februar 2023 erschienen; die deutsche Übersetzung („Vertigo“), wird am 24. Mai 2023 bei Splitter herauskommen. Leo und sein häufiger Mitarbeiter Rodolphe (eigentlich Rodolphe Daniel Jacquette, Jahrgang 1948) liefern hier nur das Szenario; die Zeichenarbeit übernimmt der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Zoran Janjetov (mit 61 auch kein aufsteigendes Jungtalent mehr), dessen erste Arbeiten im Bereich der „Bande dessinée“ die Bebilderung des „Incal“-Zyklus war, nachdem „Moebius“ (als Jean Giraud Liebhabern des klassischen belgo-französischen Comics eher als Schöpfer von „Leutnant Blueberry“ geläufig) die Arbeit an Alejandro Jodorowskis esoterisch-mystisch angehauchten Verstiegenheiten Angang der 1980er Jahre abgab.
An dieser Stelle muß der Rezensent eingestehen, daß sein harsches Urteil womöglich einemeigenen Makel geschuldet ist. Ich habe schon eine erhebliche Reihe von Jahren keine neuen Comicalben mehr gelesen (die letzten, für die ich mich begeistern konnte, war der Zyklus um die „Cités obscures,“ von Francois Schuiten und Benoit Peeters). Aber der erste Band von „Euopa“ ist einer der schlechtesten Comics (zumindest der Bildgeschichten mit einigem narrativen Anspruch), die mir im Verlauf meiner Laufbahn als Leser in die Hände gefallen ist. Zu schlicht, zu klischeehaft ist selbst für dieses anspruchslose Medium die Geschichte um ein Team von Raumfahrern gestrickt, die zum Mond Europa geschickt werden, nachdem die Besatzung der dortigen Forschungsstation spurlos verschwunden ist. Auf einigen Bildern der Überwachungskameras sieht man Tote in der Station liegen. Ein wahllos zusammengestelltes Team wird in Wochenfrist mit einem Raumschiff als Shuttle von einem chinesischen Schiff, das zur Orbitalstation um Jupiter fliegt, mitgenommen. Die Pilotin („die am besten qualifizierte Pilotin für eine solche Mission“) wird uns als Teenager präsentiert, der arbeitslos in einer heruntergekommenen Pariser Vorstadt zur Untermiete bei ihrem älteren Bruder und seiner Frau untergekommen ist und sich als hilflos gegenüber der Gewalt der Vorstadtbanden erweist (vielleicht ist diese Figur als Identifikationsangebot an die Leser gedacht, denen solche Verhältnisse womöglich nicht fremd sind – aber die Idee, daß eine solche verhinderte Christiane F. aus eine solche Mission geschickt würde, läßt jede „willing suspension of disbelief“ von Anfang an kollabieren). Gefühlt die Hälfte der 48 Seiten ist den Nickeligkeiten und Rivalitäten der Crew gewidmet. Auf der Station angelangt, sorgen die reichlichen Blutspuren und das völlig Verschwinden der Leichen der Vorgängerbesatzung nicht für Vorsicht und Spurenanalyse, sondern werden ignoriert. Der Ozean unter der Eisoberfläche liegt höchstens 20 Meter tief; ein kleiner Aufzugsschacht führt in eine Eishöhle, voll atembarer Luft bei einer Temperatur, in der man mit geöffneten Helm herumlaufen kann, samt einem Strand, hinter dem sich ein grau schwappendes Meer erstreckt, aus dem auf dem letzten Panel menschlich wirkende Köpfe auftauchen.
Jamais.
Zudem merkt man dem Werk allzu deutlich seine Herkunft aus dem Computer an. Der klassische Comic belgischer oder französischer Provenienz hate immer einen unverwechslichen Stil, anhand derer man Zeichner wie Hergé, André Franquin, Uderzo und ja, auch Moebius sofort erkennen konnte. Die spezielle Atmosphäre machte neben der vielschichtigen Erzählweise immer den ganz eigenen Reiz dieser Bildgeschichtentradition aus, selbst bei eher lieb- und glanzlosen Routiniers wie Jean Graton („Michel Vaillant“) oder Jijé („Mick Tanguy“). Janjetovs Zeichnungen fehlt jede Atmosphäre; sie Hintergründe und vor allem die Figuren wirken, als stammten sie aus einem Computerspiel mit dürftiger Grafik, sie lassen jede Individualität vermissen (als Leser hat man große Schwierigkeiten, die fünf Raumfahrer der Crew voneinander zu unterscheiden), und Mimik ist ihnen unbekannt. Von Kubricks „2001 – A Space Odyssey“ haben manche Kritiker die Deutung geäußert: je weiter sich die Personen von der Erde entfernt, desto mehr verlieren sie ihre menschlichen Züge. Bei Leo & Co. haben sie sie von Beginn an eingebüßt.
