12. April 2021

Die Flucht ins Bild. Die Spur führt nach China



Mit einigen Umwegen.



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Bei unserer kleinen Umkreisung des literarischen Motivs des Malers, der am Ende aus der Welt verschwindet, indem er die Landschaft seines letzten Gemäldes betritt, ist eine Frage bisland noch nicht geklärt worden: handelt es sich dabei um eine genuin "chinesische" Geschichte, die auf chinesischen Quellen fußt - oder handelt es sich nur um ein "Wandermotiv," das zur Erhöhung des exotischen Reizes ins ferne Reich der Mitte verlegt worden ist? So wie etwa im Fall von Hans Christian Andersens Kunstmärchen von der Nachtigall ("I China veed Du jo nok er Keiseren en Chineser, og Alle de han har om sig ere Chinesere") - ein Märchen, dessen erste Übersetzung ins Chinesische aus dem Jahr 1909 durch 周作人 / Zhou Zuoren, der in diesem Netztagebuch ja kein Unbekannter ist, dem dänischen Autor bleibende Sympathie beim dortigen Lesepublikum eingebracht haben - eben durch die Anverwandlung des "exotischen" Kolorits. Insofern darf dieser Beitrag auch als ein kleines Seitenstück zu der so leidigen wie überflüssigen Diskussion verstanden werden, die sich aktuell an Amanda Gormans schlichtes und kitschiges Huldigungsgedicht zur Amteinführung der neuen amerikanischen Präsidenten Biden, "The Hill We Climb," festgemacht hat.

Ein anderer Fall eines solchen literarischen "Black-" beziehungsweise "Yellowfacing," liegt etwa in einer der bekanntesten Erzählungen aus dem "Alif Laila Wa-Laila," dem "Buch der Tausend Nächte und der einen Nacht" vor, nämlich der Geschichte von Aladin und der Wunderlampe. Zum einen spielt auch sie in einem konturlosen, a-historischen "China." In der ersten Übersetzung des arabischen Legenden-, Märchen- und Schwänke-Konvoluts in eine westliche Sprache, im elften Band von Antoine Gallands "Les milles et une nuits" von 1710, hebt Scheherazade, "als die Nacht gekommen war, mit der verstatteten Rede an":

"Sire, dans la capitale d’un royaume de la Chine, très-riche et d’une vaste étendue, dont le nom ne me vient pas présentement à la mémoire, il y avoit un tailleur nommé Mustafa, sans autre distinction que celle que sa profession lui donnoit." ("Histoire d'Aladdin ou la lampe merveilleuse")


"Herr, in der Hauptstadt eines der Königreiche in China, die sehr reich und ausgedehnt ist, und deren Namen mir gerade nicht einfällt, gab es einen Schneider, der Mustafa hieß und der nichts weiter besaß als das, was ihm sein Beruf einbrachte."


Außer dieser vagen Lokalisation gibt es nichts im Text, das die Handlung nicht auch in Bagdad oder Kairo hätte stattfinden lassen können; Mustafas Sohn Ala ed-Din verliebt sich denn auch auf den ersten Blick nicht in die Tochter des Kaisers, sondern des "Sultans." Zudem findet sich genau diese Geschichte - wie auch die von "Ali Baba und den vierzig Räubern" - in keinem der arabischen Manuskripte, die bekannt sind. Moderne arabische Auswahlausgaben enthalten sie zwar oft, aber hier handelt es sich um Rückübersetzungen aus Gallands französischen Fassung. Bis vor recht kurzer Zeit gingen die Philologen von der Annahme aus, hier habe Galland (1646-1715), der als erster an der Sorbonne Arabisch lehrte, sich selbst zu Neuschöpfungen im Geist des Originals inspirieren lassen. (Zur dieser Frage, die sich, anders als so viele Fragen von Einfluß und Anregung in der Literatur, in den letzten Jahren tatsächlich hat klären lassen, gibt es am Ende dieses Beitags noch ein paar Bemerkungen.)

