1. Mai 2022

Der Verrat der Intellektuellen - wieder einmal





Vielleicht wäre ich gut beraten, den Titel dieses Blogposts „ein wenig niedriger zu hängen.“ Denn der Anlaß ist nicht der „Verrat“ einer ganzen Klasse von Stichwortgebern, Meinungsmachern, Vordenkern, wie sie der französische Philosoph Julien Benda 1927 in seinem vor 90 Jahren viel rezipierten Buch „La trahison des clerks“ beschrieben hat, als ein großer Teil des „geistigen Eliten“ im Westen Europas (und beiden Amerikas) ihre Aufgabe, die Zeitläufe und ihre Krisen nüchtern zu analysiseren, verriet und sich stattdessen entweder der einen oder der anderen der beiden totalitären Ideologien an den Hals warf und die Lösung für die Zerrissenheiten der Zwischenkriegszeit in der Sympathie für den Sozialismus der roten oder der braunen Spielart sah. Entstanden war diese Erscheinung des „Intellektuellen“ im Gefolge der Dreyfus-Affäre in Frankreich von 1894, als die Anklage des (jüdischen) Hauptmanns der französischen Armee Alfred Dreyfus zu einer tiefgreifenden Polarisierung der „schreibenden Zunft“ führte.

In gewisser Weise war es nur folgerichtig, daß sich diese Deuter der Zeitläufe, die vor nichts so sehr zurückschreckten wie vor der Zustimmung und der Unterstützung des Bestehenden, sich nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und dem Sieg der Bolschewiken in Russland nach Oktoberrevolution und Bürgerkrieg – oder wahlweise nach dem Modell des italienischen Faschismus als Gegenmodell – auf diese Weise positionierten und die Widersprüche und das scheinbare Chaos ihrer Gesellschaften ablehnten, die wir seit Karl Popper als „offene“ bezeichnen. Die Versuchung für Denker und Sinndeuter, sich als Ratgeber der Gewalt zu verstehen, zieht sich seit Platons „Staat“ und seinem Einfluß auf den Tyannen Dion von Syrakus ab dem Jahr 388 v.Chr. wie ein roter Faden durch die westliche Geistesgeschichte. Die letzte, schon blasse Parteinahme dieser Art war im Westen vor einem halben Jahrhundert zu sehen, als die „Achtundsechziger“ mit der Maobibel in der Hand gegen „das verhaßte System“ durch die Straßen zogen und seine Abschaffung forderten. (Die Ironie, daß es genau jenes System, seine Freiheit und der von ihm geschaffene Wohlstand es möglich gemacht hatten, daß sich Abertausende hinter dem roten Banner mit Hammer und Sichel versammeln konnten, ist auch schon vor fünf Jahrzehnten des öfteren bemerkt worden.)

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Nein, bei meinem Anlaß, dem „offenen Brief,“ der gestern, am Freitag dem 29. April 2022, auf der Webseite der Zeitschrift „Emma“ erschienen ist und in dem 28 Mitglieder der vermeintlichen „geistigen Elite“ der Berliner Republik Bundeskanzler Olaf Scholz auffordern, alles daran zu setzen, um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zu verhindern und dies mit der Gefahr begründen, ein solcher Schritt könnte von der russischen Seite als aktiver Kriegseintritt der Bundesrepublik Deutschland und damit als Casus belli gewertet werden – hierbei handelt es sich um die Wiederaufnahme, das Anknüpfen an eine andere Tradition des „Bunzreplik“ Bonner Zuschnitts: das Erlassen von Warnungen, Petitionen, Aufrufen, Protesten, Solidaritätserklärungen, Unterschriftenlisten aller Art, die im Umfeld von „Achtundsechzig“ schwer in Mode kamen. Gegen die Rüstungskonzerne, gegen den Vietnamkrieg, „Solidarität mit…,“ bis zum Abwinken. Hans Magnus Enzensberger hat sich, Jahrzehnte später und altersmilde geworden, oft über diese „Aktionen“ mokiert, bei denen die üblichen Verdächtigen der Berliner oder Frankfurter Szenen im Wochentakt aufgerufen wurden, mit ihrem Namen auf der gerade aktuellen Unterschriftenliste für den Sieg des Guten einzustehen, ohne jemals zu bemerken, daß außer wohlfeilem Pharisäertum nichts bewirkt wurde. Aber „man hatte aus der Geschichte gelernt.“ Der Betreffende, auf den der Ausdruck zurückgeht und von dem es in Lukas 18 Vers 11 heißt: „ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Menschen, Räuber, Übeltäter, Ehebrecher…“ tut dies immerhin noch in der Verschwiegenheit des eigenen Geistes. „Engagierte Intellektuelle“ sind nichts ohne das Megaphon der Medien.

