26. März 2019

自杀者之歌。 Zum 30. Todestag des Dichters 海子 Hai Zi (1964-1989)



面朝大海, 春暖花开
   
从明天起, 做一个幸福的人
喂马, 劈柴, 周游世界
从明天起,关心粮食和蔬菜
我有一所房子, 面朝大海, 春暖花开
从明天起, 和每一个亲人通信
告诉他们我的幸福
那幸福的闪电告诉我的
我将告诉每一个人
给每一条河每一座山取一个温暖的名字
陌生人, 我也为你祝福
愿你有一个灿烂的前程
愿你有情人终成眷属
愿你在尘世获的幸福
我只愿面朝大海, 春暖花开
- 1989.1.13

Der Blick auf's Meer, wenn zur Frühlingszeit die Blumen blühen
   
Ab morgen will ich ein glücklicher Mensch sein
Will Pferde füttern, Brennholz hacken, eine Weltreise machen
Ab morgen will ich Korn und Gemüse sorgsam behandeln
Ich habe ein Haus mit Blick auf's Meer, wo zur Frühlingszeit die Blumen blühen
Ab morgen will ich all meinen Lieben schreiben
Ihnen von meinem Glück erzählen
Was mir der Funke dieses Glücks erzählt hat
Will ich allen erzählen
Ich will jedem Fluss und jedem Berg einen freundlichen Namen geben
Fremder, auch dich will ich segnen
Ich wünsche dir eine glänzende Zukunft
Ich wünsche dir eine große Liebe
Ich wünsche dir das Glück dieser Welt
Ich wünsche mir nur den Blick auf’s Meer, wenn zur Frühlingszeit die Blumen blühen
(13. Januar 1989)

Heute vor dreißig Jahren, am Sonntag, dem 26. März 1989, wurde um 5 Uhr morgens im Bezirk Qinhuangdao, neun Kilometer von der Hafenstadt Shanhaiguan am chinesischen Meer und dreihundert Kilometer genau östlich von der Hauptstadt Beijing entfernt, ein junger Mann von 25 Jahren von einem Güterzug überrollt und getötet. Es war ein klarer Selbstmord. Im Rucksack, den er in der Nähe abgelegt hatte, fanden sich vier kurze Abschiedsnotizen und vier Bücher in chinesischer Übersetzung: die Bibel, David Henry Thoreaus "Walden, oder das Leben in den Wäldern", Thor Heyerdahls "Kon-Tiki" und ein Auswahlband mit Erzählungen von Joseph Conrad. Die erste Notiz lautete: "Mein Name ist Zha Hasheng. Ich unterrichte Philosophie an der Chinesischen Staatsuniversität für Politik und Rechtsfragen. Mein Tod soll niemanden belasten oder beschuldigen. Meine bisherigen Verfügungen sind hiermit ungültig; meine Papiere sollen an Luo Yihe, den Herausgeber der Zeitschrift "Oktober" (十月) übergeben werden, damit er entscheiden kann, was damit geschehen soll." Aus den anderen Zetteln (deren Inhalt erst 2004 publiziert wurde) erhellte der wahrscheinlich Grund für den Suizid des jungen Dichters: die akute Befürchtung, an Schziphrenie erkrankt zu sein, den Stimmen im eigenen Kopf hilflos ausgeliefert zu bleiben und den Verstand zu verlieren.

Bis heute ist der Name und der Ruf von Hai Zi (das Pseudonym bedeutet soviel wie "Sohn des Meeres"), unter denen der Jurastudent aus dem winzigen Provinzdörfchen Chawan (查灣) in der Provinz Anhui seit 1984 Gedichte veröffentlicht hatte, mit seinem Freitod verknüpft. Darin gleicht er anderen Dichtern seiner Generation, der ersten, die nach dem kulturellen Kahlschlags des Maoismus und vor allem nach den grausamen Strikturen der Kulturrevolution ab 1966 ganz auf Subjektivität, auf die Abkehr von jeder "politischen" Vereinnehmbarkeit, auf hermetischer Bezugnahmen und Metaphern und die eigene Befindlichkeit gegenüber der Welt um sich herum setzen: die bekanntesten unter dem guten Dutzend solcher Fälle der nachfolgenden Jahre sind die Selbstmorde von Ge Mai 1991 und Gu Cheng im Exil im neuseeländischen Auckland im Jahr 1993. Wie Hai Zi zählen auch Ge und Gu zu den (nie formal als literarische Gruppe organisierten) sogenannten "obskuren", "rätselhaften" oder "Nebel-Dichtern" ( 朦胧诗人 - ménglóng shīrén), deren Werke und Wirken seinen Auftakt mit Bei Daos Gedicht "Die Antwort" (回答 Huida) in der ersten Ausgabe des kleinen Poesiemagazins "Heute" (今天 - Jintian) nahm, das in Maos Todesjahr 1976 nach der Verhaftung der "Viererbande" erschien, und dessen Zeilen 

