25. April 2019

Ein Fußabdruck im Sand. Vor 300 Jahren erschien "Robinson Crusoe"



Heute vor genau dreihundert Jahren, am Dienstag, den 25. April 1719, erschien in London, beim Buchdrucker und -händler T. Walker, die erste Ausgabe des Buches, das seitdem, unter anderem, den Ruf hat, der "erste Roman" der Neuzeit zu sein: The Life and Strange Suprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner: who lived eight and twenty years, all alone in an un-inhabited island on the coast of America … Written by himself. Natürlich war dies nicht der erste Versuch einer längeren, geschlossenen Erzählung auf Buchlänge, die sich um das Lebensschicksal seines Protagonisten herum zentriert und - nicht unwichtig - sein Seelenleben, seinen inneren Kosmos in den Mittelpunkt der Schilderung rückt. Auch im englischen Sprachbereich, aber auch im französischen, wo die Literaturgeschichte als ersten Beispiel die Princesse de Cleves der Marie-Madeleine de La Fayette von 1678 als erstes Beispiel verbucht, hatte es Ansätze gegeben, aus den ziellosen Geschehenssträngen des pikaresken Abenteuerromans, den satirischen Burlesken und den exotischen Lokalitäten der fiktionalen Reiseberichten mit ihren oft ins Utopische lappenden Schilderungen ein geschlosseneres ganzen zu formen. Aber dem "Robinson" war es als erstem vergönnt, sich hier ins kulturelle Gedächtnis einzuprägen. Und zwar nicht nur im eigenen Heimathafen, also der englischen Literatur, auch nicht nur dem Kulturerbe Europas (beziehungsweise "des Westens" - zu dessen prägenden Texten er ohne zweifel zu zählen ist), sondern weltweit, sofern dort solche Texte eine Rolle spielen. Auch für Leser oder Zuschauer in China oder Japan, in Lateinamerika, in Russland wie den Teilen Afrikas, in denen von einer literarischen Tradition die Rede sein kann, ist das Bild des auf seiner Insel gestrandeten unfreiwilligen Eremiten, dem nach Jahrzehnten der Einsamkeit die Begegnung mit einem menschlichen Fußabdruck am Strand zur existentiellen Krisis gerät, ein unvergeßlichen, sofort wiedererkannter Zündmoment der Erinnerung.

It happened one day, about noon, going towards my boat, I was exceedingly surprised with the print of a man's naked foot on the shore, which was very plain to be seen on the sand. I stood like one thunderstruck, or as if I had seen an apparition. ...I went to it again to see if there were any more, and to observe if it might not be my fancy; but there was no room for that, for there was exactly the print of a foot - toes, heel, and every part of a foot. How it came thither I knew not, nor could I in the least imagine; but after innumerable fluttering thoughts, like a man perfectly confused and out of myself, I came home to my fortification, not feeling, as we say, the ground I went on, but terrified to the last degree, looking behind me at every two or three steps, mistaking every bush and tree, and fancying every stump at a distance to be a man. (Kapitel 14)