Gibt es also einen chinesischen Ursprung für diese Künstlerlegende, die Walter Benjamin im zitierten Abschnitt aus seiner "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" so formuliert: "Sie stammt aus China und erzählt von einem alten Maler, der den Freunden sein neuestes Bild zu sehen gab. Ein Park war darauf dargestellt, ein schmaler Weg am Wasser und durch einen Baumschlag hin, der lief vor einer kleinen Türe aus, die hinten in ein Häuschen Einlaß bot. Wie sich die Freunde aber nach dem Maler umsahen, war der fort und in dem Bild. Da wandelte er auf dem schmalen Weg zur Tür, stand vor ihr still, kehrte sich um, lächelte und verschwand in ihrem Spalt." Ist sie mit einem bestimmten Künstler verknüpft und läßt sich feststellen, auf welchem Weg - und wann - sie in den Westen gelangt ist? Die beiden Varianten vom Motiv des "Hineingehens ins Bild" bei Pu Songling, die ich hier übersetzt habe, zeigen dieses Motiv ja nicht, und Wandermotive können durchaus auch aus anderen Kulturkreisen herstammen als denen, denen sie dann zugeschlagen werden. Wang-Fô in Marguerite Yourcenars Erzählung entzieht sich ja durch die Flucht ins Bild der drohenden Blendung, mit der der Kaiser ihm droht, damit er nie wieder ein neues Werk schaffen kann. Genau das gleiche Motiv findet sich nun in einem Kontext, der europäischer nicht sein könnte: in der legendenhaften Geschichte über den Uhrmacher Meister Hanuš, der um 1410 die astronomische Uhr des Prager Rathauses konstruiert haben soll, die mit ihrem Dutzend astronomischer Anzeigen und der Prozession mechanischer Figuren einer Art spätmittelalterliches Weltwunder darstellte. Der Legende nach wollten die Prager Ratsherren verhindern, daß Mistr Hanuš andernorts eine noch prachtvollere Uhr bauen würde und ließen ihm die Augen ausstechen. Nachdem er die Blendung überlebt hatte, ließ sich der Konstrukteur noch einmal vor sein Werk führen, griff in das Räderwerk und brachte es zum Stillstand, und einhundert Jahre lang vermochte es niemand, die Uhr wieder in Gang zu setzen.

* * *

Um es kurz zu machen: ja, das läßt sich feststellen. Und der Vermittlungsweg mutet durchaus, zumindest auf den ersten Blick, kurios an. Die Anekdote ist tatsächlich chinesischen Ursprungs, aber sie hat ihren Weg westwärts nicht infolge der Öffnung der "Treaty Ports" für den westlichen Handel als Folge der "ungleichen Verträge" nach dem Verlust der beiden Opiumkriege im 19. Jahrhundert genommen, sondern durch die "Kurofume," die "schwarzen Schiffe" des Commodore Perry, die 1854 das Ende der fast 250jährigen Isolation Japans einleiteten und nicht nur Japan für die moderne westliche Technologie und Kultur öffneten, sondern auch die japanische Kultur und Tradition erstmals einem westlichen Publikum zugänglich machten. Daß dies oft auf Mißverständlichkeiten und Oberflächlichkeit - eben der "Lust am Exotischen" - hinauslief, liegt in der Natur der Sache: die europäische Begeisterung für die japanischen Ukiyo-e-Farbholzschnitte, die Darstellungen der "fließenden Welt," die sich in Bilder etwa von Toulouse-Lautrec oder Vincent van Gogh leicht erkennen läßt, hatte nichts mit einem Verständnis dieser Art von Gebrauchsgraphik in ihrem Ursprungsland zu tun. Eine nette Volte in Sachen "kultureller Appropriation" liegt übrigens darin, daß die beiden uns so charakterisch erscheinenden Merkmale dieser Druckgraphik direkt auf Einflüsse aus der Kunst der "südlichen Barbaren" zurückgeht aus der Sakoku-Zeit, der "Landesisolation" zurückgehen. Die frühen Ukiyo-e-Drucke zeigen flächige, monochrone Farbfelder - und sie zeigen keine Tiefe suggerierenden feinen Querschraffuren. Sowohl der verwischende Übergang von Farben wie auch die Technik, mit feiner Schraffur die Illusion einer Tiefenwirkung zu erzeugen, wie sie sich zuerst formvollendet bei Kitagawa Utamaru (1753-1806) findet, verdanken sich Musterbüchern für Drucktechniken, die über die Holländer, die während der Isolationszeit einen Handelsposten auf der künstlichen Insel Deshima im Hafen von Nagasaki unterhalten durften, ins Land gekommen waren und von den Rangaku-sha, den Spezialisten für "holländisches Wissen" studiert wurden (diesem Kontakt verdankt das heutige Japanisch etwa die Vokabeln "kapitan," "biru," von dem man "doronken" werden kann, "infuruenza," "pesuto" für den Schwarzen Tod und "teresukoppu" für "telescoop").

