Um es gleich vorwegzunehmen: Nein, „Zettels Raum“ ist nicht unter die Putin-Fans gefallen (despektierlich, aber zurecht, auch als „Putin-Trolle“ bezeichnet). Auch ich nicht für meine Wenigkeit als derjenige, der diese Zeilen tippt. Auch wenn dieser Beitrag zur Hauptsache in der Übersetzung eines Textes besteht, der vor drei Monaten in einer russischen Zeitung erschienen ist; schlimmer noch: in einer Publikation, die auf die Berichterstattung über militärische Belange spezialisiert ist. Warum ich mich entschlossen habe, diesen Beitrag zur weiteren Kenntnisnahme zu übersetzen, dürfte bei dessen Lektüre schnell klar werden.
Der unmittelbare Anlaß war der gestrige Auftritt des Interviewgastes Michail Michailowitsch Chodarjonok (Михаи́л Миха́йлович Ходарёнок) im ersten Programm des russischen Staatsfernsehens (Россия 1) in der Sendung „60 Minuten“ („60 минут“). Was er während dieser gut zwanzig Minuten dem Fernsehpublikum und der sichtlich um Fassung ringenden Moderatorin Olga Skabajewa mitzuteilen hatte, hat, soweit es nach dem Echo in den russischen sozialen Medien zu beurteilen ist, dort für einen regelrechten Schock gesorgt. Er hat nämlich, wie man so schön sagt, „Tacheles geredet,“ „reinen Wein eingeschenkt.“ Ein kurzer, gut vier Minuten langer Ausschnitt aus diesem Interview ist gestern auch auf Twitter-Feeds, die sich mit dem Krieg Russlands in der Ukraine befassen, „viral gegangen.“
Chodarjonok, 1954 im damals zur Sowjetunion gehörenden estländischen Tallinn als Sohn eines Offiziers geboren, war ab 1992 bis zu seinem Ausscheiden aus der Militärdienst im Rang eines Oberst Mitglied des russischen Generalstabs. Nach seinem Abschied hat er im Jahr 2000 begonnen, als Kommentator für die Независимое военное обозрение, die „Unabhängige Militärzeitschrift“ zu schreiben, eine wöchentlich erscheinende Beilage der 1990 gegründeten Tageszeitung Newawissimaja Gazeta, der „Unabhängigen Zeitung.“ Seine schonungslosen Analysen der Zustände in der russischen Armee und bei der Analyse des taktischen und strategischen Versagens der Roten Armee in Zweiten Weltkrieg haben ihm bei seinen Kollegen den Ruf eines Defätisten eingebracht, der nur das Negative herausstreicht. Vier tage vorher war er es gewesen, daß in derselben Sendung beschrieben hat, daß Russische Piloten sich mit Hilfe von portablen GPS-Geräten orientieren, die sie mit Klebebändern im Cockpit fixiert haben.
In dem betreffenden Abschnitt seiner TV-Auftritts heißt es:
Chodarjonok: Jede Angelegenheit muß von der allgemeinen strategischen Sicht und wenn möglich unter Berücksichtigung der kurzfristigen Bedeutung gesehen werden. Zuerst mal: Wir sollten uns in Sachen Information keine Beruhigungspillen erlauben. Es werden Berichte verbreitet, in denen es heißt, daß die Kampfmoral in den ukrainischen Streitkräften schlecht ist und kurz vor dem Zusammenbruch steht. Das stimmt nicht, um es höflich auszudrücken. Es gibt natürlich einige solcher Fälle, bei Kriegsgefangenen oder bei einzelnen Einheiten. Aber das sind Einzelfälle. Aber wie gesagt, wir müssen immer das Gesamtbild im Auge behalten. Und da ist die Lage so:
Olga Skabajewa: Aber solche Fälle bestimmen doch, wie sich die gesamte Lage entwickelt. Und einige Einheiten haben berichtet, daß sie keinen Sold und keine Waffen erhalten. Das ist doch auch wichtig. Das können Sie nicht einfach übergehen.