冰川纪过去了,
为什么到处都是冰凌?
....
告诉你吧,世界
我--不--相--信!
纵使你脚下有一千名挑战者,
那就把我算作第一千零一名。

我不相信天是蓝的,
我不相信雷的回声,
我不相信梦是假的,
我不相信死无报应。

如果海洋注定要决堤,
就让所有的苦水都注入我心中,
如果陆地注定要上升,
就让人类重新选择生存的峰顶。
新的转机和闪闪星斗,

"Die Eiszeit ist jetzt vorbei. / Warum gibt es noch überall so viel Eis? // Welt, das ich sage dir: / Ich glaube nicht daran! / Und wenn du tausend Leugner unter den Füßen zertrittst / dann zähl' mich als tausendundersten. // Ich glaube nicht an das Himmelsblau / Ich glaube nicht an das Rollen des Donners. / Ich glaube nicht, daß alle Träume Lüge sind. / Ich glaube nicht, daß der Tod ungesühnt bleibt. // Neue Sternbilder und schimmernde Sterne / schmücken jetzt den wolkenlosen Himmel: / Es sind Zeichen von fünftausend Jahren. / Es sind die wachsamen Augen der Generationen der Zukunft" 

genau die programmatische Absage an den Zwang und die tödliche Enge des Erlaubten darstellen, als die sie auch heute, aus einer Distanz von vier Jahrzehnten und einer halben Welt, erscheinen. Die Subjektivität der "Wolkendichter", gerade auch in den Versen Hai Zis, schloß sich ganz bewußt an die Haltungen der Poesie der europäischen Romantik an - bei ihm auch in Zitaten und Bezugnahmen auf die Werke (und die Personen) von Novalis und Hölderlin (aber auch von Vincent van Gogh und Franz Kafka). Das radikale Einstehen für das eigene Werk, als das diese Suizide gesehen wurden, gerade bei jungen Lesern im chinesischen Sprachraum bis heute, als Ausweis von Authentizität und Ehrlichkeit jenseits aller "poetischen" Posen, hat sicher dazu beigetragen, diesem Werk zu einer dauerhaften Leserschaft zu verhelfen. Gleichzeitig hat es unter vielen Kritikern einen Backlash erzeugt, die in der Begeisterung junger Schüler und Studenten für dieses Oeuvre eine morbide Mode und ein zu schlichtes, fast kitschiges Bedienen pubertärer Sinnsuche zu sehen geneigt sind (man darf sich, auf westliche Verhältnisse umgemünzt, an die Ablehnung ernstzunehmender Philologen in Sachen des "Hippie-Idols" Hermann Hesse oder Stefan Zweigs erinnert fühlen. - Eine ironische Fußnote: Zweig ist, stets allein unter der sinisierten Form nur seines Nachnamens 茨威格 - Ci-wei-ge - gelistet, seit achtzig Jahren bis heute der meistübersetzten und meistgelesene westliche Autor der Sinosphäre, nicht nur in der Volksrepublik, sondern auch auf der "grünen Insel" Taiwan und in Singapur). Es ist aber nicht allein der Nimbus des genuin Authentischen: ohne Gedichte, ohne Verse, die die Seele des Lesers berühren, die etwas in ihm zum Klingen bringen, ist auch der radikalste Lebensentwurf - in seiner Absage an das Leben, um nur die Literatur zu hinterlassen - zur Erfolglosigkeit, zum Ruf im Vakuum, verdammt.

