10. März 2019

Aus der Schwalbenperspektive (20): Schlechter Stil oder eine Entscheidung mit dem Rücken zur Wand? Gedanken zu Jogi Löws jüngster Personalvolte

Das Thema, das Fußball-Deutschland in der vergangenen Woche beschäftigte, war nicht die am 24. Spieltag der Bundesliga eingetretene Punktgleichheit zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern München, sondern die mit sofortiger Wirkung ausgesprochene Entlassung von Jérôme Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller aus den Diensten der Nationalmannschaft. Sportlich richtig (und eher zu spät als zu früh), jedoch stilistisch fragwürdig, so lässt sich eine weit verbreitete Kommentarlinie zu der Entscheidung des Bundestrainers zusammenfassen.

Nach dem, was bisher über die näheren Umstände der Ausbootung der drei Weltmeister von 2014 ruchbar wurde, soll der Termin in der Isar-Metropole von Jogi Löw sehr kurzfristig anberaumt worden sein und die Gespräche mit den nicht vorinformierten Spielern nicht besonders lange gedauert haben. Soweit ersichtlich, hat der DFB dieses Setting bislang nicht dementiert. Dass der Verband fast zeitgleich mit der persönlichen Verständigung der drei Athleten an die Presse ging, lässt sich anhand der Chronologie der Ereignisse nachvollziehen.
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Hält man sich diese Inszenierung vollendeter Tatsachen vor Augen, begreift man, was Thomas Müller mit seinem Wort von der „suggerierte[n] Endgültigkeit“ des Beschlusses des Bundestrainers gemeint haben könnte. Tatsächlich befremdet an Löws Vorgehen, dass es so überraschend kam, wie es als irreversibel kommuniziert wurde. Der Schwarzwälder hätte die Nationalmannschaftskarrieren der drei Arbeitnehmer des deutschen Rekordmeisters auch faktisch beenden können, ohne sich derart exponieren zu müssen, etwa indem er Boateng, Hummels und Müller als Edelreservisten auf die Ersatzbank relegiert hätte. Früher oder später hätten die drei Sportler dann wohl selbst das Handtuch geworfen, und Löw hätte bis dahin den Vorteil gehabt, das Bayern-Triumvirat bei Not am Mann noch einsetzen zu können.

Ein Erklärungsversuch geht dahin, im Charakter des Bundestrainers die Begründung für dessen unglückliche Art bei der Beendigung von Laufbahnen in der schwarz-rot-goldenen Auswahl zu vermuten. Unselige Erinnerungen an Löws Gebaren beim Ausscheiden von Michael Ballack aus dem Team wurden wach. Diese Argumentation vermag aber schon deshalb nicht zu überzeugen, weil dem einstigen Assistenten Jürgen Klinsmanns häufig eine bis zur Nibelungentreue reichende Anhänglichkeit an verdiente Spieler nachgesagt wird und der Fall Ballack die Besonderheit aufwies, dass nach der gelungenen Vorstellung bei der WM 2010 aus der Mannschaft (zumindest aus nicht ganz unbedeutenden Teilen derselben) ein gesteigertes Verlangen nach der Rückkehr des „Capitano“ nicht zu vernehmen war.

In der medialen Diskussion wurde bisher kaum in Erwägung gezogen, dass Löws Entscheidung möglicherweise nicht völlig selbstbestimmt war, sondern auch und vielleicht sogar in erster Linie auf gefühlten oder ihm gegenüber geäußerten verbandsinternen Druck hin zustande kam. Seit der vergeigten WM 2018 ist der Kredit des Bundestrainers erheblich dahingeschmolzen. Die personelle Erneuerung des Kaders wurde von Löw zunächst eher zögerlich angegangen. Mit dem Rauswurf Boatengs, Hummels’ und Müllers bricht der 59-Jährige die Brücke, welche den Rückweg vermitteln würde, hinter sich ab. Die gesamte Orchestrierung der Verabschiedung der drei Nationalmannschaftsrecken spricht dafür, dass die Entschlossenheit zu einem Neuanfang durch eine konsequent umgesetzte, in ihrer vollen Schroffheit exakt so intendierte Grausamkeit zum Ausdruck gebracht werden soll.

Doch Jogi Löw sollte sich in Acht nehmen: Michael Ballack ist heute nicht darum verlegen, seinen ehemaligen Nationaltrainer wegen dessen Personalentscheidungen zu tadeln oder dessen Verbleib im Amt zu hinterfragen. Seit letzter Woche könnten drei weitere Löw-Kritiker hinzugekommen sein. Und wenn Boateng, Hummels und Müller in ihrem Verein während der Restsaison gute Leistungen zeigen, die verjüngte Bundestruppe bei den EM-Qualifikationsmatches hingegen patzen sollte, dürfte es in Löws Chefcoachsessel ziemlich ungemütlich werden.

Noricus

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