Ch.: Sicher. Aber als Gesamtbild haben wir, daß die Ukraine in der Lage ist, eine Million Männer zu bewaffnen. Das sagen sie selbst: Wir haben keine Schwierigkeiten, eine Million Soldaten zu mobilisieren. Die Frage ist nur, ob sie genügend Waffen und Ausrüstung für eine solche Armee zur Verfügung haben. Aus eigener Kraft natürlich nicht, aber wenn Sie bedenken, daß das Lend-Lease-Programm jetzt anläuft, und der Widerstand eines einzigen amerikanischen Senators (gemeint ist Rand Paul, republikanischer Senator aus Kentucky, der vor zwei Tagen die Verabschiedung des Budgets in Höhe von 40 Milliarden Dollar durch den US-Senat blockiert hat) schnell erledigt sein wird... Und zudem die EU jetzt...
Skabajewa: Ich kann Ihnen sagen, daß das Mittwoch Abend abgeschmettert wird.
Ch: Mit Trommelwirbel und überflüssigen Salutschüssen. Ganz bestimmt. Und da die Hilfen der EU jetzt auch anlaufen, können wir damit rechnen, daß eine Million ukrainischer Soldaten in sehr naher Zukunft tatsächlich bereitstehen können. Und wir müssen dabei bei unseren strategischen Überlegungen und Planungen Rücksicht nehmen. Offen gesagt: für uns wird die Lage nur schlechter werden. Und war die Frage der NATO-Erweiterung betrifft...
Skabajewa: Wie viele Berufssoldaten hat die Armee?
Ch: So viele wie bislang auch.
Skabajewa: Ich meine die Berufssoldaten. Rekruten sind keine so guten Kämpfer.
Ch: Die Professionalität einer Armee hängt nicht von der Anzahl der Berufssoldaten ab, sondern von der Qualität der Ausbildung, und von ihrer Kampfmoral und ihrer Bereitschaft, ihr Blut für ihr Vaterland zu lassen. Das bestimmt die Professionalität einer Armee. Auch eine Rekrutenarmee kann sehr effektiv sein. Die Art der Rekrutierung hat keinen Einfluß auf ihre Professionalität. Ganz nebenbei: bei vielen unserer politischen Kommentatoren herrscht die Vorstellung vor, daß ein Soldat dann ein professioneller Soldat ist, wenn er einen Zeitvertrag hat. Keineswegs! Aber in der Ukraine gibt es die Entschlossenheit, die eigene Heimat zu verteidigen. Sie sind entschlossen, bis zum letzten Mann zu kämpfen.
Skabajewa: Professionalität meint die Bereitschaft, für sein Land zu sterben.
Ch.: So würde ich das nicht ausdrücken, und...
Skabajewa: Ist die Bereitschaft, für das eigene Land zu sterben, nicht Professionalität?
Ch.: Nein, das ist keine Professionalität. Aber es ist ein Teil der Kampfbereitschaft, einer der wichtigsten Faktoren. Wie es in den Klassikern des Marxismus-Leninismus heißt - und in der Hinsicht hatten sie recht: letzten Endes hängt der Sieg auf dem Schlachtfeld von der Stärke der Kampfmoral der Soldaten ab, die bereit sind, ihr Blut für ihre Ideale zu opfern. Genau das ist hier die Lage. Die Klassiker hatten in dieser Hinsicht absolut recht. Aber um auf die NATO zurückzukommen: In unserem Geschäft ist es das Wichtigste, in militärischer und politischer Hinsicht realistisch zu bleiben. Wenn man das außer Acht läßt, trifft einen die Wirklichkeit der Geschichte über kurz oder lang schmerzhaft. Worauf kommt es jetzt vor allem an? Wir müssen das Säbelrasseln bleiben lassen. Nochmal: Schauen Sie sich die gesamte strategische Lage an. Drohen Sie Finnland nicht mit Raketen. Es ist eigentlich sogar komisch. Schließlich ist der Hauptnachteil unserer Lage zurzeit, daß wir geopolitisch vollkommen isoliert sind. Es mag uns nicht gefallen, aber wir haben die gesamte Welt gegen uns. Und diese Lage gilt es zu ändern.
