(Hal Clement, 1922 - 2003)
I.
Als passionierter Leser von Science Fiction (oder vielleicht sollte ich besser schreiben „als langjähriger Leser,“ denn mit der Passion hält es sich oft in bescheidenem Rahmen) lernt man, mit Paradoxen zu leben. Eines der hartnäckigsten davon ist der „Tod des Genres.“ Schon in den 1970er Jahren, als ich mit zuerst für das Genre begeistert habe und anfing, die Texte im Original, also auf Englisch zu lesen, war „The Death of Science Fiction“ in den Vorworten der jährlich erscheinenden Auswahlbände mit den besten Kurztexten des Vorjahres ein Dauerbrenner – obwohl die Herausgeber wie Terry Carr oder Donald A. Wollheim natürlich versicherten, ihre Florilegien seien der schlagende Beweis für die Lebendigkeit, den Ideenaustausch, die die Fülle an frischen Talenten dieses kleinen Orchideengartens der Unterhaltungsliteratur. Die Frage ist sogar älter: 1961 erhielt Earl Kemp (1929-2020) für die Zusammenstellung der Antworten auf die Frage „Who Killed Science Fiction?“, die er per Post an einige Dutzend der namhaftesten Genreautoren gerichtet hatte, auf dem 19. Worldcon in Washington den „Hugo Award“ als „bestes Fanzine des Jahres.“ Augenscheinlich war angesichts der Verwirklichung von „Zukunftsträumen“ wie der Raumfahrt, „Elektronengehirnen,“ der Popularität billiger Monstren im Kino und dem gefühlten Niedergang der Magazine, die bis dahin das Hauptreservoir für Genretexte dargestellt hatten, ein gewisses Gefühl der Ernüchterung unter den Fans durchaus verbreitet. Andererseits hat sich das Genre in den folgenden Jahrzehnten als durchaus lebendig, als sich immer wieder erneuernd, neue Themen aufgreifend, erwiesen.
Und doch: seit 10, 15 Jahren habe auch ich den Eindruck, daß diese Literaturspalte tatsächlich „auserzählt“ ist, daß wir uns im finalen Stadium eines Genres befinden – vergleichbar dem Zustand, in den der Western vor etwas über einem halben Jahrhundert, mit dem Auskommen der Italo-Western und den abgeklärt bis zynischen Rückblicken in Filmen wie „Rooster Cogburn,“ „Ein Mann, den sie Pferd nannten,“ oder „Butch Cassidy and the Sundance Kid“ eingetreten ist. Es werden zwar gelegentlich noch Bücher (und manchmal sogar Filme) verfertigt, die sich bei den Themen und Tropen des Genres bedienen. Aber es ist gleichsam ein Erzählen aus zweiter Hand, ein Zitieren – und oft eine pflichtschuldige Übung. Dafür gibt es gute, handfeste Gründe. Zum einen sind die Themen, die Grundkonstellationen, in den letzten 80 oder 100 Jahren in allen erdenklichen Varianten durchgespielt worden: die Begegnung mit dem Fremden, die Erkundung der tatsächlichen Weiten der Milchstraße, wie sie die Astronomie erschlossen hat, die Paradoxien, die sich aus der Denkmöglichkeit einer Zeitreise ergeben…: all das ist hunderte von Malen behandelt worden. Und es gibt nicht unendlich viele Möglichkeiten, hier neue Varianten hinzuzuersinnen. Wenn sich ein Autor heute, zwei Jahrzehnte tief in „der tatsächlichen Zukunft“ des einundzwanzigsten Jahrhunderts, etwa das Thema der „èducation sentimentale“ einer künstlichen Intelligenz wählt, dann kann dabei ein schönes und anrührendes Kabinettstück herauskommen wie im Fall von Martin l. Shoemakers „Today I Am Carey“ (2019) oder eher etwas Banal-Undifferenziertes wie Kazuo Ishiguros „Klara and the Sun“ aus dem vorigen Jahr (dem ersten Roman, den der Autor publiziert hat, nachdem er den Nobelpreis für Literatur erhalten hat). Aber etwa Revolutionäres, etwas grundstürzend Neues haftet diesen Texten nicht mehr an – sie reihen sich ein in die lange Reihe ihrer Vorläufer, in denen eine KI oder ein Roboter Selbstbewußtsein entwickelt, um seine Anerkennung als Intelligenz und um das recht auf Existenz kämpft oder als unschuldiger Kommentator den Autor satirisch das menschliche Narrentreiben kommentieren läßt – wie in Frank Herberts „Destination: Void“ (1966), David Gerrolds „When H.A.R.L.I.E. Was One“ (1973), John Sladeks „Roderick or The Education of a Young Machine“ (1980), Greg Bears „Queen of Angels“ (1990) oder Richard Powers‘ „Galatea 2.0“ (1995), um nur eine Handvoll von buchstäblich Hunderten von Titeln zum Thema zu nennen.