Zwei Dinge fallen einem beim Durchlesen dieses Sendschreiben, dieses Echos aus einer versunkenen Welt, sofort ins Auge: wie schütter die Clique derer, die hier um Aufmerksamkeit buhlen, geworden ist. Von den erwähnten „üblichen Verdächtigen“ für solche Waschzettelaktionen sind nur Jürgen Habermas, Alexander Kluge und Martin Walser verblieben. Allenfalls Reinhard Mey und Dieter Nuhr, eher nicht als scharfblickende Analytiker aufgefallen, können noch einen „Promibonus“ für sich beanspruchen; bei Namen wie Svenja Flaßpöhler, Gerhard Polt, HA Schult, Julie Zeh oder Ranga Yogeshwar vermutet der kleine Zyniker, der hier stets mitschreibt, daß die Verlockung, den eigenen Namen einmal wieder in der Zeitung zu lesen war, den Ausschlag gegeben haben könnte.

Das andere ist, wie selbstbezüglich und weltfremd, welt“entfremdet,“ die vorgetragenen Forderungen daherkommen, mit welcher Blindheit für das, was seit nun mehr als neun Wochen 1800 Kilometer östlich von hier (die Luftlinie zwischen Berlin und Luhansk) passiert. Immerhin hat selbst die Politik dieses Staates, hat ein Großteil der Bevölkerung erkannt, mit was wir es hier zu tun haben: mit einem brutalen Angriffskrieg, einer Invasion, mit einer gezielt gegen die Zivilbevölkerung geführten Gewaltanwendung. Kein Appell eines Politikers, ob aus dem Westen oder Osten, ob weltlicher Führer, Papst oder Dalai Lama, wird das russische Militär daran hindern, damit fortzufahren. Dieser Krieg ist einzig und allein die Entscheidung von Präsident Putin. Er, und er allein (und die Militärführung, die sich auf diesen Krieg eingelassen hat und den sie, auf lange Sicht, nicht gewinnen kann), mitsamt seinem inneren Zirkel, sind dafür verantwortlich. Putin hat sich auf die „Lösung des Problems Ukraine“ auf exakt dieselbe Weise entschieden, wie die Führung des Dritten Reiches 1939 und 1940 mit dem Überfall auf Polen und die Niederlande. Sein erklärtes Ziel ist die Auslöschung der ukrainischen Staatlichkeit und der ukrainischen Identität. Selbst Neville Chamberlain, des Münchener Abkommen von 1938 von vielen, sehr vielen im Westen als tatsächliche Friedensgarantie, als vertraglich gesicherter „Frieden in unserer Zeit“ gesehen wurde, hat sich nach dem Einmarsch deutscher Truppen am 1. August 1939 sofort und eindeutig der Realität gestellt. Keinem „Meisterdenker“ wäre es bis zum Sieg der Alliierten sechs Jahre später eingefallen, Initiativen zu einer „friedlichen Beilegung des Konflikts“ zu fordern. Selbst der Besuch des norwegischen Nobelpreisträgers für Literatur, Knut Hamsun auf dem Obersalzberg im Juni 1943, der ihm neben seinen Aufrufen zum Unterlassen jeden Widerstandes nach dem Krieg einen Prozess als Landesverräter einbrachte, diente dem Zweck, erleichterte Lebensbedingungen für Zwangsarbeiter aus Norwegen zu erwirken.