(Alle Abb. aus dem Band "Europa: Vertiges")
V.
Im Gegensatz zu Europa hat das „neue Bild“ von Ganymed bislang keinen wirklichen Eingang ins Genre gefunden. Dort taucht der Mond in den Texten vor der Zeit von „Galileo“ natürlich nur in seiner klassischen Version auf – so in Poul Andersons „The Snows of Ganymede“ (1958), in dem es um die Vorbereitung eines Projekts geht, den Mond zu terraformieren, und Robert Heinleins „Farmer in the Sky“ (1950), in dem solch eine Bewohnbarmachung tatsächlich um das Jahr 2050 herum, ein Jahrhundert nach Erscheinen des Buchs, durchgeführt wird und er zur Kornkammer für die Kolonien jenseits des Asteroidengürtels wird. Drei Ausnahmen sind hier: 1) Robert Reeds „Kingfisher“ (Clarkesworld, August 2018), in der sich am Ende die gefrorene Eiswelt, die seit Millionen von Jahren zwischen den Sternen unterwegs ist und deren menschliche Besatzung unsterblich ist (aber das Wissen um ihre Herkunft verloren hat – zahllose Erzählungen über Generationsraumschiffe lassen hier so grüßen wie Reed eigener Zyklus um das „Große Schiff,“ das in der Größe des Jupiters die Milchstraße umrundet) als der frühere Jupitermond herausstellt, dessen flüssiges Innere durch die Eisschicht von hunderten von Kilometern Dicke vor dem Vakuum und der Kälte des Alls geschützt ist, und das zur Versorgung der Fusionskraftwerke dient. 2) Derek Künsken, „The Ghosts of Ganymede“ (ebenfalls in Clarkesworld, Januar 2019), in der im Jahr 2112 Flüchtlinge vor dem Bürgerkrieg zwischen Äthiopien und Eritrea (!) auf Ganymed die Mausoleen von Außerirdischen und (vielleicht) die Geister der früheren Bewohner entdecken. Und 3) Doug C. Souzas „The Kaleidoscope City“ (Asimov’s Science Fiction, Januar- Februar 2020), in der die Tochter eines Kolonisten, die ihre Stationen tief unter dem schützenden Eis erreichtet haben, ihm seinen letzten Wunsch erfüllt, einen letzten Besuch im Raumanzug an der Oberfläche erleben zu können.