Das andere ist: mit vielen der Standardmotive und -themen, die in diesen letzten gut 80 bis 100 Jahren das Repertoire des Genres gebildet haben, kann man als Autor nicht mehr gut reüssieren, wenn man denn nicht nur ein selbstbezügliches Spiel mit diesen Versatzstücken treiben möchte (wie es zumeist in der Fantasy der Fall ist), sondern es mit der Schilderung einer tatsächlich denkbaren Welt der Zukunft ernst meint – soweit das einem Sterblichen, dem der Blick in die Kristallkugel in der Regel verwehrt ist, eben möglich ist. Reisen zu fernen Gestirnen mit dem Hundert- oder Tausendfachen der Lichtgeschwindigkeit verbietet nicht nur die Physik, auch der Blick auf die Realitäten der Raumfahrt macht die „willing suspension of disbelief,“ das Sicheinlassen auf das Irreale, die nach Coleridge den Pakt zwischen Autor und Leser ausmacht, eher beschwerlich. Roboter in Menschgestalt (ob nun mit Selbstbewußtsein ausgestattet oder nicht), der Besuch außerirdischer Intelligenzen, „paranormale Fähigkeiten“ unserer evolutiven Nachfolger, die unerkannt unter uns leben: all das ist in den letzten Jahrzehnten aus dem Portfolio einer Zukunft, die Anspruch auf Seriosität legt, recht definitiv gestrichen worden. Der einzige Versuch, jemals auf konkret durchgerechnete Weise zu schildern, welchen Aufwand an Zeit, Energie, Material es braucht, um auch nur das nächstgelegene Sonnensystem zu erreichen, stellt Kim Stanley Robinson Roman „Aurora“ aus dem Jahr 2015 dar (er wählt Tau Ceti, 12 Lichtjahre entfernt, als Zielstern) - und wie in Andy Weirs „The Martian“ drei Jahre vorher, der dasselbe für einen Aufenthalt auf unserem roten Nachbarplaneten durchspielt, ist das Saldo des Gedankenexperiments zutiefst pessimistisch.
Kein Wunder, daß man als Zaungast des Genres mitunter den Eindruck haben kann, das einzig verbliebene Thema dieser Art sei die „Cli Fi“ – Climate Fiction – in denn die uns angeblich im Haus stehenden Verheerungen durch den „menschengemachten Klimawandel“ der Punkt sind, um den sich alles dreht. (Als Beispiele seien genannt: Margaret Atwqoods „Oryx and Crake“ (2003), samt den beiden Fortsetzungen, die „Science in the Capital“-Trilogie, ebenfalls von Kim Stanley Robinson (2004-2007), Jeanette Wintersons „The Stone Gods“ (2007), Marcel Therouxs „Far North“ (2009), Barbara Kingsolvers „Flight Behavior“ (2012) oder Diane Cooks „The New Wilderness“ (2012). Ich will diesen Autoren nicht einmal die gute Absicht absprechen. Aber solche Traktate, die eine zerstörte, verheerte, nicht mehr bewohnbare „Welt der Zukunft“ schildern, gab es auch schon in der ersten Welt des Öko-Alarmismus vor einem halben Jahrhundert zuhauf; sie haben sich als durch die Bank irrig erwiesen – und vor allem: wie bei den Romanen der Nachkriegszeit, in denen vor der Zerstörung der Welt und dem Ende der Menschheit durch „die Bombe“ gewarnt wurde, kann man dergleichen als Leser ein- oder zweimal ertragen, aber nicht als Dauerkost. Der indische Autor Amitav Ghosh („The Calcutta Chromosome“) hat 2016 in seinem Buch „The Great Derangement“ die „fehlende Beschäftigung mit dem Klimawandel“ als „das große Manko der Gegenwartsliteratur“ bezeichnet. Er fehle dort noch mehr als im öffentlichen politischen Diskurs. Offenbar hat Herr G. mindestens die letzten 30 Jahre seit Al Gores „World in the Balance“ über die jährlichen Klimakonferenzen der UNO und die Dauerbeschallung in den Medien durch die üblichen Verdächtigen von Rajendra Pachauri bis hin zur Stockholmer Klimagöre verschlafen. Auf jeden Fall kann man es niemandem verdenken, der es sich verbittet, daß ihm ein wenig geistiges Divertimento auch noch durch eine solche verordnete Dauerbeschallung vergällt wird. Man kennt dergleichen aus eben den letzten 100 Jahren in vergleichbarer Form.
