Aus der Rubrik: aus gegebenem Anlaß, angelegentlich der Vereidigung eines neuen Bundeskanzlers und seiner Ministerriege, hat „Zettels Raum“ sein aktuelles Musikprogramm geändert.
Nein, kein eigener Beitrag – eher ein Gastbeitrag; zumindest ein „Netzfund.“ Denn dieser Einfall ist nicht meinem Hirn entsprungen, sondern verdankt sich einem glücklichen Fund. Auf Joachim Hacks Netzseite „Schelmenstreich.de“ findet sich nämlich heute die Erkenntnis, daß die passende Begleitmusik zum Antritt der neuen Regierungsmannschaft schon vor 38 Jahren Jahren, in „Orwells Jahr“ 1984 in Jonathan Demmes Konzertfilm „Stop Making Sense“ von den Talking Heads, der Combo um David Byrne, zu Gehör gebracht worden ist.
Wenn einem als Protokollant ein solcher glückliche Einfall unterkommt, darf man auch auf ihn hinweisen. Auch mit einem leichten Gefühl des Neids, nicht selber darauf gekommen zu sein. Das ist insofern freilich kein Wunder, da ich in den 1980er Jahren nie zum Fankreis dieser Truppe gehört habe – mit Ausnahme des Rauswerfers „Road to Nowhere“ von ihrer LP „Little Creatures“ von 1984 und vielleicht des frühen „Listening Wind“ von 1981. Mir fehlten als Pophörer vor 35 Jahren immer der nötige Swing, die federnden Bassläufe, die perlenden Melodieläufe. Das Kantige, Minimalistische, die bis zur Starrheit zurückgenommene Gestik bei ihnen Auftritten, die repetierten Kurzphrasen der Refrains („same as it ever was – same as it ever was“): die künstlich wirkende Naivität der Songtexte: es war nicht mein Fall. Mir erschien diese Truppe immer als Illustration auf die Frage: was kommt heraus, wenn man Kraftwerk und Devo zusammenschüttet und dann kräftig umrührt? Laurie Anderson, die mit einem durchaus vergleichbaren ästhetischen Programm operierte, war eher meine Kragenweite.
Aber im Nachhinein ist es frappant, wie sehr genau dieser Gestus, und die Titel dieses Konzertmitschnitts, den Habitus treffen, unter dem unsere Annalenas, unsere Roberts, Cems, Karls und Claudias angetreten sind, um diesem Land die Illusion zu geben, hier sicher durch die Unbillen der Zeitläufe gelenkt zu werden.
Die Titelliste:
[1] Psycho Killer
[2] Heaven
[3] Thank You for Sending Me an Angel
[4] Found a Job
[5] Slippery People
[6] Burning Down the House
[7] Life During Wartime
[8] Making Flippy Floppy
[9] Swamp
[10] What a Day That Was
[11] This Must Be the Place (Naive Melody)
[12] Once in a Lifetime
[13] Genius of Love (vom Tom Tom Club)
[14] Girlfriend Is Better
[15] Take Me to the River
[16] Crosseyed and Painless
Und als Zugabe das schon erwähnte „Road to Nowhere“
Daß sie ihren Himmel gefunden haben, endlich eine Beschäftigung, daß Parteifreundinnen qua Geschlechtszugehörigkeit der Vortritt gilt („Girlfriend is better“), daß sie sich als rettende Himmelboten sehen, daß dies ein großer Tag für diese Riege, diese „schlüpfrigen Leute,“ (oder „schlumpfig grinsenden“?) war, ein himmlischer, eine Chance, die sich ihnen nur einmal im Leben bieten wird, und daß sie schmerzfrei, aber schielenden Blicks im Berliner Sumpf daran gehen werden, dieses Land auf seine Grundmauern niederzubrennen und wir uns auf dem Weg ins Nirwana befinden: wer wollte daran zweifeln? Daß man schon lange darauf verzichtet hat, „Sinn zu machen:“ ditto. Und daß unsere frischgebackene Außenministerin sich gleich am ersten Tag ihrer Amtszeit bemüßigt fühlte, in Richtung Russland diplomatisches Porzellan zu zertrümmern, paßt zu dem rhetorischen Säbelrasseln aus Washington, das in den letzten Wochen bedenklich angeschwollen ist, paßt zum "Leben im Krieg" (ein Song, der übrigens dem amerikanischen SF-Autor Lucius Shepard den Titel seines bekanntesten Romans aus dem Jahr 1987 geliefert hat).