Stephen Prickett, Professor für Literatur an den Universitäten von Glasgow und Kent, hat 1979 in seinem Buch Victorian Fantasy, das sich hauptsächlich mit den ebenso unverbrüchlich im kulturellen Gedächtnis verankerten Klassikern der viktorianischen Kinderliteratur zwischen George MacDonald (beginnend mit Phantastes von 1855) über Lewis Carrolls Alice-Erzählungen, Kiplings Jungle Books und Frances Hodgson Burnetts The Secret Garden oder auch The Wind in the Willows (sein zeitlicher Rahmen reicht über die Lebensdaten Königin Viktorias hinaus; und er hätte als Beleg auch noch Rosemary Sutcliffs The Eagle of the Ninth von 1954 an Bord nehmen können) die These aufgestellt, daß die besondere Prägekraft dieser Texte auf ihrer Bildfindungskraft beruht: darin, daß sie zumindest ein, idealiter aber eine ganze Reihe von Bildern finden, in denen sich das Personal, die Handlung, der Schauplatz dem Leser bei der ersten Begegnung unauslöschlich ins Gedächtnis einbrennen - auch wenn ihm später alles andere hinsichtlich der näheren Umstände, des Wortlauts, des Handlungsgangs nur noch vage bis gar nicht mehr präsent sein sollten. Kaas Rettung des Menschenjungen Mowgli durch die satanische Hypnose, die die Affenhorde in den Ruinen der Cold Lairs ins Verderben marschieren läßt, gehört in diese Kategorie (ein Moment, der selbst in der slapstickhaftigen Zeichentrickumsetzung des Disney-Verfilmung von 1967 als dämonischer Einschuß überlebt hat), die Landung des Well'schen Zeitreisenden von der weißen Sphinx in acht Jahrhunderttausenden und die Schlußszene, die das Verlöschen der Sonne schildert, die unirdische Flamme, der Rider Haggards Sie-der-gehorcht-werden-muß Ayesha ihre jahrtausendealte Unsterblichkeit verdankt: all diese Tableaus sind besonders prägnante Beispiele dafür. Und das erste dieser Bilder ist ohne Zweifel in den Seiten des Defoe'schen Romans anzutreffen.

Das zweite dieser Bilder entstammt dem Beginn der sechseinhalb Jahre später ebenfalls in London publizierten Schilderungen der Reisen in verschiedene entlegene Teile der Welt des Schiffarztes Lemuel Gulliver - die Szene, als er sich nach dem Schiffbruch auf seiner ersten Reise am Morgen mit unzähligen Stricken auf den Strand, an den es ihn gespült hat, gefesselt wiederfindet: auch diese Szene hat in ihrer Ikonizität seit ihrer ersten Veröffentlichung die Funktion, die sie im ursprünglichen Text einnimmt, hinter sich gelassen und ist zum Tableau vivant geworden. Im Fall von Swifts satirischer Verlarvung der englischen Zeitgeschichte markiert die Szene die paradoxe Stellung seines Nicht-gerade-Helden: der Riese Gulliver, der im Land der Zwerge Lilliputs handlungsohnmächtig und völlig auf ihr selbstsüchtiges Wohlwollen angewiesen ist; bei Defoe setzt an dieser Stelle der Handlungsumschwung ein: sein Protagonist, der es geschafft hat, durch puritanischen Fleiß und eiserne Bibellektüre seine Existenz und sein geistiges Gleichgewicht zu bewahren, wird durch den Einbruch menschlicher Gesellschaft zum Handelnden, der sich in der Folge seiner Haut wehren muß und seinen späteren Gefährten, sein Gegenüber (Jungianer würden von "seinem Schatten" sprechen) vor dem Verspeistwerden bewahren muß.


(Ill. von Edward Henry Wehnert, 1813-68, von 1862)