Der “klassische” Ganymed findet sich als Schauplatz eines Romans allerdings noch an einer höchst unerwarteten Stelle. Das von Erik Simon und Olaf R. Spittel zusammengestellte Lexikon „Die Science-fiction der DDR. Autoren und Werke,“ erschienen 1988 im Verlag Das Neue Berlin, nennt für den gesamten Publikationszeitraum von Ludwig Tureks „Die Goldene Kugel“ in Jahr 1949 bis zum Redaktionsschluß Oktober 1987 für den Geltungsbereich des RealSoz deutscher Prägung das Erscheinen von insgesamt 115 Romanen, die man mit gutem Willen dem Genre zuschlagen kann, darunter Elaborate im Geiste Stachanows wie Klaus Kunkels „Heißes Metall“ (1952) und „Im gläsernen Flugzeug durch die Schallmauer“ (1953) oder Irmtraud Morgners „Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers“ (1972). Jeder, der man kurz einen Blick auf dieses „abgeschlossene Sammelgebiet“ geworfen hat, würde schwören, daß alle diese Bücher in Berlin verlegt worden sind, in der Regel in den Verlagen Das Neue Berlin oder Volk und Welt. Ein der Ausnahmen macht hier der zweite SF-Roman von Horst Müller. „Kurs Ganymed“ ist 1962 im Domowina-Verlag in Bautzen herausgekommen, ebenso wie sein Vorläufer „Signale vom Mond“ zwei Jahre zuvor. In Müllers Roman geht es um eine international besetzte Expedition zum Ganymed, auf der Außerirdische entdeckt werden, die dort Zuflucht gesucht haben, nachdem der fünfte Planet des Sonnensystems infolge unvorsichtigen Hantierens mit der Atomenergie explodiert ist und dessen Trümmer seitdem den Asteroidengürtel bilden. (Müllers Buch dürfte das letzte Auftreten dieses speziellen Motivs markieren, das sich bei der westlichen Konkurrenz bei Robert Heinlein in „Space Cadet“ (1948) und James Blishs „The Fallen Star“ (1949) ebenfalls so findet.) (Der Kleine Pedant weist darauf hin, daß das Motiv des Planeten, der durch einen Atomkrieg pulverisiert wurde und nun den Asteroidengürtel bildet, auch noch in James P. Hogans erstem Roman „Inherit the Stars“ aus dem Jahr 1977 auftaucht,)
Da ich zu „Kurs Ganymed“ (wie auch zu dem Gros der in der DDR erschienen Science Fiction) nichts an eigener Leseerfahrung beizusteuern weiß, zitiere ich aus dem Eintrag in Simon und Spittels Nachschlagewerk dazu:
Die Fortsetzung „Kurs Ganymed“ (1962) schildert eine internationale Expedition zu dem Jupitermond und die Auseinandersetzungen unter den Bewohnern des Ganymed, in die die Menschen verwickelt werden. Die Ganymeden stammen von dem hypothetischen Planeten Phaeton, der bei einem Kernkraftunfall explodierte. Die wenigen Überlebenden haben sich auf dem Ganymed eingerichtet, doch untergraben die dortigen Umweltbedingungen ihre Fortpflanzungsfähigkeit. Das allerdings ist nicht der einzige Schönheitsfehler in dem Utopia der Ganymeden. Infolge der kargen Umwelt haben sie sich einem Ideal äußerster Sachlichkeit verpflichtet und unterdrücken deshalb mittels Hypnosestrahlen ihre Gefühle. Müllers zweiter Roman zeichnet sich vor allem durch seine Kritik an personenkultähnlichen Zuständen auf dem Ganymed, an Machtbesessenheit und Unterdrückung der freien Willensentfaltung des Volkes aus. („Die Science-fiction der DDR,“ S.210-11)
(Man merkt dem Lexikon deutlich an, daß es noch unter den Zensurbedingungen der DDR entstanden ist. Das Buch hat die Lizenznummer 409-160/244/88. Aber anhand der durchaus kritischen Töne gegenüber den Beschränkungen der frühen Werke – und der Existenz eines solchen Bändchens überhaupt – lassen sich im Nachhinein deutlich Zeichen für das Zerbröseln und die Auflösung der alles überdeckenden Klammer des Sozialismus ausmachen.)