Der Kontrast etwa zu den bombastischen Schwärmereien angeblicher „Wunderwaffen,“ und den Prahlereien über die „nukleare Vernichtung Europas,“ wie sie zwei Wochen vorher im russischen Staatsfernsehen zu sehen waren, könnte nicht größer sein. Am 1. Mai hat Alexej Schurawlijow ebenfalls in der Sendung „60 Minuten“ eine Graphik präsentiert, auf der zu sehen war, wie die mit Atomsprengköpfen bestückte „Weltvernichtungsmaschine“, die Hyperschallrakete Sarmat, von Königberg aus gestartet, Berlin innerhalb von 105 Sekunden, Paris in 200 Sekunden und London nach genau 202 Sekunden verglühen lassen würde (bislang ist die erste Stationierung von Sarmat-Rakten für den kommenden November vorgesehen). Einen Tag später übertraf ihn sein Kollege Dmitrij Kisseljow, Direktor der staatlichen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnija, in der Sendung „Вести недели“ noch, indem er damit drohte, in der irischen See, gut 200 km nordöstlich von Schottland,mit Hilfe der Unterwasserdrohne „Poseidon“ eine Atombombe von 100 Megatonnen Sprengkraft zu zünden:
«Нет никакого способа остановить этот подводный дрон. Боеголовка на нем мощностью до 100 мегатонн. Взрыв этой термоядерной торпеды у берегов Британии поднимет гигантскую волну высотой до 500 метров. Такой водяной шквал является еще и носителем экстремальных доз радиации. Пройдя над Британскими островами он превратит то, что от них может быть останется, в радиоактивную пустыню»
Es gibt keine Möglichkeit, diese Drohne aufzuhalten. Der Sprengkopf an der Spitze kann eine Sprengkraft von bis zu 100 Megatonnen entwickeln. Die Zündung einer solchen Atombombe vor der englischen Küste würde einen Tsunami von 500 Metern Höhe erzeugen. Diese Welle wäre auch äußerst radioaktiv. Wenn sie über die britischen Inseln hinwegfegt, wird das, was davon übrigbleibt, nur noch eine radioaktive Wüste sein.
Auf der begleitenden Computeranimation war zu sehen, sie die sich sauber ausbreitende Schockfront in Sekundenfrist das „perfide Albion“ als Neues Atlantis von der Karte Europas auslöschte.
Man muß aber auch hinzusetzen, daß Auftritte in diesem Format seither nicht mehr vorgekommen sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die russische Führung um Präsident Putin eingesehen hat, daß sie sich mit solchem apokalpytischen Delirieren, das den schlichtesten Gesetzen der Physik Hohn spricht, nur lächerlich macht, was angesichts des Versagens der russischen Streitkräfte auf allen Ebenen auf den Schlachtfeldern in der Ukraine den Eindruck des vollständigen Realitätsverlustes der russischen Führung nur noch verstärkt.
Trotzdem bleibt die Frage, wieso eine solche schonungslose Bilanz wie die von Chodorjonok in aller Öffentlichkeit gezogen werden darf – warum die Zensur dies durchläßt. Es gibt seit gestern nicht nur in den russischen sozialen Medien die Mutmaßung, hier könnte das Publikum schon einmal auf die Möglichkeit vorbereitet werden, daß demnächst, in ein paar Wochen oder einem oder zwei Monaten, der Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine verkündet wird – ohne ein einziges der groß angekündigten Ziele der „militärischen Spezialoperation“ erreicht zu haben.
Kamil Galejew (Камиль Галеев), ein junger Historiker aus Moskau, der unter anderem an der Yincheng-Akademie der Universität Peking und an der School of History in schottischen Aberdeen studiert hat und seit dem Beginn des Krieges mit zahlreichen erhellenden „Threads“ auf Twitter Hintergründe zum Aufbau der russischen Streitkräfte, ihren Modus Operandi und den vielfältigen Gründen für ihr heilloses Versagen, das auch die meisten westlichen Beobachter ratlos zurückgelassen hat, hat gestern im Zusammenhang mit Chodarjonoks Auftritt auf einen Artikel aufmerksam gemacht, den dieser am 3. Februar 2022, also drei Wochen vor dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, in der oben erwähnten Zeitschrift „Независимое военное обозрение“ veröffentlicht hat. Und dieser Artikel hat sich im Rückblick als derart prophetisch erwiesen, als als ein solch präziser Blick in die Kristallkugel, daß ich mich aus diesem Grund entschieden habe, ihn hier in deutscher Übersetzung zu bringen.