Und die O-yatoi Gaikokujin, 御雇い外国人 , die "Kontraktausländer," die nach der Öffnung des Landes während der Meiji-Zeit von der japanischen Regierung ins Land geholt wurden, um umfassende Kenntnisse von westlicher Technologie, Agrikultur, Medizin, Verwaltung und vor allem Waffentechnik, aber auch Kultur und Kunst zu vermitteln, vermittelten das genaueren Kenntisse, die sie ihrer Beschäftigung mit dem Gastland verdankten, natürlich ihrerseits in ihren Schriften (in den Anmerkungen zur "Geschichte des Kwashin Koji" kam an dieser Stelle schon Lafcadio Hearn in dieser Stellung vor). Und da sich die japanische Kultur und Kunst eben nicht nur dem eigenen Herkommen verdankte, sondern zum großen Teil der chineischen Tradition entsprang, die dort dieselbe Rolle einnahm die die römische und griechische Antike im Westen, blieb es nicht aus, daß hier auch ein genauerer Blick auf die Kunst Chinas freiwurde, der sich erheblich von den "chinesischen" Sujets etwa des 18. Jahrhunderts unterschied.

Und in einem dieser Baedeker, "The Pictorial Arts of Japan" (mit dem Untertitel "With a brief historical sketch of the associated arts and some remarks upon the pictorial of the Chinese and the Koreans"), der 1886 in vier schmalen großformatigen Bänden bei Sampson Low, Marston, Searle, & Robinson in London erschien, findet sich denn auch die erste westliche Schilderung der fraglichen Künstleranekdote. Der Verfasser des Kompendiums war der englische Arzt William Anderson (1842-1900), der von 1873 bis 1880 an der neugegründeten kaiserlichen japanischen Marineakademie in Tokio, 海軍兵学校, Kaigun Heigakkō, die 1866 zur Ausbildung von Marineoffizieren gegründet worden war, Anatomie und Chirurgie lehrte. Darüber hinaus war er ein sehr eifriger Sammler japanischer Kunst (und der erste Präsident der Japanese Society); seine mehr als 2000 Farbholzschnitte, Graphiken und sonstigen Bilder bildeten ab 1881 den Grundstock für die Ostasien-Kollektion des British Museum.



(William Anderson, 1842-1900)

Illustriert von einem Holzschnitt des japanischen Künstlers Tachibana Morikuni (1679-1748), dessen Titel Anderson mit "The last picture of Wu Tao-tz'" angibt, findet sich dort auf Seite 543 im vierten Band des durchlaufend paginierten Werks die folgende Künsterlegende:

"The somewhat Taoistic legend that closes his life-story is worth repeating as a kind of ingenuity in fiction almost peculiar to the Chinese. It runs somewhat as follows: - Ming Hwang having commanded Wu Tao-tz' to paint a landscape upon the wall of one of the appartements in the palace, the artist screened the surface prepared for his work by the folds of a curtain, behind which he retired to carry out the task unseen. After a while he reappeared to announce its completion, and drawing aside the veil, revealed to his patron a glorious scene, spreading out into infinite space, diversified with glade and forest, winding streams and azure mountains. and vying in all its myriad details with the fairest aspects of nature. While the Emperor gazed in rapture upon the marvellous creation, the painter, indicating a gateway before a stately building in the foreground of the picture, clapped his hands, and the entrance flew up. "The interior is beautiful beyond conception", said the artist. "Permit me to show the way, that your Majesty may enter and behold the wonders it conceals." Then, passing within, he turned to beckon his master to follow; but in a moment the gate closed behind him, and before the amazed sovereign could advance a step, the scene faded away like a vision, leaving the wall blank as before the contact of the painters' brush. And Wu Tao-tz' was never seen again."


Die taoistisch anmutende Legende, mit der seine Lebensgeschichte endet, lohnt hier angeführt zu werden, als Beispiel für eine Art von Erzählkunst, die sich fast nur bei den Chinesen findet. Es lautet ungefähr wie folgt: als (Kaiser) Minghuang Wu Daozi den Auftrag gegeben hatte, eine Landschaft auf die Wand eines der Wohngemächer des Palastes zu malen, verhüllte der Künstler die dafür vorgesehen Fläche hinter den Falten eines Vorhangs, um seine Arbeit ungesehen zu auszuführen. Nach einiger Zeit kam er wieder zum Vorschein und erklärte sie für beendet, und als er den Vorhang wegzog, enthüllte er senem Auftraggeber eine herrliche Szenerie, die sich bis ins Unendlich dehnte, Haine und Wälder zeigte, Flußbiegungen und blaue Berge, die der Pracht der Natur selbst gleichkamen. Während der Kaiser dieses herrliche Werk hingerissen betrachtete, wies der Maler auf ein imposantes Gebäude im Bildvordergrund, klatschte in die Hände, und die Eingangstür öffnete sich. "Das Innere ist über alle Maßen schön," sagte der Künstler. "Erlaubt mir den Vortritt, damit Eure Majestät eintreten und die dort verborgenen Wunder sehen können." Dann betrat er das Bild, drehte sich um, um seinem Herrn zu winken, doch sogleich schloß sich das Tor hinter ihm, und bevor der erstaunte Monarch einen Schritt tun konnte, verblaßte das ganze Bild wie ein Traumbild und ließ so Wand so weiß zurück, wie es gewesen war, bevor der Pinsel des Malers sie berührt hatte. Und Wo Daozi wurde nie wieder gesehen."