夜月  
   
一扇又一扇门
推开树林
太阳把血
放入灯盏
河静静卧在
人的村庄
人居住的地方
人的门环上
鸟巢挂在
离人间八尺
的树上
我仿佛离人间二丈
一切都原模原样
一切都存入
人的
世世代代的脸,一切不幸
我仿佛
一口祖先们
向后代挖掘的井
一切不幸都源于,我幽深的水
1985.6.19

Nachtmond
     
Eine und noch eine Tür
Stoßen den Wald auf
Die Sonne stellt ihr Blut
In die Laterne
Der Fluss liegt still im
Dorf der Menschen
Da wo die Menschen leben
Auf dem Türklopfring
Das Vogelnest hängt am
Baum, acht Fuß von der irdischen Welt
Entfernt
Ich scheine sechs Meter von der irdischen Welt entfernt zu sein
Alles sieht wie früher aus
Alles ist in
Den Gesichtern der Menschen
Von Generation zu Generation angelegt, alles ist Unheil
Ich scheine
Ein Brunnen zu sein, von den Vorfahren
Für die nachfolgenden Generationen gegraben
Alles Unheil hat seinen Ursprung in meinem tiefen Wasser

- 19. Juni 1985



Hai Zis Ruhm als Dichter, als eine Stimme seiner Generation (jedenfalls bei seinen Lesern) setzte erst nach seinem Tod ein. Zu seinen Lebzeiten erschienen rund fünfzig Gedichte, zumeist in kleineren Lyrik-Zeitschriften (wie dem erwähnten Magazin "Oktober"). zwischen 1990 und 1997 folgten vier Buchausgaben, zuerst 作者: 海子 (Das Land), einer der sieben Abschnitte des nie abgeschlossenen Epos "Die Sonne" (1986-88; in der Werksausgabe von 1997 umfaßt der Zyklus 350 Seiten) als Sonderdruck bei 春风文艺出版社 (Chūnfēng wényì chūbǎn shè, dem Verlag für Kunst und Literatur "Frühlingswind") im November 1990, gefolgt ein Jahr später von den "Gedichten von Hai Zi und Luo Yihe", 1995 海子的诗 (Hǎi zi de shī - Hai Zi: Gedichte), herausgegeben von Xi Chuan im Verlag für Volksliteratur, dessen zwölfte Auflage 2005 eine Gesamtauflage von 110.000 Exemplaren erreichte (man bedenkte: für einen Gedichtband) und schließlich 1997 "Hai Zi: Sämtliche Gedichte " (海子完整版, Hǎi zi wánzhěng bǎn) im Shanghaier Verlag Sanlian mit einem Umfang von 934 Seiten.

Das letzte Gedicht, das Hai Zi verfaßte, zwölf Tage vor seinem Tod, beschreibt klar und hellsichtig die Symptome der einsetzenden Schizophrenie; als poetisches Vermächtnis steht in gespenstischer Parallelität zu den letzten Versen, die Cesare Pavese eine Generation vor ihm, im Frühling 1950, ebenfalls zwölf Tage vor seinem Abschied aus der Welt schrieb: "Verrà la morte e avrà i tuoi occhi - Der Tod wird kommen und er wird deine Augen haben..."

春天, 十个海子
 
春天, 十个海子全都复活
在光明的景色中
嘲笑这一野蛮而悲伤的海子
你这么长久地沉睡到底是为了什么?
春天, 十个海子低低地怒吼
围着你和我跳舞、唱歌
扯乱你的黑头发, 骑上你飞奔而去, 尘土飞扬
你被劈开的疼痛在大地弥漫
在春天, 野蛮而悲伤的海子
就剩这一个, 最后一个
这是黑夜的儿子, 沉浸于冬天, 倾心死亡
不能自拔, 热爱着空虚而寒冷的乡村
...
大风从东刮到西,从北刮到南,无视黑夜和黎明
你所说的曙光究竟是什么意思