(Ich muß gestehen: als ich den Passus von der Reaktivierung des Lend-Lease-Gesetzes - Russisch: Ленд-лиз - in den USA las, mußte ich mich erst einmal am Tisch festhalten wie Wladimir Putin bei seiner im TV übertragenen "Dienstbesprechung" mit Außenminister Schoigu am 22. April.)
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„Прогнозы кровожадных политологов/Über die Voraussagen blutrünstiger politischer Kommentatoren“
Über enthusiastische Falken und vorschnelle Kuckucke.
Manche Vertreter der politischen Klasse in Russland sind jetzt der Ansicht, daß Russland in der Lage ist, gegen die Ukraine innerhalb weniger Stunden eine vernichtende Niederlage beizubringen (teilweise werden auch noch kürzere Zeitspannen genannt), wenn es zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen sollte. Hier soll es darum gehen, wie realistisch solche Aussagen sind.
Unter den russischen Experten hat sich vor kurzen die Einstellung verbreitet, daß es nicht ein massiver Truppeneinsatz dafür einmal nötig wäre, weil sich die Streitkräfte der Ukraine in einem erbärmlichen Zustand befinden.
Einige politische Kommentatoren betonen, daß ein kraftvoller russischer Erstschlag fast alle Warnsysteme und Kommunikationsverbindungen zerstören wird, ebenso wie die Artilleriestellungen und gepanzerten Verbände. Einige Experten sind zu dem Schluß gekommen, daß schon ein solcher Vernichtungsschlag ausreicht, um den Krieg zu beenden.
Als I-Tüpfelchen fügen manche Experten noch hinzu, daß niemand in der Ukraine bereit sein wird, das „Kiewer Regine“ zu verteidigen.
KEIN „LEICHTER SPAZIERGANG“
Fangen wir mit der ersten These an. Die Behauptung, daß „niemand in der Ukraine bereit ist, für das Regime zu kämpfen,“ zeugt von völliger Unkenntnis der militärischen und politischen Situation im Land und der Haltung der breiten Masse des Volkes in unserem Nachbarland. Zudem wird das Ausmaß des Hasses auf Moskau (und Haß ist bekanntlich die stärkste Motivation in einer bewaffneten Auseinandersetzung) schlicht unterschätzt. Niemand in der Ukraine wird die russische Armee mit Brot, Salz und Blumen willkommen heißen.
Es scheint, als hätte niemand aus den Ereignissen von 2014 im Südosten der Ukraine etwas gelernt. Auch damals gab es ja die Erwartung, daß sich die gesamte links von Ufer (der Dnjepr) liegende Ukraine auf einen Schlag und in Sekundenschnelle ins „Neue Russland“ verwandeln würde. Wir hatten schon neue Landkarten gedruckt, das Verwaltungspersonal für die Städte und Bezirke ausgesucht und die neuen Staatsflaggen ausgewählt.
Aber der größte Teil der russischsprachige Bevölkerung in diesem Teil der Ukraine (einschließlich von Städten wie Charkow, Saporoschschja, Dniepropetrowsk und Mariupol) unterstützte diese Pläne in keiner Weise. Irgendwie löste sich das Projekt „Noworossija“ in Wohlgefallen auf und verschwand in der Versenkung.