Und als Fußnote setzt Anderson hinzu: "In some versions of the story the gateway is referred as the entrance to a grotto." ("In einigen Versionen der Geschichte wird das Tor als Höhleneingang bezeichnet.")

(Ich habe mir hier erlaubt, die Umschreibung der chinesischen Namen, die Anderson natürlich gemäß den Konventionen des späten 19. Jahrhunderts wiedergibt - dem 1859 von Thomas Wade entwickelten System, das dann 1892 von dem an dieser Stelle ebenfalls nicht ganz unbekannten Herbert A. Giles zum lange gebräuchlichen Wade-Giles-System reformiert wurde - durch die heute allgemein gebräuchliche Pinyin-Transliteration, die ich stets verwende, zu ersetzen.)



(Kopie nach Wo Daozi, "Siebenundachtzig Himmlische")

Bei Minghuang, 明皇 (der "strahlende" oder "leuchtende Kaiser") handelt es sich um den postumen Titel des Kaisers des späten Tangzeit Xuanzong 唐玄宗, dessen Regierungszeit in den Jahren 712 bis 756 n.Chr. zum einen als historischer Höhepunkt dieser oft als glänzendsten empfunden Epoche der chinesischen Geschichte gelten, dessen späte Regierungsahre aber zugleich ihre größte Krise und den Niedergang markieren. Der Herrscher zog sich in seinen späten Jahren immer mehr ins Privatleben zurück - von daher ist es kein Wunder, daß sich zahlreiche derartige Legenden um ihn gebildet haben - und überließ die Verwaltung seines Reichs fast völlig den eigenmächtig agierenden Militärgouvereuren, den 节度使 /Jiedishu (ich verkürze die komplexe Gemenge- und Krisenlage mal auf das Maß "Caesar eroberte Gallien"). Die An-Lushan-Rebellion, die im Jahr 755 losbrach und sieben Jahre lang China verheerte, gilt als einer der mörderischsten Kriege überhaupt, was den Prozentsatz der Opfer unter der Landesbevölkerung angeht. In der Volkszählung des Jahres 755 hatte für das Reich (das damals nur etwa ein Drittel des Gebiets des heutigen China umfaßte eine Gesamtbevölkerung von fast 53 Millionen Menschen in 8,9 Millionen Haushalten ergeben. Der erste nach dem Ende des Krieges im Jahr 764 durchgeführte Zensus zählte nur noch 17 Millionen Menschen in 2,9 Millionen Haushalten. Die Zahl von 36 Millionen Kriegstoten hat etwa Steven Pinker in seinem Buch "The Better Angels of Our Nature" übernommen. Viele Historiker Chinas betonen aber, daß die Zahl extrem unsicher sein dürfte, weil infolge des Chaos und des Zusammenbruchs der Zivilverwaltung in weiten Teiles des Landes überhaupt keine verläßlichen Erhebungen vorgenommen worden sein dürften. Kaiser Xuanzong übergab angesichts der Unfähigkeit seiner Armeen, den Krieg zu beenden, bereits im Jahr 756 die Herrschaft an seinen dritten Sohn Li Heng 肅宗, der als Kaiser Suzong 李亨 bis zum Jahr 762 regierte.



(Der Xuanzong-Kaiser)

Und in die Regierungszeit des Xuanzong-Kaisers fallen die Lebensdaten des Malers Wu Daozi, von dem die Anekdote handelt. 吴道子, der von 685 bis 758 lebte, arbeitete während der Kaiyuan-Regierungsperiode (713 bis 741), die in der chinesischen Geschichte den Rruf eines "goldenen Zeitalters" hat, tatsächlich an der Ausschmückung des kaiserlichen Palastes in der damaligen Hauptstadt Chang'an. Von den zahllosen Wandbildern, die er schuf (für zwei Tempel in Chang'an und Louyang, der "östlichen Hauptstadt," werden ihm 300 Fresken zugeschrieben) ist kein einziges Original erhalten; von einigen gibt es später Kopien auf Stein, etwa von seinem Porträt des Konfuzius und den "87 Himmlischen." Sein Stil galt als einzigartig mit seiner fließenden, dynamischen Linienführung. Eine weitere Anekdote, die sich um Wu Daozi rankt, besagt übrigens, daß ein angehender Maler viele Jahre nach Wus Tod eins seiner letzten erhaltenen Wandbilder in einem verlassenen Tempel fand und es oft kopierte, um sich das Geheimnis der Linienführung anzueignen. Als ihm dies gelungen war, riß er die Wand nieder und versenkte die Steine in einem Fluß, um zu verhindern, daß ein anderer es ihm gleichtat. Meister Hanuš läßt grüßen.