Wie illusorisch solche Vorstellungen aus der Kindergartenwelt derartiger „Fundamentalpazifisten“ sind, hat der Rest der nicht mit Nabelschau beschäftigten Welt anläßlich des Besuchs der österreichischen Kanzlers Nehammer vor drei Wochen im Kreml sehen können. Nehammer hat diese Visite zum Anlaß genommen, Präsident Putin „ernsthaft“ auf die Morde seiner Soldateska in Butscha anzusprechen, die neun Tage vorher nach dem Abzug der russischen Besatzer entdeckt worden waren. Und Herr Putin hat diese Erinnerung zum Anlaß genommen, die Einheit der russischen Armee, die Butscha Anfang März besetzt hatte, die 64. Garde-Mot-Schützenbrigade sechs Tage später, am 18. April, den Gardestatus (гвардейские части), alos die Erhebung zur Eliteeinheit „wegen persönlichem Mut und Tapferkeit“ zu verleihen. Was in aller Welt läßt unsere Traumtänzer vermuten, irgendjemand anderem, der ein weißen Fähnchen schwenkend daherkommt, könnte es anders ergehen? Putin hat wiederholt erklärt, daß die bisherigen „Friedensverhandlungen“ nutzlos und Zeitverschwendung sind – und jedem, der mit der Geschichte aller Kriege der Vergangenheit vertraut ist, müßte dies deutlich sein.

Es gibt nur eine Bedingung, unter denen ein Aggressor, der einen solchen Krieg führt, zum Nachgeben gezwungen werden kann: wenn ihm im Fall eines Weitermachens die sichere Niederlage vor Augen steht, wenn der Preis weiterer Zerstörung und weiteren Mordens der eigene Machtverlust ist. Oder wenn seine Armee nicht zu weiteren Eroberungen, zu weiterem Operieren überhaupt in der Lage ist. Putin hat sich mit seinem Entscheid für eine Invasion der Ukraine und, nach der Niederlage in der „Schlacht um Kyiw,“ in der Entscheidung für eine Panzerschlacht im Donezbecken klar positioniert. Dieser Krieg wird auf dem Schlachtfeld entschieden werden. Alea iacta est – die Würfel sind gefallen. Und die einzige Weise, in der das ukrainische Militär darin unterstützt werden kann, diese Entscheidung für sich zu entscheiden – oder ein Unentschieden herbeizuführen oder der russischen Seite so hohe Verluste zuzufügen, daß weitere Operationen aus Mangel an Material, Panzern und Nachschub nicht mehr möglich sind – kann vom Westen nur unterstützt werden, indem man der ukrainischen Seite Unterstützung zukommen läßt – an Munition, an Ausrüstung, Verpflegung, Treibstoff – und gerade vor allem an schweren Waffen.

Die Ukraine - und der Westen – haben sich diese Bedingungen nicht ausgesucht, sie haben sie nicht gewählt. Dies ist einzig die Entscheidung Russland, von Wladimir Putin. Aber so zu tun, als sei es anders, zeugt von einer benehmenden Blindheit, von einem Pazifismus, der sich darüber ärgert, daß der „böse Krieg“ trotz allem ausgebrochen ist und ihn in seiner Kindergartenwelt, sich mit „den eigentlichen Problemen unserer Welt“ zu befassen – etwa dem Klimawandel. Im Schwarzer’schen Aufruf heißt es wörtlich:

„Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben. Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.“


Unter dem Weltfrieden tun sie es nicht. Und der Kleine Zyniker findet auch, daß der Ausstoß an CO2 und Dieselruß durch Panzer an den Fronten in der Ukraine ein bedenkliches Maß angenommen hat, vom Feinstaubgehalt ganz abgesehen, wenn wieder einmal Löcher in die Fassaden von Krankhäusern und Wohnblocks geschossen werden. Und wenn diese Traumtänzer sich angesichts der Verletzten und Toten in der Ukraine sich lieber Sorgen um die „globale Gesundheit“ machen, braucht man eigentlich kein Wort mehr über ihren geistigen und moralischen Zustand zu verlieren.