Anders gesagt, wird die „Befreiungskampagne“ des Jahrs 2022, nach dem Vorbild des Jahrs 1939, wird in keiner Weise Erfolg haben. Hier gelten die Worte des Klassikers der sowjetischen Literatur, Arkadi Gajdar, wie nie zuvor: „Es ist klar, daß wir nicht ein leichtes Scharmützel vor uns haben, sondern eine schwere Schlacht.“
„EIN GERINGER BLUTZOLL, EIN MÄCHTIGER SCHLAG“
Nun zu dem „mächtigen Feuerschlag durch Russland,“der angeblich „fast alle Warnsysteme und Kommunikationsverbindungen zerstören wird, ebenso wie die Artilleriestellungen und gepanzerten Verbände“
Allein schon an einer solchen Formulierung kann man sehen, daß eine solche Äußerung nur von politische Kommentatoren stammen kann. Zur Erläuterung: bei der Planung militärischer Einsätze vom Umfang einer Feldzugs erfolgen „militärische Schläge“ auf ausgewählte Ziele. Bei der vorausgehenden strategisch-operativen Planung werden Wörter wie „kraftvoll“ (oder auch „gemäßigt“) nicht verwendet.
In der militärischen Planung wird betont, daß solche Schläge auf strategischer Ebene erfolgen können (das gilt vor allen für den Einsatz strategischer Atomwaffen), auf operativer oder auf taktischer Ebene. Je nach der Zahl der eingesetzten Truppen und ausgewählten Ziele können solche Schläge vereinzelt, massiert oder gruppenweise erfolgen. Es ist ratsam, keine anderen Konzepte ins Spiel zu bringen, nicht einmal in Diskussionen, die sich auf die politischen Aspekte konzentrieren.
Schläge gegen hochpriorisierte Ziele und massive Feuerschläge werden nach der jeweiligen Lage an der Front durchgeführt (an der Westgrenze Russland gibt es bislang keinen Frontverlauf) oder durch das Oberkommando der Streitkräfte auf dem Kriegsschauplatz angeordnet (bislang gibt es das auch nicht für einen Vorstoß in Richtung Südwesten). Alles, was weniger massiert ausfällt, wird nicht mehr als „massiver Schlag“ bezeichnet.
Um ein Beispiel zu nennen: was umfaßt ein „massiver Feuerschlag“ (массированный огневой удар, massirowannij ognjewoi udar, abgek. МОУ bzw. MOU) an der Front? Halten wir fest, daß beim MOU die größtmögliche Zahl an einsatzbereiten Kräften, an Fluggeräten, Raketentruppen, Artillerie und elektronischer Kriegsführung, die dem Oberbefehlshaber an der Front zur Verfügung steht, zum Einsatz kommt. Der MOU besteht aus einem massierten Luftangriff, zwei oder drei Wellen des Einsatzes der Raketen vom Typ Oka und Toschka und mehreren Wellen von Artillerieeinsätzen. Vom Erfolg spricht man, wenn die Schlagkraft der Gegners um 60 bis 70 Prozent vermindert wird.
Was beutet das im Fall eines Einsatzes gegen die Ukraine? Ein MOU würde einem möglichen Feind natürlich schwere Verluste zufügen. Aber zu erwarten, daß die gesamte Streitmacht eines ganzen Staates durch einen einzigen solchen Schlag ausgeschaltet werden könnte, zeugt nur von blindem Optimismus in der Frage der Planung und Durchführung von Kampfeinsätzen. Im Verlauf eines tatsächlichen Einsatzes auf dem Schlachtfeld würde es nicht bei einem oder zweien solcher Schläge bleiben, sondern es wäre eine Vielzahl davon nötig.
Dazu kommt noch, daß die Zahl der verfügbaren hochmodernen und präzisen Waffensysteme in den russischen Streitkräften nicht endlos ist. Die Hyperschallraketen vom Typ Zirkon sind noch nicht in Dienst gestellt. Die Anzahl der Kinschal (von See aus gestartete Lenkflugkörper), Kh-101 (von Flugzeugen aus gestartet Lenkflugkörper) und Iskander-Raketen beläuft sich höchstens auf Hunderte (Dutzende im Fall der Kinschal). Dieses Arsenal reicht bei weitem nicht aus, um ein Land von der Größe Frankreichs mit einer Bevölkerung von mehr als 40 Millionen von der Landkarte der Erde zu putzen. Und das sind die Zahlen für die Ukraine.
ZUR LUFTÜBERLEGENHEIT
Mitunter wird in den russischen Expertenkreisen behauptet (besonders unter Anhängern der Douai-Doktrin), daß der Krieg nur sehr kurz dauern wird, weil er unter den Bedingungen der völligen Lufthoheit der russischen Luftstreitkräfte erfolgen wird. (Anm.: Guilio Douai, 1869-1931, italienischer General, der während des ersten Weltkriegs das Konzept der Lufthoheit entwickelte. Der Satz „Der Bomber kommt immer durch“ wird ihm zugeschrieben.)