II.
Salopp gesagt, könnte man für die SF den Satz abwandeln, den Frank Zappa vor einem guten halben Jahrhundert auf den Jazz gemünzt hat: „Science fiction is not dead – it just smells funny.“ Es gibt weiterhin Autoren, die sich des Genres und seiner Themen bedienen; es erscheinen pro Jahr, zumindest im englischen Sprachbereich, gut an die 1000 bis 1500 Erzählungen, die sich der Genre-Trias SF, Phantastik und Fantasy zuordnen lassen – auch wenn das Allermeiste davon wenig inspiriert und wenig inspirierend anmutet. Aber eine Spielart des Genres, die definitiv der Vergangenheit angehört, ist die der „Hard Science Fiction“ – jener Untergattung, deren erster markanter (und lange Zeit bekanntester) Vertreter der heute vor 100 Jahren in Sommerville, Massachusetts geborene Harry Clement Stubbs war, der seine Romane und Erzählungen ausnahmslos unter dem nom de plume „Hal Clement“ publiziert hat. Für Genreverhältnisse hat der Autor ein recht schmales Werk vorgelegt: innerhalb von gut 6 Jahrzehnten hat er es auf 8 Romane und gute 40 Kurzgeschichten gebracht.
Bei dieser Variante geht es darum, daß der Autor bei der Schilderung der Umgebung, in der er (oder sie: ich verwende „Verfasser“ in bewußter Mißachtung neudeutscher Sprachverhunzer, als generisches Maskulinum) seine Geschichten ansiedelt: den Gesetzen der Physik, der Astronomie, der Biologie Rechnung tragend – soweit es nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens eben möglich ist. Vor allem aber: daß sich das dort geschilderte Geschehen, die Akteure, die Probleme, denen sie sich gegenübersehen und deren Auflösungen aus den Gegebenheiten der oft bizarren Umwelten ableitet, aus den Merkmalen, die Lebewesen entwickelt haben, um darin zu überleben. Zwar war dies seit H. G. Wells (und seinen französischen Zeitgenossen J. H. Rosny ainé) immer wieder Thema gewesen (Wells‘ Seleniten in „The First Men in the Moon“ (1901) oder Rosnys Lebewesen auf Siliziumbasis in „Les Xipehuz“ (1887) stellen frühe Beispiele dafür dar) – aber Clement machte dies zu seinem unverbrüchlichen Kennzeichen. Clement, der im Zivilstand Chemielehrer war, hat seiner ersten Veröffentlichung, der Kurzgeschichte „Proof“ von 1942, seine Texte ganz auf diese Aspekte hin konzipiert: auf die Konsequenzen, auf die Möglichkeiten, die sich aus extravaganten physikalischen Gegebenheiten, aus exotischer Biologie auf möglichst logische Weise ableiten lassen. Das nächste literarische Äquivalent, das einem in den Sinn kommen könnte, sind vielleicht die „Locked Room Mysteries,“ wie sie etwa die Spezialität des englischen Autors John Dickson Carr (1906-1977) bildeten: während bei Carr das Hauptaugenmerk darauf liegt, wie wohl Onkel Dagobert in seinem hermetisch versiegelten Geldspeicher nicht durch einen Kopfsprung in den schnöden Mammon von der irdischen Bühne abgetreten ist, sondern dem perfiden Komplott der Panzerknackerbande zum Opfer fiel, so sind die Gegebenheiten des Lebens und Überlebens in exotischen, absolut fremden Umwelten das A und O von Clements Fiktion.
