28. April 2019

Aus der Schwalbenperspektive (21): Der Strafstoß, der alles entscheidet?

Nach der Aufregung um das abrupte Ende der Nationalmannschaftskarrieren von Jérôme Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller hat der deutsche Fußball seinen neuen Skandal: Die Rede soll hier nur en passant von dem heftig umstrittenen Strafstoß zugunsten des FC Bayern in dessen Pokalhalbfinal-Match gegen Werder Bremen sein. Konsens dürfte darüber herrschen, dass die betreffende Elfmeter-Entscheidung zumindest diskussionswürdig war. Doch bei allem Verständnis für den Unmut der hanseatischen Kicker sind ins Verschwörungstheoretische tendierende Ansätze (der berühmte Bayern-Bonus) und die Mär, der Sportverein aus der Stadt an der Weser sei durch den Fingerzeig auf den Punkt um seine Fahrt nach Berlin gebracht worden, was angesichts der über den gesamten Spielverlauf zu konstatierenden Überlegenheit des Teams aus der Isarmetropole eine noch nicht einmal mit ausreichender Wahrscheinlichkeit gesegnete Konjektur ist, für eine sachliche Analyse unergiebig.
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Neuen, wenn auch durchaus anders gearteten Zündstoff hat der Diskussion um berechtigte und unberechtigte Penaltys die vom Video-Unparteiischen unterstützte Beurteilung des Schiedsrichters Felix Zwayer im gestrigen Revierderby gegeben, wonach Julian Weigls manueller Kontakt mit der Lederkugel ein verpöntes Handspiel darstellte. Die Erklärung des Referees aus Berlin, dass angesichts der unzweifelhaften Vergrößerung der Körperfläche des Dortmunder Akteurs durch die Haltung seiner linken oberen Extremität gemäß der aktuell gültigen Auslegung der einschlägigen Spielregel auf Strafstoß zu erkennen war, ist natürlich richtig. Dementsprechend übte Lucien Favre im Unterschied zu so manchem Journalisten und in den Medien konsultierten Experten Kritik nicht an dem Mann mit der Pfeife, sondern am Statut. Anders ausgedrückt: Den Boten zu enthaupten, weil einem die Nachricht nicht gefällt, war stets und ist noch immer Unfug. Im Rahmen der Interpretationsvorgaben hat Felix Zwayer völlig zutreffend entschieden (der im Match Leipzig gegen Freiburg zu Lasten der Breisgauer gegebene Elfmeter war im Vergleich dazu um Lichtjahre weniger eindeutig).

Für Aufregung sorgte möglicherweise weniger der schiedsrichterliche Pfiff als vielmehr dessen angebliche Folgen: Der BVB sei durch die ihm ungünstige Entscheidung aus dem Tritt gekommen, ist an zahlreichen Orten zu lesen; alles, was sich in dieser denkwürdigen Pott-Partie danach ereignet habe, sei letztlich Ausfluss der nach einer guten Viertelstunde getroffenen Strafstoß-Entscheidung gewesen. Diese Sicht der Dinge kann ich aus den folgenden Gründen nicht teilen:

1. Schalkes Taktik war von Anfang an darauf ausgelegt, den Dortmundern keine Räume zu bieten und durch Standardsituationen zu Treffern zu kommen. Ersteres gelang auch schon vor dem umstrittenen Elfmeter ziemlich gut. Die Königsblauen blieben oft Zweikampfsieger und ließen wenig zu. Das 1:0 für die Schwarz-Gelben resultierte folglich nicht so sehr aus deren zwingender Überlegenheit als vielmehr aus einem dieser glücklichen Fußballmomente, in denen die Spielintelligenz zweier hochbegabter Athleten im Gleichklang aufleuchtet.