(Konfuzius. Steingravur nach Wu Daozi)

Von William Anderson, bei dem sich die Anekdote zuerst in einer westlichen Übersetzung findet, ist sie dann in Abwandlungen weitergereicht worden. In Henri L. Jolys "Legend in Japanese Art" (mit dem Untertitel "A Description of Historical Episodes, Legendary Characters, Folk-lore, Myths, Religious Symbolism; Illustrated in the Arts of Japan"), 1908 bei J. Lane in London erschienen, findet sie sich schon in leicht mutierter Form; hier wird auch der Titel von Tachibana Murikunis Sammlung genannt:

"The story of his disappearance in the Ehon Tsuhoshi (Vol. V) ist also curious: He was requested to decorate a wall and did so behind a veil, in an incredible short time. He then pointed out to the astonished Emperor a spot in the landscape where was depicted a door of a temple, and clapping his hands, he caused a door to open, giving entrance thereto, telling the Emperor that inside dwelt a spirit, and inviting him to follow him and and to behold the riches stored inside. Ming Hwang advanced to the wall, and found the door closing upon him; before he could enter, the landscape on the wall at once faded away, and the painter never came back." (S. 391)


"Die Geschichte seines Verschwindens im Ehon Tsuhoshi (Band V) ist ebenfalls seltsam: Er erhielt den Auftrag, eine Wand zu schmücken und erledigte dies in unglaublich kurzer Zeit hinter einem Vorhang. Daraufhin wies er den erstaunten Kaiser auf einen Punkt in der Landschaft hin, der den Eingang zu einem Tempel zeigte, klatschte in die Hände, worauf sich eine Tür öffnete und Zugang gewährte, und sagte dem Kaiser, daß dort ein Geist wohne, und lud ihn ein, ihm zu folgen und sich die dort aufbewahrten Schätze anzusehen. Ming Hwang trat vor die Wand und sah, daß sich die Tür vor ihm schloß; bevor er eintreten konnte, verblaßte das Bild an der Wand, und der Maler kehrte nie zurück."


Henri Louis Joly, am 24. Februar 1876 in Chartres geboren - falls sich jemand über die "unenglische" Schreibweise seines Vornamens wundern sollte - arbeitete sein kurzes Leben lang am Britischen Museum in London, wo er auch im August 1920 starb, als Spezialist für japanische Kunst; seine auf Englisch erfolgten weiteren Veröffentlichungen sind etwa den Schriftzeichen auf Samuraischwertern und den Netsuke gewidmet.

Und in Otto Fischers Abhandlung über "Chinesische Landschaftsmalerei," 1921 in München bei Kurt Wolff erschienen und mit 50 Tafeln illustriert, hat die kleine Geschichte endlich den Weg ins Deutsche gefunden. Fischer, 1886 in Reutlingen geboren und ab 1927 Leiter des Basler Kunstmuseums tätig (dort starb er auch 1948), habilitierte sich 1912 mit einer Arbeit über chinesische Malerei an der Universität Göttingen (interessanterweise an der Philosophischen Fakultät). Der genannte Titel von 1921 ist die überarbeitete Buchfassung dieser Arbeit. Angeregt zur Beschäftigung mit diesem Thema hatte ihn der Besuch der Münchener Ostasiensausstellung von 1909. (Zum Doktor wurde Fischer übrigens an der Universität Wien Ende 1907 unter Heinrich Wölfflin mit einer Arbeit zur "altdeutschen Kunst in Salzburg" promoviert - im Alter von 21 Jahren.)

"Und endlich führt uns in die Landschaft selber die Legende von dem zauberhaften Ende des Wu Tao-tze, der vor den Augen des Kaisers in die aufgetane Höhle der großen Landschaft verschwindet, die er zuvor auf eine Wand des Palastes gemalt hatte: hinter ihm schließt sich der Fels, und bevor der Herrscher einen Schritt tut, ist das ganze Gemälde verschwunden, und die Wand weiß wie einst. Den Meister aber hat nie ein Mensch wiedergesehen." ("Chinesische Landschaftsmalerei," S. 146)