Infam wird es, wenn die Verfasser des „offenen Briefs“ zwischen den Aggressoren (und hier gilt Tucholkys berüchtigter Satz: „Soldaten sind Mörder!“) und denen, die ihre Heimat, ihre Familien und ihre Freiheit verteidigen, eine Äquidistanz einfordern:

„Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.“ Und: „Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.“


„Nicht ohne Gegenwehr“ – aber bitte nicht zu heftig! Wenn das die Lehre aus 75 Jahren Nachdenken über den Zweiten Weltkrieg, aus nachgeholtem Widerstand gegen des Faschismus und gegen schrankenlose Gewalt ist, dann ist in diesen drei Generationen etwas gründlich schiefgelaufen. Mit den gleichen Floskeln hätten diese Moralapostel auch die Polen 1939 und die Franzosen, Niederländer, Dänen und Norweger 1940 aufgefordert, keinen sinnlosen Widerstand zu leisten. Und ein Jahr darauf die Bewohner der Ukraine.

In diesem Zusammenhang möchte ich mir eine kleine historische Anmerkung an die Adresse all jener erlauben, die eine Haltung vertreten, die sich so zusammenfassen läßt: „Ich bin nach 1945 geboren, und ich schulde der Ukraine gar nichts!“ – eine Haltung, die sich in den deutschen sozialen Medien wie Twitter und Facebook in erschreckender Häufung findet. Ich möchte daran erinnern, daß die Ukraine – und die umgebenden Länder von Polen, Weißrussland und die drei baltischen Staaten – vom amerikanischen Historiker in seinem 2010 erschienen Buch als „Bloodlands“ bezeichnet worden sind (auch die deutsche Übersetzung trägt diesen Titel). In den dreizehn Jahren zwischen 1931 und 1944 haben auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gut 14 Millionen Menschen einen gewaltsamen Tod gefunden. Die Hälfte davon waren die Opfer der zweitgrößten Hungersnot des 20. Jahrhunderts, willen von der Sowjetunion herbeigeführt, um den Widerstand der Bevölkerung gegen die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zu brechen, dem „Holodomor.“ Aber genauso viele Menschen sind zehn Jahre später der Gewalt in der von der deutschen Wehrmacht besetzten Ukraine zum Opfer gefallen. Selbst wenn man die 1,65 Millionen ukrainischen Soldaten, die im Kampf gefallen sind, auch teilweise der barbarischen Kriegsführung der sowjetischen Militärführung zuschreibt (die nach dem Konzept der „menschlichen Welle,“ der Психическая атака, einfach Hundertschaft um Hundertschaft ins tödliche Gefecht schickte, bis dem Gegner die Munition ausging), so bleiben noch 3,7 Millionen, die direkt Opfer der Gewalt wurden und weitere 1,5 Millionen, die an den Folgen von Hunger und Seuchen im Gefolge der entsetzlichen Zustände starben. Das sind die Zahlen, die die Haltung des ukrainischen Botschafters Melnyk entschuldigen, wenn er wieder und wieder ein Engagement der deutschen Seite fordert. Wenn die Nachkommen der Täter, die für das erste Schlachten verantwortlich waren, dieses Land, dieses Volk überfallen und wieder mit schrankenloser Gewalt vorgehen, dann sind die Nachkommen der zweiten Täterschar, die ihre Taten im Namen Deutschlands getan haben, diesem Land, diesem Volk gegenüber zu jeder Hilfe verpflichtet, die sie leisten können. Wenn sie denn den Anspruch erheben wollen, irgendetwas aus der eigenen blutigen Geschichte gelernt zu haben. Wenn sie noch irgendeine Moral für sich beanspruchen wollen.