Clement schrieb seine Erzählungen zumeist für das Magazin Astounding Science Fiction, dessen Herausgeber John W. Campbell Jr den Ehrgeiz hatte, in den 40er und 50 Jahren des 20. Jahrhunderts die Texte seines Magazin von den „Monster, Strahlenpistolen und kreischende Maiden“-Image der bunten Groschenhefte fort- und zu einem Metier hinzuentwickeln, das Ingenieuren und Wissenschaftlern als Anregung und Spielwiese ihrer Phantasie dienen konnte. (Daß Campbells Fiable für das „Ausgefallene“ und „Unorthodoxe“ ihn in der Folge dazu verleitete, allerhand pseudowissenschaftlichem Unfug wie Ron Hubbards „Scientologie,“ den schon erwähnten „Mutanten mit paranormalen Fähigkeiten“ oder dem „reaktionslosen“ Dean-Antrieb eine möglichst große Bühne zu bieten, hat dann einen Großteil dieser Leserschaft beträchtlich vor den Kopf gestoßen.) Clement, der sich als Autor stets als schreibender Amateur betrachtete, war durch seine Spezialisierung gegen eine anderen Campbellsche Marotte immunisiert: den Human-Chauvinismus, der ihn seinen Autoren diktieren ließ: „Außerirdische“ seinen stets und in allen Belangen seinen menschlichen Weltraumfahrern überlegen. (Andere Autoren, wie etwa Eric Frank Russell oder Robert Sheckley umgingen das, indem sie ihre Texte von vornherein als Slapstick anlegten, in dem die von „JWC“ gehaßten Bürokraten – egal ob sie die „wissenschaftliche Orthodoxie“ vertraten oder das Militär – sich vor den cleveren Eingeborenen blamierten.)
Wie so viele der von Campbell entdeckten Autoren begann auch Clement seine Karriere sehr jung: Campbell besprach eingesandte Texte, die ihm vielversprechend erschienen, in langen Briefen mit den jungen Verfassern, die sich zumeist am Ende ihrer High-School-Zeit oder am Beginn ihres Studiums befanden und ließ sich oft mehrere Fassungen vorlegen, die er oft bis in die kleinsten Details kritisierte. Auch Autoren, von denen er am Ende nie einen Text annahmen, empfanden das als eine ungeahnte Schulung – und einer Herausforderung, den Ansprüchen, die an sie gestellt wurden, gerecht zu werden. So kam es, daß Isaac Asimov mit 20 Jahren nach mehr als zwei Dutzend Anläufen unglaublich stolz war, als Campbell einen Text von ihm annahm – ein halbes Dutzend der früheren Versuche hatte er in der Zwischenzeit anderenorts untergebracht. Ein hübsches kleines Paradox liegt darin, daß Clements erste Story einen Monat NACH seinem 20. Geburtstag publiziert wurde – im Juni 1942, realiter aber einen Monat davor erschienen ist, nämlich Mitte April, weil die Ausgaben des Magazins vordatiert waren. In der Erzählung „Proof“ geht es schon um ein quintessenziell Clementsches Thema: nämlich um außerirdisches Leben, das in Gasform auftritt, nur im Inneren von Sternen existieren kann und der Vorstellung, auf festen Himmelkörpern könne es Leben geben, als schiere Ketzerei empfindet.