* * *

Bei William Anderson findet sich also der Name, an dem sich die Legende festmacht, und Joly nennt das Werk, in dem sie - und der Holzschnitt, den sie erläutert - zu finden ist. Tachibana Morikuri 橘守国, 1679 in Osaka geboren und dort auch 1748 gestorben, gab das "Ehon Tsuhoshi,"(繪本通寶志 (der Titel bedeutet "Buch der Bilder") 1740 als eine Serie von neun Mappen heraus, die jeweils rund 40 Holzschnitte umfassen und in zehn Gruppen alle möglichen Themen wie Landwirtschaft, Tiere, Pflanzen, Felsformationen usw. abhandeln. 1780 folgte eine zweite Ausgabe. Andere solche Mappen, die er zeichnete, waren etwa das "Morokoshi kinmo zui" 唐土訓蒙図彙 ("Erklärende Bilder zu chinesischen Themen") in 13 Mappen von 1719, oder das 扶桑画譜, "Ehon Uguisuke Ume" ("Bilderbuch der Pfirsichblüten") aus dem Jahr 1740. Passend zur Legende über Wu Daizo sind auch von ihm kaum Originale erhalten. Eine Votivtafel im Hangen-Schrein in Osaka, die "Zedern im Schatten" zeigt, ist eine der wenigen Ausnahmen. Und der zweite Holzschnitt im fünften Band des "Ehon Tsuhoshi" zeigt eben Go Doshi oder Go Dogen,wie die japonisierte Namensform von Wu Daozi lautete, der den betrachtenden Kaiser auf das Eingangstor des Tempels in seinem Bild hinweist.

Aber handelt es sich nun um eine "genuin chinesische" oder eben doch japanische Legende, die einem Künstler aus alter Zeit fast ein Jahrtausend später zugeschrieben worden ist? Die Geschichte findet sich zwar in dem englischen Eintrag der Wikipedia zu Wu Daozi, der die Anekdote nach Herbert A. Giles zitiert, von wo sie Eingang in die spanische, französische, italienische, niederländische und - kursorisch und ohne Quellenangabe - in die russische Version gefunden haben - aber bezeichnenderweise nicht in der chinesischen. Die einzige bekannte chinesische Schrift, die die Legende stichwortartig umreißt, findet sich in der Sammlung von Künstlerviten, die Zhang Chou, 張丑 (1577-1634) 1616 unter dem Titel 《清河书画舫》 in 12 Bänden zusammengestellt hat (der Titel "Qinghe shū huàfǎng" läßt sich etwa mit "Das Buch aus Qinghe über die große Malerei" wiedergeben). Und in dem Abschnitt, der sich Wu Daozi widmet, heißt es knapp: "Es heißt, Wu Daixuan habe ein Bild betreten und sei in einer Höhle verschwunden." Wie es aussieht, könnte dies die Keimzelle gewesen sein, aus dem dann durch Beifügung und Abwandlung eben jene Wanderanekdote geworden ist, die der Heidelberger Lyriker Michael Buselmeier 1980 in seinem Gedicht "Lob der Landschaftsmalerei" umriß:

Als die Häscher des Kaisers
In die Hütte eindrangen
Sahen sie den Maler
Auf dem Weg seines letzten
Bildes davonlaufen

(aus: "Die Rückkehr der Schwäne," Verlag Das Wunderhorn)

* * *

Beim Stichwort "der Ausflug (oder die Flucht) ins Bild" mit dem Fokus auf Japan kommt aber vielleicht dem einen oder anderen Filmkenner eine ganz andere Geschichte in den Sinn: nämlich eine der Episoden in Akira Kurosawas spätem Film "Träume." 夢, Yume (das Kanzi ist dasselbe wie im Chinesischen), 1990 entstanden, ist eine lockere Aneinanderreihung von acht Traumszenen, die auf tatsächlichen Träumen beruhen, die Kurosawa im Lauf seines Lebens wiederholt gehabt hat. Im fünften Traum, "Krähen," findet sich der Träumer, gespielt von Akira Terao, als Kunststudent in einer Ausstellung mit Gemälden Vincent van Goghs. Als er vor dem Bild der "Brücke von Langlois" stehenbleibt, um es genau zu betrachten, werden die Wäscherinen, die im Kanal von Arles nach Port-de-Bouc ihre Wäsche waschen, lebendig. Der Träumer betritt das Bild, erkundigt sich nach dem Maler, überquert die Brücke und findet ihn mitten in einem Kornfeld vor der Staffelei. Enthusiasmiert und mit großer Geste erklärt der Maler dem Bewunderer den Antrieb seiner Kunst, sein rauschhaftes Schaffen in Ekstase - und ist dann verschwunden. Auf der Suche nach ihm eilt der Student, untermalt von den Klängen von Chopins Prélude Nr. 15, durch zahlreiche Bilder van Goghs, um endlich in dem Bild anzugelangen, das sein Ende markiert, und an dem er gearbeitet hatte: das Kornfeld mit der schwarzen Sackgasse, das allgemein von dem Kunstgeschichte als Vorwegnahme/Ankündigung seines Selbstmords gedeutet wird. Daß van Gogh in dieser Episode Englisch parliert (eine Sprache, die der wirkliche Vincent nicht beherrschte: bis 1886 sind fast alle Briefe, die er schrieb, auf Niederländisch verfaßt; anschließend fast ausschließlich auf Französisch), ist eine Konzession an den Schauspieler, der in diese Rolle schlüpft. Es handelt sich um Martin Scorsese.

