18. Juni 2019

"Was die Welt / im Innersten zusammenhält." Eine späte Adnote zum Tod Murray Gell-Manns

Zugegeben: die Nachricht ist nicht taufrisch, und für diejenigen, die Ereignisse und Wegmarken im Bereich der Naturwissenschaften verbuchen, sicher auch keine Neuigkeit mehr (auch wenn des Referent zugeben muß, daß sie, da er nicht breitbandig-allgemein, sondern nur noch sehr zielgerichtet ein Auge auf die Weltläufte hat, eine Woche brauchte, um bis zu ihm vorzudringen - so mag sie auch für andere um ewig gleichen Rauschen der politisch dröhnenden Kulisse untergegangen sein): Murray Gell-Mann, "Vater" der Quarks - oder besser: der Erklärungsmodell für Partikel, Untereinheiten, Elemente, aus denen sich die kleinsten Bausteine der Materie zusammensetzen - ist am Freitag, dem 24. Mai 2019, in Santa Fe im amerikanischen Bundesstaat New Mexico gut vier Monate vor seinem 90. Geburtstag und genau ein halbes Jahrhundert, nachdem er im Jahr der ersten bemannten Mondlandung den Nobelpreis für Physik verliehen bekommen hatte, gestorben. (Den Preis bekam er allerdings nicht für das schlüssige Postulat der Quarks von 1964, sondern für seine Beiträge zur Klassifizierung und Erklärung des gewissermaßen "darüberliegenden" Elementarteilchenzoos, unter anderem seines Klassifikationsschemas der Hadronen von 1953, der Neuformulerung der schwachen Wechselwirkung - die er mit Richard Feyman entwickelte und zur Chiralität, zum Symmetriebruch im Bereich der starken Wechselwirkung.)

Den erwähnten Interessenten wird dies alles keine Neuigkeit sein; wem der Name Gell-Mann kein Begriff ist und von der Beschaffenheit dieses kleinsten zu ergründenden Mikrokosmos nur weiß, daß "Quantentheorie" nicht rational zu erfassen ist, sondern des Glaubens an die paradoxen Beschreibungsmodelle bedarf (dann weiß er schon mehr als ein großer Teil der Zeitgenossen): dem werden solche knappen Stichworte kein Fingerzeig sein. Mir soll es in dieser kleinen Anmerkung aber um etwas anderes gehen.

Die Arbeit Gell-Manns, sein Forschungsgebiet, die unter der verwirrenden Anzahl  der Partikel, der Erscheinungsformen im genannten "Zoo" - den Neutronen, Protonen, Elektronen, Neutrinos, Kaonen, Pionen e tutti quanti zugrunde liegende einheitliche einheitliche Formen, die sie als Ausprägung von jeweils drei, nun: sagen wir: Elementarprinzipien, eben der Quarks erklärt, markiert etwas, was man eine "vereinte Feldtheorie" nennen könnte (wenn die Physiker darunter nicht etwas anderes verstehen würden: nämlich die Rückführung der vier Wechselwirkungen zwischen diesen Teilchen - Gravitation, Elektromagnetismus, die starke und die schwache Wechselwirkung - als Ausprägung eines gemeinsamen Wirkpirinzips zu beschreiben sucht): salopp gesagt: ein elegantes, durchaus einfaches Grundprinzip, aus dem sich die Erscheinungsformen der Welt herleiten lassen und sie schlüssig und nachprüfbar erklären. So, wie in der klassischen chinesischen Philosophie Meister Laos, des Daoismus, die 万武 wàn wǔ, die "zehntausend Dinge", die unendliche Erscheinungsforms der materiellen wie immateriellen Welt, sich aus sehr wenigen Prinzipien und Dichotomien herleitet (万/wàn, 10,000, entspricht in diesem Gebrauch exakt dem altgriechischen μυριάς, dem Unendlichen). In den Bereichen der exakten Naturwissenschaften haben wir in den letzten zwei Jahrhunderten zahlreiche solcher "Standardmodelle" aufkommen sehen, die das Gewimmel der Welt aus solch strikt überschaubaren Prinzipien erklärt haben: die die Physik waren dies die Maxwell'schen Feldgleichungen, die Konkurrenzmodelle von Relativitäts- und Quantentheorie, das Bohr'sche Atommodell und seine Verfeinerungen (mit den Quarks als Abschluß dieser Reihung); für die Astronomie die Trias der Sterne als Plasma-Fusionsreaktoren mit unterschiedlicher Masse, der darauf fußenden Nukleogenese der chemischen Elemente als "Asche" dieser Fusion und der Big Bang, dem Urknall als kosmologischem Standardmodell; die chemischen Elemente fanden ihr Ordnungsschema vor genau 150 Jahren im Periodensystem Dmirti Iwanowitsch Mendeljews (weshalb die Vereinten Nationen auch das Jahr 2019 zum "Internationalen Jahr des Periodensystems", IYPT, erklärt haben): Der Vielfalt all dessen, was kreucht, fleucht, blüht, lieferte Charles Darwins Evolutionstheorie zehn Jahre davor das bündige Erklärungsmodeel; die Klärung, auf welche Weise Struktur und Information über die Generationen hinweg weitergegeben werden, erfolgte ein Jahrhundert später durch die Entschlüsselung der Doppelhelix-Struktur des Erbmakromoleküls Desoxyribonukleinsäure durch Crick und Watson. Die Schründe der Erdkruste, die Erdbeben und Vulkanausbrüche führte Alfred Wegener zu Beginn des 20. Jahrhundert auf die Plattentektonik zurück.