In Clements meistgelesenem Roman, “Mission of Gravity“ (Magazinveröffentlichung 1953; in Buchform im Jahr darauf im Verlag Doubleday erschienen; der als erster 1950 damit begonnen hatte, die verpönte Groschenheftliteratur in respektabler Form an die nicht auf Nerdtum geeichte Leserschaft zu bringen) läßt sich dieses Verfahren mustergültig nachverfolgen. Der Roman spielt auf dem Planeten Mesklin, den der Autor ganz auf den Zweck seiner Geschichte hin konstruiert hat (so wie Carr die geheimen Mechanismen des Duckschen Geldspeichers). Der Planet, der die 16fache Masse des Jupiter aufweist, umkreist den Stern 61 Cygni, elfeinhalb Lichtjahre von der Erde entfernt. Diese Welt, die sich der Autor nach der damaligen Vorstellung der Astronomie nicht als riesige Gaswelt (analog zu dem vier äußeren Planeten unseres Sonnensystems) vorstellt, sondern von irdischer Beschaffenheit, rotiert derart schnell um die eigene Achse, daß ein Tag nur 16 irdische Minuten dauert. Der Sinn dieser Karussellfahrt ist, daß diese Welt keine Kugelform aufweist, sondern die eines extrem abgeplatteten Rotationsellipsoids mit einem Durchmesser von 77.000 Kilometern am Äquator und gut 32.000 an den Polen. Und der Sinn und Zweck, eine Welt in Form eines leicht zu groß geratenen Baseballs zu postulieren, besteht darin, daß durch die enorme Fliehkraft die Schwerkraft an Äquator das 3-Fache der irdischen Schwerkraft beträgt, an den Polen aber das 700-fache! Die Geschichte ist aus der Perspektive eines Vertreters der intelligenten einheimischen Spezies, Barlennan, erzählt, eines gut handspannengroßen Wesen das einer Mischung aus Skorpion und Tausendfüßler gleicht und bei einer Schiffexpedition in die unerforschten Gebiete an Äquator auf ein monströses außermesklinitisches Wesen trifft: Lackland, der von der irdischen Expedition auf den Planeten geschickt worden ist, um eine in Polnähe havarierte Forschungssonde zu bergen. Lackland, der sich mit Hilfe eines mechanischen Exoskeletts mühsam bewegen kann, kann Barlennan von seinen guten Absichten überzeugen und ihn dazu bewegen, die Sonde zu bergen (der Auftrieb seines Floßes wird durch die zunehmende Schwerkraft ja nicht tangiert). Der eigentliche Protagonist des Romans ist der Schauplatz, der in seiner extremen Ausformung alles bis dahin Dagewesene sprengt: die irrealen Beleuchtung durch die wirbelnde Sonne, die Meers aus flüssigem Methan, die durchschnittliche Außentemperatur von -170° Celsius. (Clement konnte zu dieser Zeit nicht ahnen, daß es tatsächlich eine Welt mit einem Meer aus flüssigem Methan gibt: den Saturnmond Titan).
(Mesklin in der Darstellung von Stephan Martiniere, 2002)
Die Kehrseite eines solchen literarischen Vorgehens sind die handelnden Personen: obwohl Barlennan und seine Crew Produkte ihrer extremen Umwelt sind, hat der Leser an keiner Stelle das Gefühl, „wirklichen Außerirdischen“ zu begegnen; sie denken und fühlen wie ihre irdischen Pendants (ein Problem, das Zuschauer von TV-Serien wie „Star Trek“ zur Genüge kennen). Und da die exotischen Gegebenheiten der erklärte Fokus des Textes sind, aus dem sich etwa Barlennans Angst vor dem kleinsten zu überwindenden Höhenunterschied ergibt, gleicht der oft über Seiten hinweg einer rein auf solche Details beschränkten Beschreibung.
Diese Reduzierung von „Hard Science Fiction“ auf Diagramme und Illustrationen von Formeln ist ein Manko, das dieser Art von Texten unweigerlich anhängt. It’s not a bug, it’s a feature: so wie dem Krimi-Leser die Einzelheiten für den Mord an Dagobert präsentiert werden müssen, müssen ihm auch die Zusammenhänge der „anderen Welt“ vorgeführt werden – auch wenn das Ergebnis oft Ähnlichkeit mit einer Laboranordnung zeigt. „Es gab Zeiten, an denen Astounding so sehr nach Forschungslabor roch, daß man es auf Filterpapier hätte drucken sollen,“ schrieb Brian W. Aldiss 1973 in der ersten Literaturgeschichte über das Genre, „Billion Year Spree,“ in Hinblick auf eine andere Erzählung von Hal Clement, „Fireproof.“