Frühling, zehn Hai Zi
 
Frühling, zehn Hai Zi sind alle auferstanden
In der hellen Landschaft
Verspotten den einen wilden und traurigen Hai Zi
Du hast so lange so tief geschlafen, warum denn nur?
Frühling, zehn Hai Zi brüllen leise
Umkreisen dich und mich, tanzen und singen
Zerzausen dein schwarzes Haar, reiten auf dir und schießen davon, Staub wirbelt auf
Die Erde ist mit dem Schmerz deiner Spaltung erfüllt
Im Frühling bleibt der wilde und traurige Hai Zi
Als einziger übrig, als letzter
Er ist der Sohn der Nacht, in den Winter versunken, in den Tod vernarrt
Er kann sich selbst nicht retten, liebt leere und frostige Dörfer mit Leidenschaft
...
Der Sturm weht von Ost nach West, von Nord nach Süd, ignoriert die Nacht und den Morgen
Das Morgenrot von dem du sprichst, was mag es bedeuten



 
祖国,或以梦为马
   
我要做远方的忠誚的儿子
和物质的短暂情人
和所有以梦为马的诗人一样
我不得不和烈士和小丑走在同一道
路上
万人都要将火熄灭   我一人独将此
火高高举起
此火为大   开花落英于神圣的祖国
和所有以梦为马的诗人一样
我借此火得度一生的茫茫黑夜
此火为大   祖国的语言和乱石投筑
的梁山城寨
以梦为上的敦煌————那七月也会寒冷的骨骼
如雪白的柴和坚硬的条条白雪   横掐在众神之山
和所有以梦为马的诗人一样
我投入此火   这三者是囚禁我的灯盏
吐出光辉
万人都要从我刀口走过   去建筑祖国
的语言
我甘愿一切从头开始
和所以以梦为马的诗人一样
我也愿将牢底坐穿
众神创造物中只有我最易朽   带着不
可抗拒的死亡的速度
只有粮食是我珍爱   我将她紧紧抱住
抱住她在故乡生儿育女
和所有以梦为马的诗人一样
我也愿将自己埋葬在四周高高的山上
守望平静的家园
面对大河我无限惭愧
我年华虚度   空有一身疲倦
和所有以梦为马的诗人一样
岁月易逝   一滴不剩   水滴中有一匹
马儿一命归天
千年后如若我再生于祖国的河岸
千年后我再次拥有中国的稻田
和周天子的雪山   天马踢踏
和所有以梦为马的诗人一样
我选择永恒的事业
我的事业   就是要成为太阳的一生
他从古至今——-"日"————他无比辉煌
无比光明
和所有以梦为马的诗人一样
最后我被黄昏的众神抬入不朽的太阳
太阳是我的名字
太阳是我的一生
太阳的山顶埋葬   诗歌的尸体————千
年王国和我
骑着五千年凤凰和名字叫"马"的龙
————我必将失败
但诗歌本身以太阳必将胜利
1987