2. Die Achillesferse des BVB bilden nicht erst seit gestern gegnerische Standardsituationen. Nein, dieses Problem beschäftigt Lucien Favre schon geraume Zeit. Dass man den mit Stollenschuhen zwei Meter großen Salif Sané nach einer Ecke im Strafraum zum Kopfball kommen ließ, zeigte eine strukturelle Schwäche der Dortmunder und gerade nicht eine momentane Verunsicherung auf. Daniel Caligiuris (liebe Sportreporter, warum sprecht Ihr den Namen dieses Mannes als „Dänjel Kälidschuri“ mit englischem R aus?) zumindest Tor-des-Monats-verdächtiger Freistoß zum - aus Schalker Perspektive - 3:1 war wohl unhaltbar, unterstreicht aber den Umstand, dass die Gelsenkirchener bis zu ihrem vierten Treffer nicht aus dem laufenden Spiel einnetzten.

3. Den BVB scheint die zunächst eingenommene Favoritenrolle im diesjährigen Meisterschaftskampf und deren jäher Verlust in seelischer Hinsicht nachhaltig destabilisiert zu haben. Erinnern Sie sich noch? Nach dem 12. Spieltag betrug der Vorsprung der Westfalen vor der Konkurrenz aus München satte neun Punkte. Am 24. Spieltag war diese Differenz komplett (das heißt: auf null) dahingeschmolzen. Seitdem liefern sich die Dortmunder und die Bayern eine Art Katz-und-Maus-Konfrontation, wobei die Süddeutschen zumeist die Nasenspitze vorne und in der direkten Begegnung der beiden Kontrahenten die Hierarchie im deutschen Fußball zumindest vorläufig durch einen 5:0-Sieg klargestellt haben. Das absolut unsinnige, zum 1:3 gegen Schalke führende und zu Recht mit einer roten Karte geahndete Einsteigen von Marco Reus gegen Suat Serdar und das noch viel unverständlichere, da einen kurz zuvor begangenen Fehler wiederholende und ebenfalls mit einem Platzverweis sanktionierte Foul von Marius Wolf gegen denselben Gelsenkirchener Spieler lassen sich wohl nur dadurch erklären, dass die BVB-Aktiven der gefühlsmäßigen Achterbahnfahrt, denen ihr Verein in dieser Saison ausgesetzt ist, emotional nicht gewachsen sind. Vielleicht wäre die angestammte Rolle, von Anfang an erster und einziger irgendwie aussichtsreicher Jäger der Bayern zu sein, besser verkraftbar.

4. Vermutlich ist auch der Trainer der Dortmunder, Lucien Favre, nicht der Idealcoach für einen zähen Meisterschaftskampf. Ohne Frage ist der Schweizer ein Fußball-Lehrer, der ein Team in taktischer und spielerischer Hinsicht weiterentwickeln kann. Ein großer Mitreißer und Motivator ist er jedoch nicht. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie ein Jürgen Klopp seine Mannen in der Halbzeitpause des Revierderbys in einer Mischung aus pep talk und Philippika angesprochen hätte. Favre hingegen muss sich anlasten lassen, gegen Bayern zu defensiv aufgestellt zu haben: Ein Verein, der den Anspruch auf die Wanderpokalschale erhebt, muss auch beim Rekordtitelträger mit breiter Brust auftreten, aber jedenfalls mit Favre scheint dies den BVB zu überfordern (siehe vorstehenden Punkt 3.), und auch die Reaktion des Waadtländers auf die gestrige Niederlage – der Bundesligathron ist seines Erachtens seit gestern vergeben – hat nicht die Qualität, im Endspurt aus seiner Truppe noch die letzten Kapazitäten herauszuholen.

Während ich diese Zeilen schreibe, zittert sich Bayern beim Club (jenem aus Nürnberg) zu einem 1:1. Die Münchner schießen zweimal aus einer Freistoßsituation gegen das Aluminium und Kingsley Coman scheitert in letzter Minute im Freilauf an Torhüter Christian Mathenia; die Mittelfranken können einen Elfmeter nicht nutzen. Der FC Bayern liegt nun zwei Punkte und, was die Tordifferenz betrifft, 16 Zähler vor dem BVB. Zumindest rechnerisch ist noch alles offen.

Noricus

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