An „Fireproof“ zeigt sich ein anderer Aspekt dieser Art von Texten. Diese Art der Problemlösung, der Fokussierung auf technische und physikalische Detail fordert Leser, gerade solche in Laborkitteln, geradezu heraus, nach Fehlern und Unterlassungen zu suchen. In Clements kleiner Story aus dem Jahr 1949 geht es darum, daß ein sowjetischer Spion versucht, die Raumstation, die der Westen als erster in der Umlaufbahn montiert hat, zu sabotieren – indem er sie einfach anzündet. Die Station ist nämlich aus Gründen des Masseeinsparung aus dem leichtesten aller irdischen Metalle, aus Magnesium, gefertigt – das bekanntlich im Chemieunterricht spektakulär mit dem Luftsauerstoff reagiert, wenn es eine Temperatur von mehr als 453°C erreicht. Der Plan schlägt fehl, „weil der Saboteur nicht darüber informiert war, worden ist, daß es in der Schwerelosigkeit keine Konvektion gibt - zum Glück für den Westen,“ merkt Aldiss an. Der kleine Pedant merkt an, daß zum einen die Sprödigkeit von Magnesium es für solche Strukturen eher ungeeignet macht; zum andern, daß in der schnöden Realität in der Raumfahrt – jedenfalls der bemannten, wo man es mit sauerstoffgefüllten Innenräumen zu tun hat – es sehr wohl Luftströmungen gibt, weil die Luft fortwährend durch Pumpen umgewälzt wird, schon um die Konzentration von Kohlendioxid zu verhindern und die Gefahr auszuschließen, daß Astronauten im Schlaf ersticken. Und daß Schwelbrände im Weltraum das gefürchteste Risiko überhaupt darstellen, weil man sie kaum entdecken und im Notfall kaum löschen kann.
("Dust Rag," Astounding Science Fiction, September 1956. Illustration: H. R. van Dongen)
In solcher Zeitbedingtheit liegt auch der Hauptgrund für das Verfallsdatum solcher Texte. Daß Zeitumstände in solchen Erzählungen bruchlos über ein ganzes Jahrhundert hinweg festgeschrieben werden und die künftigen Marskolonisten im Jahr 2100 den kalten Krieg ganz in der Konstellation des Jahres 1950 fortführen (oder dieser „mit dem Atomkrieg von 1969 sein Ende fand“) ist unvermeidlich; aber nachgeborene Leser amüsiert es doch, wenn diese Kolonisten des Jahres 2100 den Kurs zum Roten Planeten mit einem Rechenschieber ermitteln. Auch Hypothesen, die als Fundament gedient haben, sind nicht selten durch Visiten vor Ort nur noch „von historischem Interesse.“ In der Erzählung „Dust Rag“ von 1956 nutzt Clement die Idee, die der aus Wien stammende Astrophysiker Thomas Gold (1920-2004) 1955 hinsichtlich der Natur der Oberfläche des Mondes aufgestellt hatte: während die Gebirge und Krater genügend Furchen und Schründe aufweisen, wirken die dunklen Flächen der Mondmeere, der Maria, fast völlig glatt – von einzelnen Kratern abgesehen. Gold äußerte die Vermutung, die Ursache könnte Staub sein, der durch die harte ionisierende Strahlung der Sonne elektrostatisch aufgeladen worden wäre und einer womöglich viele Meter tiefe „schwebende Schicht“ bilden würde, in der eine Landefähre oder ein Raupenschlepper spurlos versinken könnte – im Fall von eisenhaltigem Staub auch in einem Funkloch. Bei der NASA, für die Gold während der Entwicklung der ersten unbemannten Mondsonden beratend tätig war, hat die Idee des „Goldstaubs“ für viel kollegialen Spott gesorgt; einem Ondit zufolge haben diese Kollegen sogar aus dem Einzelaufnahmen der Sonden Surveyor 1 und 2 360-Grad-Panoramen der Mondoberfläche montiert, um Gold davon zu überzeugen, daß die Lander nicht versunken waren. (In Wirklichkeit dienten diese Bildmosaike der Ermittlung des Anblicks, der auf die ersten menschlichen Besucher wartete, hinsichtlich Helligkeit, Kontrast und Höhe des sichtbaren Horizonts.) Arthur C. Clarke hat die Idee des Goldstaubs 1962 als Vorwand seiner Romans „A Fall of Moondust“ (deutscher Titel „Im Mondstaub versunken“) genommen. (Gold war zu seiner Zeit berüchtigt für sein Eintreten für derlei "Unorthodoxes." Er war einer der glühendsten Verfechter der "Steady State"-Theorie Fred Hoyles über die Entstehung des Universums und in der zweiten Hälfte seines Lebens ein Champion von der Auffassung, daß Erdöl, Erdgas und unterirdische Vorräte an Kohlenwasserstoffen nicht auf fossile Deposite organischer Materie zurückgehen, sondern auf abiotische Prozesse. Auch das findet sich als zwntraler Teil eines späteren SF-Romans, nämlichin Andreas Eschbachs "Ausgebrannt" aus dem Jahr 2008.