(Kleine Fußnote zum "Pont de Langlois": es handelt sich um das erste Ölgemälde mit diesem Motiv, das van Gogh im März 1888 schuf - heute im Kröller-Müller-Museum in der Nähe von Otterloo, mit der Werknummer F 397. Zwischen März und Mai dieses Jahres malte van Gogh insgesamt 4 Varianten der Brückenansicht.)



* * *

Coda.

Um zum Anfang zurückzukehren, zu den Geschichten aus "1001 Nacht". Viele der längeren Episoden, die sich über zahlreiche Nächte erstrecken (ein probates Mittel, um den Sultan zu hindern, wie angedroht für Sendeschluß zu sorgen) sind Schachtelgeschichten: der Märchenheld trifft auf einen Leidensgenossen, einen im Fels halb begrabenen Djinn etwa, der nun seinerseits erzählt, was ihn in diese Lage gebracht hat, und der nun im Verlauf seiner Abenteuer wiederum den Staffelstab an einen weiteren Erzähler weiterreicht, bis dessen Schicksal erzählt ist, der Djinn wieder übernimmt und am Ende der Erzähler, mit dem alles begann, den narrativen Vorhang senkt. In der komplexesten dieser Geschichten, der Erzählung von der Schlangenkönigin, die in der Zeit von der 482. bis zur 503. Nacht erzählt wird und in meiner vollständigen Übersetzung in sechs Bänden durch Enno Littmann 153 Seiten umfaßt, gibt es sechs oder sieben solcher erzählerischen Etagenwechsel, und ich bin mir bis heute nicht sicher, ob die Staffelübergabe beim Rückweg korrekt erfolgt und wir am Schluß wirklich wieder "ganz oben" angelangt sind. (Dasselbe Problem stellt sich, mit Vorbedacht, in Christopher Nolans Film "Inception": wir wissen am Ende nicht, ob die Ebene, auf der wir gestartet sind, tatsächlich die "Wirklichkeit" war - oder ihrerseits schon der Illusionswelt angehörte. Die Encyclopedia of Fantasy (1997) von John Clute bezeichnet dieses Prinzip des erzählerischen Schachtelteufels als "Arabian Nightmare," nach dem Roman von Robert Irwin, der seinen Lesern damit den Boden unter den Füßen wegzieht. Auch in den Büchern von Philip K. Dick sind diese Labyrinthe ohne Ausweg allenthalben anzutreffen. In Scheherazades Fall droht in der 602. Nacht Havarie, als sie beginnt, dem Sultan seine eigene Geschichte zu erzählen, konsequent fortgeführt, hätte dies in eine endlos wiederholte Programmschleife gemündet.

Eingangs war erwähnt worden, daß Kommentatoren des "Alif Laila Wa-Laila" lange Zeit davon ausgegangen sind, daß es sich bei den Erzählungen über Ali Baba und Aladin um eigenständige Zugaben Antoine Gallands handeln würde, die er in das Korpus geschmuggelt habe. Auch Jorge Luis Borges geht in seinem Essay über "Los traductores de mil y une noche" von 1935 davon aus, und ebenso Robert Irwin (ja: derselbe R.I., im Zivilstand Historiker für arabische Geschichte an der Universität von St. Andrews) in "The Arabian Nights: A Companion" (Allen Lane, 1994).