Habent sua fata libelli: Die beiden angeführten Romane - die Abenteuer Gullivers wie Robinsons - eint ein vergleichbares Schicksal: anders als andere Romane aus dem "tintenklecksenden Säkulum" sind sie durchaus noch als literarische Einheiten im schon erwähnten kulturellen Gedächtnis präsent; es dürfte auch Lesern, die keine Seite davon gelesen haben, nicht schwerfallen, ihre Handlung stringent und schlüssig nachzuerzählen - wenn auch nur teilweise: im Fall von Swifts Roman betrifft das die beiden ersten Bücher, die als Nacherzählung für ein Publikum im, wie wir heute sagen würden, Grundschulalter ein nachhaltigeres Nachleben führen denn als die ursprüngliche Satire (im deutschen Sprachbereich seit den 1950 Jahren durch die Adaptation von Erich Kästner; ihr Pedant im den slawischen Sprachen stellt die Nacherzählung von Tamara Gabbe von 1931 dar); im Fall Defoes endet der Text mit dem Verlassen der Insel. Auch hier nimmt Defoe, der als Schriftsteller von dem, was seine Feder liefern konnte, existieren mutße - in einem Zeitalter, in dem dies elendste Zeilenschinderei bedeutete - spätere Usancen des Literaturbetriebs heutiger Zeiten vorweg: Sein Roman, der anonym erschien, und durch die weitgehende Einhaltung der Tagebuchfiktion, das seinem Helden im Erzählkosmos des Buches als Gedächtnisstütze dient, zuerst für einen tatsächlichen Reisebericht gehalten werden konnte - erlebte bis zum Jahresende 1719 vier Auflagen (was allerdings angesichts einer durchschnittlichen Auflagenhöhe von gut 2000 Exemplaren nicht mit heutigen Bestsellern vergleichbar ist) und kann durchaus als großer verlegerischer Erfolg gelten; die meisten Titel der Zeit zwischen 1690 und der Mitte des 18. Jahrhunderts bringen es in ihrem Erscheinungsjahr auf genau zwei Ausgaben, wenn sich der erste Druck nicht als Kassengift erwiesen hatte. Im August ließ Defoe eine Fortsetzung, ebenfalls bei W. Taylor folgen: The Farther Adventures of Robinson Crusoe; Being the Second and Last Part of His Life, And of the Strange Surprising Accounts of his Travels Round three Parts of the Globe und ein Jahr darauf, angesichts der anhaltenden Nachfrage eine der seltsamsten "Fortsetzungen" der Literaturgeschichte, Serious Reflections During the Life and Surprising Adventures of Robinson Crusoe: With his Vision of the Angelick World - dessen Titel schon Warnung genug sein sollte (und es für die zeitgenössischen Leser auch war): unter der durchsichtigen Maske verbergen sich höchst triviale und unangenehm frömmelnde Lebensweisheiten des Verfassers, dessen Stärke die Reportage und anschauliche Schilderung des Konkreten war, und dessen Reflexionsvermögen von peinlicher Flachheit zeugt (darin zeigt er eine nette Parallele zu einem wie er unendlich produktiven Kollegen des 20. Jahrhunderts, nämlich Georges Simenon, dessen uferlos räsonierende Tagebücher nach der literarischen Pensionierung der Spürnase Maigret auch aus gutem Grund der "Furie des Verschwindens" anheim gefallen sind).