Aber beim Schluß des Eintrags muß der Notorische Pedant Karlheinz Steinmüller, von dem er stammt, widersprechen. Steinmüller schreibt dort:
Neben den beiden Romanen hat Müller zwei technisch orientierte SF-Erzählungen verfaßt. „Nichts Besonderes“ handelt davon, wie Bioströme eingesetzt werden, um von der Erde aus Baumaschinen auf dem Mond zu steuern; „Der Tauchversuch“ stellt ein Kiemenatmungsgerät zur Erschließung der Tiefsee vor. Beide Erzählungen erschienen nur in sorbischer Übersetzung in der Zeitschrift "Płomjo." (ebd., S. 211)
Und hier irrt der Verfasser. (Karlheinz Steinmüller, dessen erzählende Texte durchweg in Zusammenarbeit mit seiner Frau Angela entstanden sind, ist – bzw „sie sind“ – so ziemlich der einzige SF-Autor, der in der DDR tätig war, der nach der Wende weiter auf diesem Gebiet gearbeitet hat. Die bei Shayol erschienenen zehn Bände der „Werkausgaben in Einzelbänden“ sind nicht nur als E-Book, sondern auch als Taschenbuch lieferbar; zuletzt ist dort 2020 der Erzählungsband „Marslandschaften“ erschienen.) Der Domowina-Verlag war in der DDR der einzige Verlag, in dem auch auf Sorbisch gedruckte Bücher Titel verlegt wurden – so auch die seit 1952 Jugendzeitschrift Płomjo (die Flamme) – die es bis heute gibt, in einer Auflage von etwa 2500 Exemplaren. Insofern liegt der Schluß nahe, die beiden kleinen Texte könnten dort untergekommen sein. Der kleine Pedant weiß es besser: Die erstgenannte Erzählung erschien unter dem Titel „Nic woschnego“ (mit dem Untertitel „Technnikso-fantastiska skica“) in dem Jugendalmanach „Młody wulicowar“ („Der Junge Erzähler“), dessen einzige Ausgabe 1965 erschienen ist, auf den Seiten 30 bis 35; die zweite als „Eksperiment r- č“ 1966 im Jahrbuch „Młody bjesadnik“ („Der junge Unterhalter,“ S. 76 bis 82), dessen drei Ausgaben in den Jahren 1964, 1966 und 1968 ebenfalls im Domowina-Verlag erschienen sind. Dabei geht es übrigens um die Suche nach einem außerirdischen Raumschiff, das über dem Ozean abgestürzt ist. Damit dürfte Müller, der im Zivilstand Leiter der Stadtbibliothek in Hoyerswerda war, der einzige SF-Autor der nicht wirklich umfangreichen sorbischen Literatur sein.
Wie weiter oben ausgeführt, ist es wenig wahrscheinlich, daß JUICE auf dem Ganymed tatsächlich auf Spuren von Leben stößt – selbst wenn es unter der dicken Eiskruste vorhanden sein sollte. Aber falls diese Suche trotzdem erfolgreich sein sollte, dürfte es kaum die Form annehmen, die der amerikanische Autor Bradley Denton 1991 vorgeschlagen hat.
In gewisser Weise wäre das freilich eine Umsetzung des Versprechens, das auf den "Toynbee Tiles" zu lesen waren, die ab Ende der 1980er Jahre in Pittburgh und anderen Großstädten der amerikanischen Ostküste auftauchten und die Idee, "die Menscheit auf dem Jupiter auferstehen zu lassen," propagierten.)
(Toynbee Tile," Washington D.C, 2002)
(Die ersten "Selfies" von JUICE nach der Trennung der Sonde von der zweiten Stufe.)
Coda.
Weiter oben habe ich ebenfalls erwähnt, daß der Start von JUICE der vorletzte Start einer Ariane 5 war und daß der unwiderruflich letzte Flug dieser Baureihe am 21 Juni auf dem Programm steht. Hute, am Dienstag, dem 18. April, hat das zu einer netten (oder je nach Perspektive) peinlichen Volte geführt. Das Nachfolgemodell der Ariane 6 befindet sich, wie ebenfalls erwähnt, seit mittlerweile 9 Jahren in der Entwicklung. Der erste Flug sollte ursprünglich im Juli 2020 erfolgen, währen die Ariane 5 noch im regelmäßigen Einsatz war. Durch zahllosen Verspätungen und Verzögerungen sind Fertigstellung und Überprüfung der Rakete mittlerweile mehr als drei Jahre hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurück – nicht zuletzt auch deshalb, weil der Bau der neuen Startrampe in Kourou infolge der Corona-Pandemie fast ein ganzes Jahr lang ruhte. Noch stehen sowohl für die Start- wie die Oberstufe wichtige Testläufe sowohl auf dem Prüfstand in Lampoldshausen in Baden-Württemberg wie auch in Kourou aus; auch bei der Fertigstellung des Startturms in Kourou gibt es bislang noch Probleme mit den Zuleitungen für flüssigen Sauerstoff und Methan. Von den vier vorgeschriebenen „Heißlauftests,“ bei denen die Schubverhältnisse während eines Starts erreicht werden, ist bislang nur einer, im Januar 2023 durchgeführt worden. Ende Juni will die ESA entscheiden, ob die den bislang vorgesehenen Termin für den Erstflug bis Ende dieses Jahres einhalten kann oder ihn auf das nächste Jahr verschieben muß. (Daß sich die bisherigen Entwicklungskosten mit mittlerweile 4 Milliarden Euro auf das Doppelte des ursprünglich geplanten belaufen, ist bei derartigen technischen Großprojekten allerdings die Regel.)