Scherz einmal beiseite: eine militärische Invasion russischer Streitkräfte auf dem Staatsgebiet der Ukraine, vor der in der BBC gestern und vor zwei Tagen eindringlich gewarnt wurde und der New York Times auch heute eine Schlagzeile widmete („Ukraine Commanders Say a Russian Invasion Would Overwhelm Them“), dürfte in Moskau nicht auf der Agenda stehen. Die russische Regierung ist daran interessiert, im Sicherheitsgefüge der Welt weiterhin die Rolle einer „kleinen Weltmacht“ zu spielen und ihren Bürgern einen bescheidenen, aber sicheren Wohlstand zu garantieren. Sich zum Pariah der Weltöffentlichkeit zu machen und all die Stabilität der vergangenen 15 Jahre für einen zweifelhaften und nicht dauerhaft beizulegenden kurzfristigen Scheinerfolg zu opfern, dürfte man dort nicht als wünschenswert erachten. Zudem: wenn die Moskauer Führung dergleichen in Betracht ziehen würde, hätten wir in den letzten sieben Jahren, seit der (Re)-Annektion der Krim, dergleichen längst gesehen. Eine solche massierte Invasion mit mehreren Divisionen ist ein völlig anderes Unternehmen, logistisch und strategisch, als der Abschuß eines Passagierflugzeugs, bei dem es sich um eine eigenmächtige Aktion einer einzelnen Einheit gehandelt haben dürfte, deren Ziel die Maschine des ukrainischen Präsidenten gewesen sein dürfte. Beim Abschuß der südkoreanischen Jumbojets über Sachalin im Jahr 1983 handelte es sich um ein ähnliches Mißverständnis: man darf in diesen Akten durchaus ein Verbrechen gegenüber Zivilisten sehen – aber es handelt sich nicht um kriegerische Akte. Die Halluzination, US-amerikanische Truppen könnten aus dem Gebiet der Ukraine demnächst in Kampfhandlungen mit russischem Militär verwickelt werden, darf getrost als solche verbucht werden: als Illusion, als Wahnidee, an deren Zustandekommen keine der beiden Seiten auch nur das geringste Interesse hat. Freilich gehört solches Rasseln mit dem rhetorischen Schwertgehänge ebenfalls zur Kunst der Diplomatie. Ähnliche Überlegungen dürften für die Befürchtungen eine Invasion Taiwans durch Truppen der Volksbefreiungsarmee gelten. Hier wird übersehen, daß selbst während der drei kriegerischen Auseiandersetzungen an der Straße von Taiwan in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre dieser Konflikt niemals wirklich "heiß" zu werden drohte - und das das Ziel der chinesichen Führung darin besteht, demnächst zur wirtschaftlichen Weltmacht Nummer ein aufzusteigen und diese Position für die kommenden Jahrzehnte zu bhalten. Auchhier wird man nicht ohne Aussicht auf Erfolg aller Erreichte aufs Spiel setzen. Soviel Realittssinn sollte man sowohl den eiden Regieurngen wie ihrer Militärführungen zugestehen. Ob man dies auch dem Westen einräumen sollte, ist angesichts der Laitenspieltruppen in Washington und Berlin und ihres Versagens in Afghanistan eine völlig andere Frage.
„Eigentlich“ sollte an dieser Stelle in Betracht auf die neue Mannschaft im Regierungsviertel erst einmal der übliche Burgfrieden der symbolischen „100 Tage“ gelten, bevor despektierliche Bilanz gezogen wird. Aber Hand aufs Herz: es steht nicht zu erwarten, daß die schnöde Wirklichkeit dieser Truppe solange Zeit läßt, sich auf ihre Aufgaben vorzubereiten und ihre ersten zaghaften Gehversuche zu unternehmen. Und soll man einer Partei, die seit nunmehr acht Jahren mit der Regierung gewesen ist und die 12 der 16 Merkel-Jahre die halbe Regierungsmannschaft gestellt hat, allen Ernstes erst einmal Welpenschutz zugestehen?
U.E.
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