Die ikonische Stellung von Defoes Text zeigt sich nicht zuletzt an zwei Facetten, die zum Nachleben des Buchs gehören: zum einen hat das Thema immer wieder neu erzählt, variiert, plagiiert und parodiert worden - ohne daß allerdings eins dieser Produkte die Stellung (oder den Rang) des Vorbilds einnehmen konnte: von Johann David Wyss' Schweizerischem Robinson von 1812 bis hin zum SF-Film Robinson Crusoe on Mars von 1964 (der seinerseits ein deutliches Vorbild für Ridley Scotts The Martian von 2015 abgegeben hat und der auf der Vorlage eines ebenfalls längst verschollenen Romans von Rex Gordon von 1956 fußt) ist das Thema immer wieder aufgenommen worden; in einer Form, die die Folie klar durchscheinen läßt; bezeichnend ist hierbei, daß in der Regel nicht die völlig vereinzelte Existenz, also das auf die letzte existenzielle Nacktheit reduzierte Individuum der Natur ausgeliefert ist, sondern eine Familie (wie bei Wyss) als Keimzelle des Sozialen, eine "Five-Man-Band" wie in Jules Vernes L'île mysterieuse oder gleich ein stets mit Nachwuchskräften versorgtes utopisches Insel-Refugium wie im Beispiel von Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg ab 1731. Zum zweiten war Defoes Text, spätestens ab dem Einsetzen der Romantik, immer durch seine puritanische Grundierung, sein unerschütterliches Gottvertrauen, das den Erzähler wie eine durch keinerlei Zweifel angekränkelte Seele erscheinen läßt, die, gleichsam ein moderner Hiob, keine einzige Sekunde mit ihrem Schicksal hadert, immer auch ein Stein des Anstoßes. Daß er Freitag als Diener, als Leibeigenen behandelt, dem er selbstverständlich in allem überlegen ist, daß er die Kannibalen, die seine Insel heimsuchen, ohne Gewissensbisse tötet: das hat dem Text den Ruf eingebracht, eine Rechtfertigung der gröbsten Exzesse des europäischen Kolonialismus darzustellen. Schon in der französischen Romantik, beginnend mit Chateaubriands Atala von 1798 und zehn Jahre davor mit Bernardin de Saint Pierres Paul et Virginie leuchtet das als Subtext auf, gegen den sich die späteren Autoren positionieren. Als Michel Tournier das mit seinem ersten Roman Vendredi ou Les limbes de Pacifique 1967 literarisch in Erz goß, war diese Optik längst ihrerseits zum ("antikolonialistischen") Klischee geronnen. Es liegt natürlich eine ironische Volte darin, die etwa ein Nietzsche hätte würdigen können, daß Defoes Text die textimmanente Überlegenheit seines Erzählers nicht nur deshalb zeigte, weil sein Autor vor der Erfindung des "edlen Wilden" lebte, sondern durchaus handfeste Evidenz auf seiner Seite hatte. Und natürlich geht in dieser Sicht die Ironie verloren, daß Robinson, mitsamt seinem Man Friday außerhalb ihrer Inselfestung auf verlorenem Posten stehen und sogar ihre Befreiung aus dem Exil allein dem Auftauchen der übelsten - westlichen - Kriminellen ihrer Ägide verdanken, nämlich Piraten.

(Als kleine Fußnote sei hinzugefügt, daß der heute zweitbekannteste Text Defoes, nämlich die General History of the Robberies and Murders of the most notorious Pyrates von 1724, wie die meisten seiner Bücher anonym erschienen, heute nicht mehr als als von ihm stammend betrachtet wird. John Robert Moore hat diese Schrift 1932 Defoe aufgrund der Tatsache zugeschrieben, das in dem Roman Captain Singleton von 1725 - der unzweifelhaft aus seiner Feder entstammt - der Titelheld eine kurze Episode als Freibeuter durchläuft. Auch bei dieser kleinen Facette des Defoeschen - oder eben nicht Defoe'schen Ouevres gibt es eine hübsche Parallele: nämlich zum Werk Rembrandts: insbesondere Moore, der in der 1. Hälfte des 20. Jhdts. so etwas wie der Paladin dieses "vernachlässigten und unterschätzten" Klassikers, als Lohnschreiber und Zeilenschinder verachtet, war, hat die Zahl der Werkzuschreibungen auf gut 800 Nummern - vom Epigramm und zweiseitigen Pamphlet über wüste politische Kampfschriften - The Shortest Way with the Dissenters (sie allesamt "einen Kopf kürzer zu machen") bis hin zu buchlangen Reportagen wie dem Journal of the Plague Year oder der Tour of the Whole of England - aufschwellen lassen. Letztlich hat Moore für so gut wie jeden Text zwischen 1705 und 1730, für den kein gesicherter Autor zu ermitteln war, Defoe untergeschmuggelt. Die ab den späten 1960er Jahren erfolgte Zurückstutzung dieses wuchernden Gartens auf die ursprüngliche Anzahl von mehr-oder-weniger gesicherten 200 Titeln durch P. N. Furbank und W. R. Owens hatte, wie im Fall Rembrandts, als Ergebnis, daß die reduzierten Versionen dieser Catalogues raisonnées jeweils um die Hälfte ihrer Posten von den ursprünglichen Listen abwichen.)



 (Ill. von N. C. Wyeth, 1920)




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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.