Von Gallands Tagebuch, das er Zeit seines Lebens geführt hat, war bis vor wenigen Jahren nur der Abschnitt publiziert worden, der seinen Aufenthalt in Konstantinopel in den Jahren 1672 und 1673 betrifft (Journal d’Antoine Galland pendant son séjour à Constantinople 1672–1673 publié et annoté par Charles Schefer. Paris: Librarie du Société Asiatique, 1881). Erst ab 2011 sind die späteren Teile, die seine Lehrtätigkeit und die Übersetzung und Kompilation der "Les milles et une nuits" zwischen 1704 und 1717 betreffen, ediert worden. Und darin wird erwähnt, daß Galland am 25. März 1709 einen maronitischen Christen aus Aleppo kennenlernte, der dem französischen Kaufmann und Forschungsreisenden Paul Lucas während seiner zweiten Orientreise zwischen 1704 bis September 1708 Anfang 1707 in Aleppo begegnet war, den er als Übersetzer in seine Dienste genommen hatte und ihn auf der Rückreise nach Paris begleitete. Das meiste, was über das Leben von Hanna Diyab bekannt ist, weiß man aus seiner Autobiographie, die er 1763 im Alter von 75 Jahren verfaßte, und die als ungedrucktes Manuskript in der Bibliothek des Vatikans liegt (Sigle MS Sbath 254), und wo das Paris der Jahre 1708 bis 1710 aus der Perspektive des Fremden, als selbst "exotisch" geschildert wird. Wir haben hier also die reale Entsprechung zu den "exotischen" Verlarvungen genau jener Zeit, in der der vorgebliche Blick auf die unverständlichen Skurrilitäten aus der Sicht eines Fremden als Vorwand für Satire und beißende Kritik an den Zeitzuständen dienten, um dem Verbot durch die Zensur zu entgehen, etwa Montesquieus "Lettres Persanes" von 1721 oder "L'espion turc," dessen erster Teil in mehreren Bänden auf französisch und italienisch zwischen 1684 und 1684, dem dann nach der Übersetzung ins Englische 7 weitere Bände zwischen 1691 und 1694 unter dem Titel "Letters Writ by a Turkish Spy" folgten; Daniel Defoe ließ 1718 einen weiteren Band, "Continuation of Turkish Letters Writ by a Turkish Spy in Paris" nachfolgen.

Gallands Tagebuch verzeichnet das erste Treffen mit Diyab für Sonntag, den 17. März 1709. Am 25. März erwähnt er, daß er ihm "mehrere sehr schöne arabische Geschichten" erzählt habe, und am 5. Mai wird "Aladin" erwähnt, am 10.Mai die nächtlichen Abenteuer des Kalifen, die Gallands Rahmenerzählung unter anderem für "Das Zauberpferd" bildet (das Diyab am 13. Mai erzählt, am 22. Mai die Geschichte von Prinz Achmed und der Fee Peri Banu und am 27. Mai "Ali Baba und die vierzig Räuber" (die Liste ist nicht vollständig; elf weitere Geschichten lasse ich unerwähnt, um dies hier nicht zu überladen). Und nein: bevor sich jemand wundert (Littmann formuliert in solchen Fällen: "er verwunderte sich über die Grenzen seiner Verwunderung hinaus"): auch unsereins kocht nur mit Wasser. Ich entnehme diese Angaben den Arbeiten von Ulrich Marzolph zum Thema, in diesem Fall dem Aufsatz "The Man Who Made the Nights Immortal: The Tales of the Syrian Maronite Storyteller Ḥannā Diyāb," erschienen in der Zeitschrift Marvels & Tales, Bd. 32, Nr. 1 (2018), S. 114-125, wo sich diese handliche Auflistung findet.

Diyab war von dem interkulturellen Austausch etwas weniger angetan als sein Zuhörer (er dürfte ihm die Geschichten auf Französisch erzählt haben. In seiner Jugend hatte er die Sprache durch Kontakt mit französischen Händlern gelernt). Galland erwähnt ihn in seiner Ausgabe mit keiner Silbe, und in seiner, Dyabs, Autobiographie vermutet er, Galland habe gegen ihn intrigiert, weil er eine Anstellung als Arabischkundiger an der Königlichen Bibliothek angestrebt habe und Galland diesen Posten für sich sicherstellen wollte. Wörtlich heißt es bei Diyab über ihre Zusammenarbeit: "Dieser Mann fragte mich um Rat (bei seinen arabischen Büchern) bei einigen Punkten, die er nicht verstanden hatte, und ich erklärte sie ihm. In dem Buch, das er übersetzte, fehlten einige Nächte, und ich erzählte ihm die Geschichten, die mir bekannt waren. Mit ihnen konnte er sein Buch fertigstellen, und er war darüber sehr zufrieden." (Nein, ich habe nicht die Gabe der Fernsicht, arabische Manuskripte in der Vatikanbliothek zu konsultieren, sondern übersetze nach dem Diyab gewidmeten Kapitel in Bernard Heybergers Buch "L'Exploration du Monde : une autre histoire des Grandes Découvertes," Paris, Editions du Seui, 2019: "Un Syrien à Paris : le "Grand Hyver" d'Hanna Dyâb"). Der den Aufenthalt in Paris betreffende Abschnitt von Diyabs Autobiographie ist übrigens in französischer Übersetzung hier nachzulesen.

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Und zum Schluß noch eine kleine Galerie von Landschaften aus dem "Ehon tshuhoshi," in denen sich sicher trefflich spazierengehen ließe.



(Holzschnitt 21 auf der 3. Abteilung der "Ehon tshuhoshi")



















U.E.

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