Zwei Aspekte (eigentlich drei), durchaus miteinander verbunden, ergeben sich aus den Resultaten dieses "goldenen Zeitalters der Naturerklärungen". Gell-Manns Arbeit markiert, wie erwähnt, den Punkt, an dem eine verifizierbare Hypothesenbildung über die "Natur der Dinge" an ihre Grenzen stößt. Quarks "allein" gibt es nicht, sie treten nur als Dreier-Paare in der Form der unterschiedlichen Partikel auf; ihr Nachweis ist eine Frage des indirekten Nachweises anhand der Ableitungen der mathematischen Beschreibungen dieser unterschiedlichen Erscheinungsformen. Bei den "noch tiefer herabreichenden" Herleitungsansätzen - gemeint ist hier die Stringtheorie im Sinn Edward Wittens, die sämtliche Ausprägungen der Materie und ihrer Wechselwirkungen als unterschiedliche Ausfällungen, Schwingungen, Konfigurationen eines Kontinuums sieht, das je nach Modell elf oder zwanzig Dimensionen umfaßt, von denen alle bis auf jeweils drei "nicht ausgefaltet" sind; in denen also das Universum unterhalb der Planck'schen Länge verblieben ist - ein solcher Hypothesenansatz entzieht sich für die vorhersehbare Zukunft - und wohl auch über die nächsten Jahrmillionen - jeder Testbarkeit: Man brauchte Teilchenbeschleuniger von der Dimension der Milchstraße, um die zu untersuchende Materie energetisch so aufzuladen, daß die Prozesse bei Teilchenkollisionen hier zu aussagekräftigen unterschiedlichen Ergebnissen führen könnten. Zwar wird an der Details, gewissermaßen an der "Feinstruktur" der unterschiedlichen Modelle durchaus noch gearbeitet - wenn auch nicht mehr mit dem gleichen Elan wie vor 25 oder 30 Jahren - aber es zeichnet sich ab, daß eine Rückführung auf immer stringentere "Weltformeln" hier ausbleiben wird. Genau diese Aspekte sind auch in den weiter oben genannten Bereichen der anderen zehntausend Dinge zu registrieren: die einigende Grundlage ist gefunden; es bleibt der Wissenschaft, Details und Facetten zu ergänzen, aber das, was Thomas Kuhn 1962 in seinem Buch über The Nature of Scientific Revolutions als "Paradigmenwechsel" bezeichnet hat, wird ausbleiben. Die Relativitätstheorie wird in Zukunft nicht durch "etwas Neues" ersetzt werden (wie übrigens auch Newtons Gravitationstheorie nicht durch Einstein "ersetzt" worden ist, weil Newtons Gleichungen bei nichtrelativistischen Geschwindigkeiten eine hinreichend genaue Beschreibung der Bewegung von Körpern im Kosmos liefern).