Gleichzeitig wird dabei völlig vergessen, daß die afghanischen Streitkräfte während des Konflikts von 1979 bis 1989 nicht ein einziges Flugzeug und keinen einzigen Kampfhubschrauber zur Verfügung hatten. Und trotzdem zog sich der Krieg dort zehn Jahre lang hin. Auch die Tschetschenen besaßen nicht ein einziges Flugzeug. Und auch dieser Krieg dauerte mehrere Jahre und kostete die Russische Föderation einen hohen Blutzoll.
Und den Streitkräften der Ukraine werden Kampfflugzeuge zur Verfügung stehen, ebenso wie Mittel zur Luftverteidigung.
Ganz nebenbei: im Konflikt von 2008 haben die ukrainischen Luftabwehrkräfte (es handelte sich nicht um Georgier) der russischen Luftwaffe schwer zugesetzt. Nach dem ersten Tag der Kampfhandlungen stand die Leitung der russischen Luftstreitkräfte unter Schock über die Höhe der eigenen Verluste. Das sollte keinesfalls vergessen werden.
IM VORAUS BEKLAGT
Jetzt zu der Behauptung „Die ukrainischen Streitkräfte sind in einem erbärmlichen Zustand.“ Es stimmt, daß die ukrainische Armee Probleme mit den Luftstreitkräften und mit der Luftabwehr hat. Aber man muß auch folgendes bedenken: Bis 2014 war die ukrainische Armee ein Überbleibsel der alten sowjetischen Armee. In den letzten sieben Jahren ist diese Armee völlig erneuert worden, auf einer völlig neuen taktischen Grundlage und zumeist nach den Standards der NATO. Und das Nordatlantische Bündnis liefert hochmoderne Waffen und Ausrüstung an die Ukraine und wird sie auch weiterhin liefern.
Zum schwächsten Punkt der ukrainischen Armee: das ist die Luftwaffe. Es kann nicht ausgeschlossen werden, das der Westen in sehr kurzer Frist Kiew mit Kampfflugzeugen aus eigenen Beständen beliefern wird, gewissermaßen mit gebrauchten Maschinen. Allerdings sind solche „Maschinen aus zweiter Hand“ in ihren Fähigkeiten mit den meisten Flugzeugen auf der russischen Seite durchaus gleichwertig.
Zurzeit sind die ukrainischen Streitkräfte hinsichtlich Kampfkraft und Einsatzfähigkeit denen der russischen Föderation erheblich unterlegen. Das wird weder im Westen noch im Osten in Zweifel gezogen.
Trotzdem darf sie nicht unterschätzt werden. In dieser Beziehung sollte man sich immer an das Vermächtnis von Alexander Suworow erinnern: „Verachte niemals deinen Gegner und halte ihn nicht für dümmer und schwächer als dich selbst.“
Jetzt zu der Einschätzung, daß der Westen nicht einen einzigen Soldaten entsenden wird, um für die Ukraine zu sterben.
Zunächst einmal: das wird wahrscheinlich sogar der Fall sein. Nur schließt das im Fall einer russischen Invasion nicht aus, daß die Streitkräfte der Ukraine vom gesamten Westen mit einer Vielzahl von Waffensystemen, militärischer Ausrüstung und umfangreichen Lieferungen aller Art unterstützt werden wird. In dieser Beziehung hat sich der Westen bereits jetzt geschlossen positioniert, wie das bislang noch nicht der Fall gewesen ist – eine Entwicklung, die man in Moskau anscheinend nicht vorhergesehen hatte.
Es besteht kein Zweifel daran, daß die Vereinigten Staaten und die Mitgliedstatten der NATO das Lend-Lease-Programm aus den Tagen des Zweiten Weltkriegs wieder auflegen werden. Ein Zustrom an Freiwilligen aus dem Westen, womöglich in großer zahl, kann ebenfalls nicht ausgeschlossen werden.