Diese Verzögerungen haben also dazu geführt, daß die Europäische Raumfahrtagentur ESA in zwei Wochen bis auf weiters keine Möglichkeiten mehr hat, Satelliten aus eigener Kraft in die Umlaufbahn zu befördern. Vor dem Frühjahr 2022 wäre dies nur auf eine Verzögerung von einem, höchstens zwei Jahren hinausgelaufen, im Zug ihrer Vereinbarung, der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos die Nutzung von Kourou in der Nähe des Äquators zu gestatten, hat im Gegenzug die Möglichkeit eröffnet, für solche Fälle auf russische Sojus-Raketen zurückzugreifen. Seit der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 ist das Geschichte – auf absehbare Zeit und wahrscheinlich auch dauerhaft. Somit bleibt den Ländern, die an der ESA beteiligt sind, nur noch die Option, auf den Start von Satelliten zu verzichten oder mit US-Amerikanischen Firmen zusammenzuarbeiten. Vor allem geht es hier um den zügigen Weiterausbau des europäischen Galileo-Systems, das als Alternative zum amerikanischen GPS-System und zum russischen Glonass gedacht ist. Diese Satelliten sind mit 700 kg so schwer, daß (bislang) nur zwei amerikanische Anbiter in Frage kommen: zum einen die United Launch Alliance, die seit 2006 vor allem für das amerikanische Militär Kommunikations- und Aufklärungssatelliten gestartet hat, mit seiner Rakete Vulcan – und die Falcon 9 von Space X.
Und hier liegt die gepfefferte Ironie: Der Auftrag zur Weiterentwicklung der bewährten Arina 5 zur Arina 6 verdankt sich nämlich der Konkurrenz von SpaceX. Gerade auf Drängen der französischen Regierung, die fürchtete, daß ArianeGroup nicht mit mit den günstigeren Preise mithalten könnte und damit als Anbeiter für Satellitenbetreiber ausfallen würde, ist vor 9 Jahren die Entwicklung des neuen Modells begonnen worden – mit dem Ziel, die anfallenden Startkosten um die Hälfte zu senken. Während sich der Bau der Vulcan ebenfalls um Jahre verzögert hat – der Erstflug ist mittlerweile für den 4. Mai angesetzt – ist die Falcon 9 mittlerweile so erprobt wie keine andere Trägerrakete der Welt, hat mehr als 210 Starts absolviert (mit mittlerweile als einem Start pro Woche), ist zu einem großen Teil wiederverwendbar und damit mit gut 67 Millionen US-Dollar auch noch konkurrenzlos günstig (nicht zuletzt auch, weil die Versicherungskosten für die Nutzlast entsprechend niedrig ausfallen.)
Heute hat das amerikanische Magazin „Politico“ (bzw sein europäischer Ableger mit Redaktionssitz in Brüssel, „Politico Europe“) die Meldung gebracht, daß der Reaktion ein Entwurf für einen Antrag der Europäischen Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen vorliege an das EU-Parlament vorliegt, indem darum gebeten wird, der Kommission die Erlaubnis zu erteilen, in Verhandlungen mit privaten US-Amerikanischen Anbietern von Weltraumstarts treten zu können, um europäische Satelliten starten zu können. Ausdrücklich werden in dem Antrag ULA und SpaceX genannt ("EU turns to Elon Musk to replace stalled French rocket"). Aufgrund der Verzögerungen mit dem Projekt, mit dem man es der lästigen Konkurrenz zeigen wollte, muß man nun auf deren Dienste zurückgreifen. Der Kleine Zyniker, der leichte Vorbehalte gegen bürokratische Monster (noch dazu unter dem Dach der EU) hätschelt und seltsamerweise immer noch von den Vorteilen der Kapitalismus überzeugt ist, muß zugeben, daß er diese Vorstellung überaus amüsant findet.
U.E.
© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.