Im einem der Bücher des englischen Schriftstellers Patrick Hamilton-Paterson, bei uns durch die Übersetzung seines Buchs „Seven-Tenth“ unter dem Titel „Seestücke“ bekannt geworden, der seit Jahrzehnten in der Diaspora im Norden Frankreichs lebt, findet sich die folgende Begebenheit: einige Zeit, nachdem er Anfang der siebziger Jahre in das kleine Dorf in der Normandie gezogen war, bemerkte er auf einem Sonntagsspaziergang ein Begräbnis auf dem Dorffriedhof, bei dem nur der Priester, der Kaplan und die Totengräber anwesend waren, und nicht, wie üblich, die gesamte Dorfbevölkerung. Der einzige Trauergast war eine in Schwarz gekleidete ältere Frau. Hamilton-Paterson gesellte sich dazu, um die Zahl zu erhöhen, und lud sie anschließend, um die absolute Trostlosigkeit zu mindern, zu einem Kaffee im nächsten Bistro ein. Dabei stellte sich heraus, daß es sich bei ihr um die Schwester des Verstorbenen handelte, der jahrzehntelang in einem Haus am Dorfrand gelebt hatte, von allen anderen Bewohnern strikt gemieden; er sei nicht einmal gegrüßt worden. Auf Hamilton-Patersons Frage nach dem Grund sagte seine Schwester: er war im Widerstand gegen die Deutschen, in der Résistance. Auf seine erstaunte Reaktion – er hatte, wie jeder andere wohl auch, erwartet, daß ein solcher Mensch seinen letzten Gang von allen geehrt antreten würde, erzählte sie ihm dies: Gegen Ende des Kriegs war auf eine Bahnlinie auf einen Zug, der deutsche Soldaten transportierte, ein Anschlag verübt worden. Der Widerstandskämpfer floh zu dem vereinbarten Kontaktmann – eben diesem Bruder – der ihn in der Scheune versteckte und in den nächsten Nacht über Waldwege zu der Partisanengruppe brachte, die dafür sorgte, daß der Attentäter nach Süden entkommen und eine neue Identität verliehen bekam. Als ihr Bruder nach einer Woche, nachdem die Suche durch die Deutschen beendet worden war, wieder auf den Hof der Familie zurückkehrte, mußte er feststellen, daß die SS herausbekommen hatte, von welchem Hof auf diese Flucht aus organisiert worden war. Die gesamte Familie war verhaftet worden, und zwei seiner Onkel hatten die Folter nicht überlebt, weil sie keine Auskünfte geben konnten, da sie nicht eingeweiht waren. Die Folge war, daß er für den Rest seiner Lebens aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen worden war.

Es sind solche Episoden, die klarmachen, was den Ukrainern bevorsteht, wenn sie diesen Krieg verlieren. Es gibt jetzt schon Berichte, daß aus den besetzten Gebieten Hunderttausende nach Russland deportiert worden sind, daß Kinder, deren Eltern umgekommen sind, in den Osten Russland zur Adoption verbracht werden. Eine besetzte Ukraine könnte von der russischen Seite nur mit derartiger Gewalt kontrolliert werden. Jeder, der in Waffenlieferungen an die Ukraine nur eine „sinnloser Fortsetzung der Gewalt“ sieht, sehen will, sollte sich dies drastisch vor Augen halten. Nein, ein Ende der Gewalt wird nur durch eine militärische Entscheidung, durch einen Rückzug der russischen Armee erfolgen. Durch nichts sonst.