Vaterland, oder Träume als Pferde betrachten
 
Ich möchte ein treuer Sohn der Ferne sein
Für kurze Zeit der Geliebte von Materie
Wie alle Dichter, die Träume als Pferde betrachten
Habe ich keine andere Wahl, als mit Märtyrern und Clowns zusammen
Auf einer Straße zu gehen
Unzählige wollen das Feuer löschen   ich alleine will dieses
Feuer hochhalten
Dieses Feuer ist für das große   heilige Vaterland, in dem Blumen blühen und Blüten fallen
Wie alle Dichter, die Träume als Pferde betrachten
Muss ich mit diesem Feuer durch die endlose Nacht des Lebens gehen
Dieses Feuer ist für die große   Sprache des Vaterlandes und die aus Steinen gebaute
Festung von Liangshan
Die aus Träumen erschaffenen Dunhuang Grotten ---- dieses Skelett, das selbst im Juli eiskalt ist
Das wie schneeweißes Brennholz und harte Pfade von Schnee   die Berge der Götter durchquert
Wie alle Dichter, die Träume als Pferde betrachten
Werfe ich mich ins Feuer   diese Drei sind die Lampen, die mich einsperren
Und Glanz ausspeien
Unzählige Menschen müssen über meine Messerklinge gehen   um die Sprache des Vaterlandes
Aufzubauen
Ich bin gewillt, ganz von vorne anzufangen
Wie alle Dichter, die Träume als Pferde betrachten
Möchte auch ich meine Strafe absitzen
Unter der Schöpfung der Götter, verrotte nur ich am leichtesten   mit einem
Unwiderstehlichen Todestempo
Ich liebe nur Getreide über alles   ich umarme die Frau fest
Umarme sie, die in der Heimat Kinder bekommt
Wie alle Dichter, die Träume als Pferde betrachten
Möchte auch ich mich in den hohen Bergen der Umgebung beerdigen
Um über das ruhige Heimatland zu wachen
Dem großen Fluss gegenüber bin ich unendlich beschämt
Ich habe mein Leben nutzlos verstreichen lassen   bin nur müde am ganzen Körper
Wie alle Dichter, die Träume als Pferde betrachten
Verrinnt die Zeit   kein Tropfen bleibt übrig   im Wassertropfen
Kehrt ein Pferd in den Himmel zurück
Wenn ich in tausend Jahren am Ufer des Vaterlandes wiedergeboren werde
In tausend Jahren wieder die Reisfelder Chinas besitze
Und die Schneeberge von Kaiser Zhou   tänzelt das himmlische Pferd
Wie alle Dichter, die Träume als Pferde betrachten
Habe ich ein immerwährendes Unterfangen gewählt
Mein Unterfangen  ist es zum Leben der Sonne zu werden
Seit ewigen Zeiten bis heute ---"Sonne" --- sie ist unvergleichlich glorreich
Unvergleichlich hell
Wie alle Dichter, die Träume als Pferde betrachten
Werde ich am Ende von den Göttern der Dämmerung in die unsterbliche Sonne gehoben
Sonne ist mein Name
Sonne ist mein Leben
Auf dem Gipfel der Sonne beerdigt   sind die Leichen von Gedichten ---- ein tausend-
Jähriges Königreich und ich
Reiten auf dem Phönix und dem Drachen der "Pferd" genannt wird
  ---- Ich werde unweigerlich scheitern
Doch die Gedichte selbst werden durch die Sonne unweigerlich siegen



Hai Zis Essay "Der Dichter, den ich liebe - Hölderlin" vom November 1988, der in der Werksausgabe von 1997 auf den Seiten 914 bis 918 abgeduckt ist und in deutscher Übersetzung im Hölderlin-Jahrbuch 1998/1999 erschienen ist, ist in der Übersetzung von Chin Ip Ng und Peter Trawny hier nachzulesen.

Die deutschen Fassungen der Gedichte von Hai Zi sind nach den Übersetzungen von Barbara Maag zitiert.

*          *          *


Nachtrag, 27. März, 22:00.

Die oben angeführte thematische Bezugnahme, die Gleichschwingung zu Pavese ist eine zufällig thematische Übereinstimung, auch wenn die zeitlichen Parallelen im Leben ihrer Verfasser frappant sind. Bei dem zuerst zitierten Gedicht über den Blick auf's Meer hingegen darf man bei einem solch belesenen - und an der westlichen Literatur brennend interessierten, wie Gedichttitel wie 给卡夫卡, "Für Kafka", 给安徒生, "Für [Hans Christian] Andersen" oder 给托尔斯泰, "Für Tolstoi" zur Genüge belegen - Autor eine direkte Replik, eine Antwort, eine Variation auf ein ganz bestimmtes Gedicht vermuten, nämlich das wohl bekannteste Gedicht aus der frühen Schaffensphase der irischen Nobelpreisträgers William Butler Yeats, "The Lake Isle of Innisfree", das fast exakt ein Jahrhundert früher schien. Auch hier sind die zeitlichen Parallelen verblüffend. Hai Zi schrieb seine Verse acht Wochen vor seinem 25. Geburtstag (sein Freitod erfolgte zwei Tage danach); Yeats feilte an dem so schlicht und liedhaft erscheinenden Dutzend Zeilen seiner drei Vierzeiler über einen Zeitraum von recht genau zwei Jahren. Die erste Fassung findet sich, noch in zwei Strophen, in einem Brief an Katherine Tynan vom 21. Dezember 1888; die Endfassung schickte Yeats Anfang November 1890 an W. E. Henley, der den Literaturteil der Zeitung "National Observer" betreute, wo das Gedicht zum ersten Mal am 21. Dezember gedruckt wurde, sechs Monate nach Yeats' 25. Geburtstag. Anders als die englischen Verse in Hai Zis Gedicht (fast) ungereimt - bis auf die 3. und 4. und bei beiden Abschlußzeilen