Desgleichen wird sich die Beschreibung der Erde, ie sie die Geologie liefert, nicht weiter ändern. Es mögen unter ihrer Oberfläche Höhlensysteme in Karstgebieten aufgetan werden (wie es etwa Robert Macfarlane in seinem in diesem Monat erschienenen neuen Buch Underland: A Deep Time Journey so eindrücklich beschreibt); Minerallagerstätten mögen neu entdeckt werden - vielleicht gelingt sogar der Nachweis der Abiogenese von Kohlenwasserstofflagern in Sinne von Thomas Gold (obschon der Referent keinen Cent auf diese Möglichkeit verwetten würde): all das sind (oder wären) aber nur Details, die am Großen und Ganzen des Erklärungsmodells nichts ändern. Das läßt sich auch in historischer Perspektive festmachen: solange das Unterfangen der modernen, exakt forschenden Naturwissenschatfen betrieben wird, der wir diese Weltmodelle verdanken, seit 200, vielleicht 250 Jahren also, ist kein Jahrzehnt vergangen, in dem nicht, auf irgendeinem Gebiet, eine solche bahnbrechende "vereinigte Theorie" das Licht erblickte. Es gab keinen Bereich von, sagen wir: zwanzig Jahren, an dem man nicht, wenn man nach Ablauf deiser Spanne die neuen Erkenntnisse betrachtete, "die Lehrbücher umschreiben mußte": ob nun in der Physik, der Chemie, der Biologie, und gar den Entdeckungen der Astronomie. Es zeigt sich aber, daß dieses beständige Erschließen von Neuland, der beständige Anbau neuer Trakte in der Bibliothek von Babel, mit dem Ablauf der zwanzigsten Jahrhunderts an sein Ende gelangt ist. Das letzte annus mirabilis dieser Art von Naturerkenntnis fiel ins Jahr 1998, mit dem Nachweis, daß Neutrinos eine Ruhemasse besitzen (was das damals 30 Jahre alte Rätsel, warum die Fusionsprozesse im Innern unseres Zentralgestirns nur ein Drittel der theoretischen vorhergesagten Geisterteilchen erzeugten, endlich erklärte) und der Erkenntnis, daß sich die Expansion des Universums nicht durch die retardierende Einwirkung der Gravitation seiner gesamten in ihm enthaltenen Masse abbremst, sondern beschleunigt - ein Prozeß, der weiterhin der Erklärung harrt. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2000 durch Craig Venter hat in keiner Weise zur eine revolutionären Ausweitung von medizinischen Anwendungsmöglichkeiten geführt (wenn auch die Rückverfolgung genetischer Merkmale und Population durch die Frühgeschichte durch die dort entwickelten rasanten Analysemethoden erheblich erleichtert worden ist). Die Komplexität "höherliegender" Prozesse hat ihre Nachbildung, Ausnutzung und schlichte Modellierung, scheint es, zum Scheitern verurteilt - und zwar weitaus mehr und niederschwelliger, als selbst Skeptiker befürchtet haben. Das Nachfolgeprojekt der Genomentschlüsselung, das Protein Folding Project, dessen Ziel war, aus den Informationen des Erbguts die Struktur der von ihm gebildeten Eiweißketten abzuleiten - denen denen allein die Funktion, die die Proteine im Organismus wahrnehmen, abhängt - hat seit nunmehr achtzehn Jahren keine Erfolge zu vermelden. Sowohl die Entwicklung der KI wie der Wasserstofffusion scheinen seit nunmehr sechzig Jahren auf dem Stadium zu verharren, daß die ersten greifbaren Erfolge in fünfzig Jahren erwartet werden; die "Eroberung des Sonnensystems" beschränkt sich darauf, das alte Projekt der Erdkartierung, das Auffüllen der weißen Flecken auf der Landkarte, auf das innere Sonnensystem aufgeweitet und durch Roboter erledigt, fortzuschreiben.

Murray Gell-Manns Projekt seiner letzten drei Lebensjahrzehnte, die Mitbegründung des Santa-Fè-Instituts, zeigt das Scheitern dieses steten Komplexitätszuwachses exemplarisch: das Ziel dieser Institution war es seit ihrer Gründung 1984, interdisziplinär, weit fächerübergreifend, und auf den Erkenntnissen der Chaostheorie von Benoit Mandelbrot und Edward Lorenz aufbauend, den Chaos komplexer, nichtlinearer Systeme, vom Zellwachstum bis zum Wirtschaftsgeschehen, wenn möglich beizukommen, in giangtishcen Datenmengen verborgene Muster sichtbar zu machen. Aus dem, was sich ei Lesen der Bücher etwa Stuart Kauffman, At Home in the Universe (1993) oder Gell-Manns einziger populär geschriebener Buchveröffentlichung The Quark and the Jaguar (1994) durchaus wie eine Einlösung des poetischen Programms las, das Novalis am Auftakt seines Fragments "Die Lehrlinge zu Sais" entworfen hat:

Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben, allein die Ahndung will sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alkahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu sein. Nur augenblicklich scheinen ihre Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, wie vorher, vor ihren Blicken.
- aus dieser Einlösung ist nichts geworden. Es hat sich nichts verdichtet, und es schwimmt alles wieder, unklar wie zuvor, von unseren Blick. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist John Horgan hat diese Situation schon 1996 in seinem Buch The End of Science: Facing the Limits of Knowledge vorweggenommen. Die Keimzelle dieses Textes war der Essay "The Death of Proof", in der Oktoberausgabe 1993 des Scientific American (der zu dieser Zeit noch ein namhafter und vielgelesener Multiplikator der wissenschaftlichen Erkenntnis war) erschienen, in dem er sich auf die Mathematik konzentierte. Die zunehmende Komplexität der Beweise, die nur mit Hilfe von Computern erstellt und nicht mehr vom Einzelnen durchschaut werden könnten, die Unanschaulichkeit, die schlichte Erledigung der grundlegenden Fragen - soweit sie eben einer Überprüfbarkeit zugänglich sind - das führte ihn zu der Voraussage, daß die Wissenschaft - im Sinne des hier evozierten titius, altius, fortius praktisch-faktisch "an ihr Ende gekommen sei", daß bahnbrechende Erkenntnisse - bis eben auf Detail, auf überraschende Einzelfunde, in Zukunft nicht mehr ins Haus stünden - daß es in Zukunft der Wissenschaft nur noch obliege, Lücken zu füllen, Details zu ergänzen, die fünfmillionste Käferart zu registrieren und die Triftigkeit der Relativitätstheorie zum hundertsten Mal zu bestätigen. Horgan hat für seine pessimistische Sicht auf das große "Unternehmen Weltwissen" viel Kritik einstecken müssen. Aus dem Rückblick von zweieinhalb Jahrzehnten, am Ausgang des zweiten Jahrzehnts des 22. Jahrhunderts, ist der melancholische Schluß aber leider unvermeidbar, daß er mit seinem Befund recht behalten hat. 


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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.