Als Motiv hinter dem Appell von Frau Schwarzer und Co. steht die Angst, daß Putin durch Waffenlieferungen an die Ukraine Deutschland als Kriegsgegner ansehen und durch eine formelle Kriegserklärung den Bündnisfall auslösen könnte – der dann, ganz, offiziell, den Beginn des Dritten Weltkriegs“ markieren würde. Dazu ist Folgendes zu sagen: diese Entscheidung liegt nicht in unserer Hand. Viele NATO-Mitglieder – Dänemark, die Niederlande, England, vor allem aber die Vereinigten Staaten mit ihrer Reaktivierung des Lend-Lease-Programms aus dem Zweiten Weltkrieg – liefern jetzt schwere Waffen und schweres Gerät an die Ukraine, um ihre militärisch zu einem Erfolg zu verhelfen. Und diese Länder werden sich nicht durch das pseudomoralische Gerede eines deutschen Regierungschefs davon abhalten lassen. Und wenn Herr Putin dies als Anlaß einer Kriegserklärung nimmt, so tritt der oben genannte Bündnisfall, die Verpflichtung zum Beistand, von dem der Staat Bundesrepublik Deutschland als Mitglied des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses betroffen ist, in jedem Fall ein. Auch auf die Möglichkeit, daß die russische Seite, weil ihr aus ihrer Perspektive keine andere Möglichkeit eines direkten Angriffs bleiben würde, die Staaten dieses Bündnisses mit Atomwaffen anzugreifen könnte. Um es noch einmal zu wiederholen: diese Entscheidung liegt nicht bei uns. Wir haben nicht die Möglichkeit, Putin zum Nachgeben zu zwingen, und ebenso wenig, das westliche Bündnis zum Stillhalten zu verdonnern. Eine solche Haltung öffentlich einzufordern, fällt moralisch unter die Kategorie der „Moral Insanity.“

Darüber hinaus halte ich die Gefahr, daß es zu einem "atomaren Weltbrand" kommt, für sehr gering - auch wenn ich angesichts der irrsinnigen Entscheidung Putins, diesen für ihn nicht zugewinndenden Krieg zu beginnen, nicht ausschließen kann. Ich gehe davon aus, daß Putins und der Zirkel um ihn fest davon überzeugt war, daß es bis zur Kapitulation der Ukraine keine Woche dauern würde und daß es sich um einen Blitzkrieg handeln würde. Aber auch Putin wird wissen, daß der tatsächliche Einsatz von Nuklearwaffen - ob nun gegen die NATO oder in der Ukraine - das sofortige Ende seines Systems, das Ende von Russland als Staat bedeuten würde. Es mag zynisch klingen - aber der Einsatz einer einzelenn Atombombe gegen den Westen wäre KEIN Armageddon, so schrecklich die Folgen für die betroffene Bevölkerung bei einem Einsatz gegen zivile Ziele, etwa eine Großstadt, auch wäre. Und auch Putin kann den Einsatz einer solchen Boombe nicht ganz allein für sich in Gang setzen. Es braucht Bedienungsnmannschaften, die die Sprengsätze auf die Interkontinentalrakten montieren, die Koordinaten einstellen und den Start auslösen. Die russische Militärführung hat sich, wie es bei ihr schon in Sowjetzeiten der Fall war, einen Kehricht (mit Verlaub gesagt) um das Leben und die Verluste unter ihren einfachen Soldaten gekümmert; die Ukraine beziffert mit den Stand von heute die russischen Verluste auf mehr als 23.000. Aber daß sie den eigenen Untergang, aus eigenem Verschulden, willentlich herbeitführen würde, glaube ich nicht. Ich halte es sogar für ziemlich ausgeschlossen.

Einen kleinen Trost habe ich immerhin für die Unterzeichner dieses Aufrufs. Wie oben erklärt, geht und ging es solchen Gratismutigen ja gar nicht um tatsächliche Wirkung, sondern nur darum, um öffentlich als „die Rechtschaffenen“ wahrgenommen zu werden (der Titel von Jonathan Littells Roman von 2006, „Les bienveillantes“, die Wohlgesinnten, fällt mir an dieser Stelle spontan ein). Nun: der Weckruf ist zur Kenntnis genommen worden. Eine der Reaktionen setze ich unter diesen Text.







U.E.

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