25. Juli 2016

Ein Mann kann eine Millionenstadt lahmlegen?

- Für die Toten in München -

Am Hauptbahnhof, am Stachus, am Marienplatz, am Isartor und vor der Abendzeitung hörten Menschen Schüsse, die gar nicht fielen. Es gab dort Verletzte, aber nur, weil Menschen panisch in Panik davonstürzten. Leute hörten auch den Ruf, den es nicht gab: „Allahu akbar!“

Herz und Hirn riefen „Panik akbar.“

­

Alle haben die Frage: Wie können wir unsere freiheitliche Lebensweise erhalten, wenn uns die Furcht vor dem IS schon so tief erfasst hat? Die Antwort ist in meinen Augen einfach: Deutsche, lernt von den Israelis, hier habt ihr ein Vorbild mit jahrzehntelangen Erfahrungen. Sucht die Nachrichten aus Israel und nicht das verquere Urteilen oder Verschweigen vieler Medien.

Ich frage nicht, was das für die amtsmäßige Besonnenheit der Politiker und der Polizei bedeutet, sondern frage von meiner Berufung her: Wenn ein einziger junger Amokläufer, wenn das Kranke oder das Böse in einem Einzigen eine Millionenstadt eine ganze Nacht lahmlegen kann, weil unsere Köpfe voll Angst vor dem IS sind, welche Chance haben dann die Guten dagegen, und wie viele davon müsste es in meiner Stadt München geben?

Mich bewegte die Formulierung dieser Frage bei Charles Péguy in seinem Mysterienspiel über Jeanne d‘Arc, mit dem er wohl den Toten im Ersten Weltkrieg eine Stimme geben wollte. Die Dreizehnjährige fragt: „Was hilft es schon, dass wir uns abmühn? … Für einen Verwundeten, den wir zufällig pflegen, für ein Kind, dem wir zu essen geben, schafft der unermüdliche Krieg Neue zu Hunderten und Tag für Tag… Um einen guten Christen hervorzubringen, musste der Pflug zwanzig Jahre lang arbeiten. Um einen Christen umzubringen, muss das Schwert eine Minute lang arbeiten… Darum werden wir immer die Schwächeren sein; wir werden stets langsamer bleiben… wir werden stets die Besiegten sein.“

Daneben muss man ihre Fragen stellen: „Wir sind gute Christen, du weißt, dass wir gute Christen sind [Ironisch in den kindlichen Mund gelegt]. Wie kommt es nur, dass so viele gute Christen keine gute Christenheit geben? Irgend etwas stimmt da nicht (Il faut qu’il y ait quelque chose qui ne marche pas)… Irgend etwas stimmt da nicht… Vielleicht braucht es noch etwas Anderes (Il faudrait peut-être autre chose), mein Gott, der du alles weißt! Du weißt, was uns fehlt. Wir brauchen vielleicht etwas Neues.“

Er dachte wohl an ein Politischwerden der Christen; dafür ist es heute viel zu spät, Europa ist postchristlich und pluralistisch. Wir müssen jetzt anders weiterfragen.

Was ist die Chance für die Liberalen, für die mutigen Guten, seien sie Humanisten oder Christen? Welche Macht haben sie denn? Sie liegt wohl nicht bei der großen Mehrheit. Einer allein ist allerdings erst recht aussichtslos, außer in seiner Dauerwirkung so wie der heilige Franziskus, oder wenn er ein Genie ist. Bestsellerautor reicht schon nicht mehr.

Es dürften kleine, müssten jedoch kräftige Gruppen sein. Die Juden haben damit seit 3,5 Jahrtausenden Einfluss ausgeübt. Auch die Gruppe in der Apostelgeschichte, die bis heute Millionen berührt, bestand aus Juden. Sie hat die römische Kaiseranbetung besiegt, bewegt noch heute Millionen in einer grässlich zersplitterten Christenheit und wird noch in 500 000 Jahren das Beste sein, das die gläubige Religionskritik hervorgebracht hat.

Die Wirkkraft besteht aus drei Komponenten:

1) Das Miteinander von Begabungen führt zu einem hohen geistigen Reichtum, der auffällt;

2) eine gewachsene und doch offene Form trägt durch die Zeiten, auch wenn die Vertreter mal holpern,

und 3), eine solche Gruppe wird von den Außenstehenden als halbes Wunder erfahren, weil man weiß, dass es so etwas bei den ‚Egoismen und Schwächen des Menschen ‚eigentlich nicht geben kann‘; daher entsteht aufgrund der Schaulust der Menschen ganz von alleine – ohne jede Missionierung – ein Hinschauen, Hinfahren und Abschauen, Lernen. [Für Kollegen: Ich habe es für die neue katholische Sozialtheologie die Gnade der Konkurrenzkraft genannt.]

Ich meine keinen Religionstourismus, sondern die Entwicklungshilfe, die wir Christen den Suchenden – und auch den Kirchensteuerzahlenden - zur Zeit schuldig bleiben.


(Die Péguy-Zitate sind aus: Das Mysterium der Erbarmung, Paris, Gallimard, dt. Wien 1954, 14f und 28f)

Ludwig Weimer

© Ludwig Weimer. Für Kommentare bitte hier klicken.