Auch Mesklin selbst ist das Resultat einer solchen „erledigten Hypothese.“ 60 Cygni, der Stern, den der planetarische Baseball im 1800 Tagen umrundet, war der erste Stern überhaupt, dessen Entfernung durch die Astronomie vermessen worden ist. In der Nummer 365 der „Astronomischen Nachrichten“ aus dem Jahr 1839 schreibt der deutsche Astronom Friedrich Wilhelm Bessel über seine Beobachtungsreihen an der Königsberger Sternwarte: „Allein im August 1837 konnte ich auf ununterbrochene Fortsetzung einer Beobachtungsreihe von 61 Cygni rechnen. … Was ich jetzt davon mitteile, beruht auf ihrer Fortsetzung bis zum 2. Oktober 1838; sie werden noch weiter fortgesetzt und daher spätere Nachträge zur Folge haben. Wenn man die jährliche Parallaxe von 61 Cygni = 0"3136 annimmt, so erhält man seine Entfernung in mittlerer Entfernung der Erde von den Sonnen ausgedrückt = 65700 und die Zeit, welche das Licht braucht, um diese Entfernung zu durchlaufen = 10,28 Jahre.“ Und ein gutes Jahrhundert später war derselbe Stern der erste, bei dem man glaubte, anhand der Bahnstörungen Hinweise auf einen planetengroßen Begleiter gefunden zu haben. Im 55. Band der „Publications of the Astronomical Society of the Pacific“ berichtete der dänische Astronom Kaj Aage Strand (1907-2000) unter dem Titel “61 Cygni as a Triple System” über einen unsichtbaren dritten Begleiter des Doppelsterns von 0,06 Sonnenmassen und einer Umlaufzeit von 4,9 Jahren – eben jenen Werten, die Clement seinem Experiment im Weltenbau zugrunde legte. 1978 wurden Strands Beobachtungsdaten durch seinen deutschen Kollegen Wulff-Dieter Heintz, der ebenfalls als Sproul Observatory in Pennsylvania forschte, widerlegt.
("Roche Limit," Gemälde von Hal Clement, ohne Datum)
III.
Man kann anhand der obigen Ausführungen sicher sehen, warum diese Art von Literatur, auch wenn sie durchaus ihre Meriten hat, selbst unter Genrelesern immer nur einen kleinen Teil von Lesern wirklich angesprochen hat. Es ist, wie bei den erwähnten Kriminalromanen und bei Schachaufgaben, ein zerebrales Interesse. Als Nachfolger auf diesem kleinen Gebiet wäre etwa Robert L. Forward (1932-2002) zu nennen, dessen Roman „The Dragons’s Egg“ den Clementschen Extremismus noch um einiges überbietet, indem er die Möglichkeit von intelligentem Leben auf der Oberfläche eines Neutronensterns postuliert – und der, wenn überhaupt, noch abstrakter und „diagrammatischer“ ausgefallen ist. Auch die Texte das australischen Autors Greg Egan lassen sich hier einordnen – allerdings kapriziert sich Egan eher auf die Paradoxe des Existenzphilosophie, die Philosophie des Bewußtseins und in astronomischer Hinsicht auf die ungelösten Fragen der Kosmologie – alles Bereiche, die Clement sichtlich nicht berührt haben. Während Egans beste Texte im Leser einen wahren Schwindel der Erkenntnis auslösen können, weil ihm einer Sicherheit über die Natur der eigenen Wirklichkeitserkenntnis nach der anderen unter den Füßen fortgezogen wird, bleibt es bei Clement, wenn es zu einer Frisson kommt, bei der Präsentation eines Universums, das bei aller Fremdheit doch der rationalen Erkenntnis zugänglich ist und sich der Analyse restlos erschließt. Das ist nicht das Wenigste.
(Deutsche Übersetzungen aus den sechziger Jahren, in der damals gebräuchlichen Form als Heftroman)
U.E.
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