PARTISANEN UND WIDERSTANDSKÄMPFER
Zum Schluß noch zur Dauer eines solchen Feldzugs. In den russischen Expertenkreisen ist die Rede von „einigen Stunden,“ manchmal sogar mur einem Bruchteil davon. Gleichzeitig ist es irgendwie in Vergessenheit geraten, daß wir dies alles schon einmal erlebt haben. Der Satz „wir nehmen die Stadt mit einem Regiment Fallschirmjäger in zwei Stunden ein!“ ist ein Klassiker in dem Genre geworden. (Anm. Chodarjonok bezieht sich hier auf die Aussage von General Pawel Gratschev in einem Interview aus dem Jahr 2000, zur Frage, warum die versuchte Einnahme von Grosny so blutig und verlustreich für die russischen Truppen ausgegangen war. Gratschew Ausssage lautete in toto: „Es geht darum, daß unter Berücksichtigung der richtigen Taktik, bei uneingeschränkter Feuerkraft, Luftunterstützung und Raketeneinsatz die übriggebliebenen Banditen von einem Regiment Fallschirmjäger in zwei Stunden aufgerieben worden wären. Ich hätte das auch geschafft, aber mir waren die Hände gebunden.“ – „Речь шла о том, что если воевать по всем правилам военной науки: с неограниченным применением авиации, артиллерии, ракетных войск, то остатки уцелевших бандформирований действительно можно уничтожить за короткое время одним парашютно-десантным полком. И я действительно мог это сделать, но тогда у меня были связаны руки.“)
Wir sollten auch nicht vergessen, daß der mächtige NKWD der Stalinzeit und die millionenstarke Sowjetarmee zehn Jahre lang brauchte, um die Partisanen in der Westukraine zu besiegen. Und jetzt besteht die Chance, daß die gesamte Ukraine als Partisanen in den Untergrund geht. Außerdem können solche Formationen ebenso leicht auf russischem Gebiet operieren.
Der Kampfverlauf in den ukrainischen Großstädten ist schwer vorherzusagen. Es ist allgemein bekannt, daß große Städte das beste Kampfgebiet für schwache und technisch nicht hochausgerüstete Einheiten darstellen.
Ernstzunehmende Experten betonen, daß in einer Großstadt nicht nur Tausende und sogar Zehntausende von Kämpfern konzentrieren lassen, sondern sie sich auch der überlegenen Feuerkraft des Gegners entziehen können. Und daß es möglich ist, diese lange Zeit zu versorgen und die Verluste an Ausrüstung und Mannschaften wettzumachen. Weder Berge noch Wälder noch Dschungel bieten solche Möglichkeiten.
Fachleute sind davon überzeugt, daß eine städtische Umgebung den Verteidigern nützt, die Bewegungen des Angreifers einschränkt, es erlaubt, eine möglichst hohe Anzahl von Kämpfern pro Gebiet zu ermöglichen, und die Unterlegenheit an Kampfkraft und Technik wettzumachen. Und in der Ukraine gibt es mehr als genug Großstädte, sogar Millionenstädte. Sollte es also zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommen, könnte es für uns zu einem neuen Stalingrad oder Grosny kommen.
ERGEBNISSE
Es wird daher zu keinem „Blitzkrieg“ (Chodarjonow benutzt das deutsche Wort: блицкрига) gegen die Ukraine kommen. Aussagen wie „die russische Armee wird den Großteil der ukrainischen Streitkräfte in 30 oder 40 Minuten besiegen“ – „Russland wird die Ukraine in 10 Minuten besiegen, wenn es zum Krieg kommen sollte“ oder „Russland wird in acht Minuten siegen“ sind Unsinn.
Und schließlich das Wichtigste: Zum jetzigen Zeitpunkt widerspricht ein bewaffneter Konflikt mit der Ukraine fundamental sämtlichen nationalen Interessen Russlands. Daher ist es für manche „Experten“ mit überreizter Phantasie am besten, ihre Haßphantasien zu vergessen. Und sich nie wieder an sie zu erinnern, wenn ihnen ihr künftiger Ruf noch etwas wert ist.
U.E.
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