10. Juli 2016

Vom Fin de Siècle, dem Zauberberg und Putins Eiern

Geschichte wiederholt sich nicht, sagt man, und vermutlich haben die Historiker damit recht. Auch ist es wohl schwierig, die Gegenwart mit gleichsam historisch-distanzierten Augen zu betrachten, um Parallelen zu vergangenen Epochen entdecken zu können. Zur Kennzeichnung der  europäischen Gegenwart wird in letzter Zeit öfters das Bild des Historikers Christopher Clark bemüht, der den Ausbruch des ersten Weltkriegs als Ergebnis eines kollektiven Schlafwandelns der europäischen Regierungen, mit ihren komplexen Bündnisstrukturen und ethnischen Konflikten, beschrieben hat. Das mag zutreffen, aber ich glaube, daß die Ereignisse von 1914 nicht zu begreifen sind ohne Betrachtung von etwas, das man vielleicht das kollektive Stimmungsbild jener Zeit nennen könnte. Zur Kennzeichnung dieser Stimmung und einer ihr entspringenden künstlerischen Strömung hat man den Begriff des Fin de Siècle geprägt, jene charakteristische Mischung aus Dekadenz, Endzeitstimmung und Überdruß, die zu einer Geringschätzung und Abkehr von den politisch-gesellschaftlichen Strukturen jener Zeit geführt haben. „Das alte“ sollte zerschlagen werden, damit „neues“ daraus erwachsen könne; der große, reinigende Hammerschlag, der überkommene gesellschaftliche Strukturen beseitigen sollte, erschien vielen nicht als Bedrohung sondern als Verheißung. 
­
Im Ergebnis ist eine ganze Generation jubelnd in die erste Katastrophe des 20. Jahrhunderts marschiert, die bekanntlich zugleich den Keim der zweiten Jahrhundertkatastrophe in sich barg. Thomas Mann hat in seinem „Zauberberg“, der in den sieben Jahren vor dem „Donnerschlag“ 1914 spielt, mit dem „großen Stumpfsinn“ und der „großen Gereiztheit“ zwei Kapitel zur Beschreibung jener europäischen Stimmung verfaßt, die sich im Mikrokosmos eines Davoser Lungensanatoriums gleichsam gespiegelt hat. Dort heißt es:

Was gab es denn? was lag in der Luft? Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen Einzelnen und ganzen Gruppen, und das Kennzeichnende war, daß die Nichtbeteiligten, statt von dem Zustande der gerade Ergriffenen abgestoßen zu sein oder sich ins Mittel zu legen, vielmehr sympathetischen Anteil daran nahmen und sich dem Taumel innerlich ebenfalls überließen.

Mir scheint, die Gegenwart ist durch eine ähnliche „kollektive Stimmung“ in der westlichen Welt gekennzeichnet, und sie bildet einen Erklärungsrahmen für so unterschiedliche Phänomene wie den Aufstieg rechter und linker Parteien (beide im Zeichen von Antikapitalismus und dem Versuch, sich gegen die Globalisierung zu stemmen), den Brexit, oder auch den Aufstieg Donald Trumps zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten. Die politischen Institutionen Europas und der USA befinden sich in der wohl größten Vertrauenskrise seit dem 2. Weltkrieg, und das sei hier nicht verschwiegen: dieses Mißtrauen hat sich die Politik redlich erarbeitet. 

Gleichwohl scheint sich dieses Mißtrauen inzwischen in Teilen der Bevölkerungen zunehmend als Lust an der Zerstörung, als jenes „Hauptsache das alte kommt weg“ zu zeigen. In der Gegenöffentlichkeit im Internet, den sozialen Medien oder auch in den wenigen verbliebenen Diskussionsforen der Onlinemedien ist es kaum zu überlesen. Da wird etwa ein Wladimir Putin über den grünen Klee gelobt, weil er die „Eier“ habe, es "dem Westen mal so richtig zu zeigen". Das ist alles; inhaltliche Argumente folgen solchen Kommentaren in der Regel nicht. Solche Kommentare dokumentieren eine befremdliche Sehnsucht nach einem autoritären Aggressor. 

Ähnliches liest man über Donald Trump, der es dem „US-Establishment“ mal so richtig zeige. Das Bürgertum entpolitisiert sich in Teilen selbst und folgt Demagogen oder Politclowns. Die Sprache ist aufgeladen von Verachtung und Feindschaft gegenüber dem politischen Gegner und der Politik insgesamt. Meinungen werden polarisierend formuliert; die Welt unterteilt in Freund und Feind; die eigene Filterblase akribisch gepflegt.

Die Brexitentscheidung hat bei zahlreichen kontinentaleuropäischen Brexitbefürwortern Jubel evoziert, dessen Freude über das basisdemokratische Vorgehen mir in vielen Fällen vorgeschoben erschienen ist. Auch hier schien mir Schadenfreude, ja eine gewisse Lust an der Zerstörung in vielen Kommentaren zu überwiegen und Selbstzweck zu sein. Ist man der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie wirklich so überdrüssig? So wird die Gegenöffentlichkeit zu einer Dagegen-Öffentlichkeit, die sich nach dem großen Knall zu sehnen scheint, statt ihn zu fürchten. Der Zusammenbruch des Euro wird ebenso herbeigesehnt wie die Erosion der Europäischen Union, verbunden mit der naiven Idee, daß danach schon irgendwie alles besser werde.

Auch mir sind solche Affekte (z. B. mit Blick auf die EU oder den Euro) in der Vergangenheit nicht immer fremd gewesen; ich sehe sie jedoch spätestens seit dem britischen Referendum kritisch und als (zusätzliche) Gefahr für die westlichen Gesellschaften. Dies ist nicht zu verwechseln mit einem Appell zu einem "weiter so". Ich bin weit davon entfernt, z. B. das weitgehende Ignorieren von Recht und Verträgen im Zuge der Eurorettung zu legitimieren. Der "große Stumpfsinn" und die "große Gereiztheit" haben sozusagen gute Gründe. Ich halte aber die greifbar-virulente Idee, daß vor einer Erneuerung oder Veränderung zunächst einmal die Zerstörung stehen müsse, für hochgefährlich und für ein vielleicht zentrales Merkmal des Clark´schen Somnabulismus.

Andreas Döding

© Andreas Döding. Für Kommentare bitte hier klicken.