...cóng míngtiān qǐ, guānxīn liángshí hé shūcài
wǒ yǒuyī suǒ fángzi, miàn cháo dàhǎi, chūnnuǎn huā kāi
[---]
...wǒ zhǐ yuàn miàn cháo dàhǎi,
chūnnuǎn huā kāi

- aber die thematische Parallelführung beider Gedichte springt ins Auge.


The Lake Isle of Innisfree

I will arise and go now, and go to Innisfree,
And a small cabin build there, of clay and wattles made;
Nine bean rows will I have there, a hive for the honey bee,
      And live alone in the bee-loud glade.

And I shall have some peace there, for peace comes dropping slow,        
Dropping from the veils of the morning to where the cricket sings;
There midnight's all a glimmer, and noon a purple glow,
      And evening full of the linnet's wings.

I will arise and go now, for always night and day
I hear lake water lapping with low sounds by the shore;
While I stand on the roadway, or on the pavements gray,
      I hear it in the deep heart's core.


Die Seeinsel von Innisfree

Ich steh' jetzt auf und breche auf, nach Innisfree hinaus
Und bau mir eine Hütte, ganz aus Lehm und Rohr
Zieh' neun Reihen Bohnen, stell den Bienenstock davor
Und leb' allein im Hain im summenden Gebraus.

Dort find' ich Frieden, laß ihn langsam in mich ziehen,
Vom Morgennebel tropft er - bis die Grille singt.
Und Mitternacht ist Funkeln, und der Mittag dunkles Glühen
Und Abende, in denen Flügelrauschen klingt.

Ich steh jetzt auf und geh', denn stets, bei Tag und Nacht
Hör ich das Wasser leis ans Ufer schlagen
Hier auf der Straße, auf dem grauen Pflaster - sacht
Ist mir der Klang bis tief ins Herz hineingetragen.


(Nachdichtung: U.E.)

Und ja: Hei Zi hätte diese Verse auch in chinesischer Übersetzung kennenlernen können (und wird sie als der besessene Leser, von dem alle Bekannten sprechen) wohl auch gefunden haben. Hier ist "The Lake Isle of Innisfree" in der Übersetzung von 飞白 / Fei Bai: "茵尼斯弗利岛": "Yīn nísī fú lì dǎo" , wobei die ersten vier Hanzi den Namen der Örtlichkeit in annähernde gleichklingende chinesische Silben transferieren und 岛/Dǎo tatsächlichen jenes Zeichen/jene Vokabel darstellt, die auch der des Mandarin ungeläufige Westler als "Weg" kennt..

茵尼斯弗利岛

我就要起身走了,到茵尼斯弗利岛,
造座小茅屋在那里,枝条编墙糊上泥;
我要养上一箱蜜蜂,种上九行豆角,
独住在蜂声嗡嗡的林间草地。
那儿安宁会降临我,安宁慢慢儿滴下来,
从晨的面纱滴落到蛐蛐歇唱的地方;
那儿半夜闪着微光,中午染着紫红光彩,
而黄昏织满了红雀的翅膀。
我就要起身走了,因为从早到晚从夜到朝
我听得湖水在不断地轻轻拍岸;
不论我站在马路上还是在灰色人行道,
总听得它在我心灵深处呼唤。



(Diese Fassung ist übrigens, den klassischen chinesischen Mustern und dem Original entsprechend, durchweg gereimt;
wǒ yào yǎng shàng 
yī xiāng mìfēng, 
zhǒng shàng jiǔ 
xíng dòujiǎo,
dú zhù zài fēng 
shēng wēng wēng 
de lín jiàn cǎodì.
Nà'er ānníng 
huì jiànglín wǒ, ānníng 
màn man er dī xiàlái,
cóng chén de miànshā dī luò dào qūqu xiē chàng dì dìfāng;
nà'er bànyè shǎnzhe wéi guāng,)


  




­
U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.