13. Juni 2014

Aus der Schwalbenperspektive (2): Sommermärchen®

Das Sommermärchen ist eine deutsche Erfindung. Während 2006 ein großer Teil sich endlich auf eine unpolitische Weise mit der deutschen Flagge und Hymne versöhnen durfte, fanden andere das aufgeladen mit der Stimmung von Nationalsozialismus und deutscher Leitkultur. Dass das Sommermärchen im Halbfinale gegen Italien ein jähes Ende nahm, ist nebensächlich, denn Fußballbegeisterung ist in Deutschland eine politisch-moralische Frage. 

Der Vergleich mit 2006 drängt sich deshalb auf, weil jetzt - im Vorfeld der WM - das überwältigende Medieninteresse der innerbrasilianischen Diskussion um die WM gilt, die in teils heftige Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Demonstranten und den wohl recht kompromisslos agierenden Sicherheitskräften eskaliert sind. Auch über die Einnahmen der FIFA und ihrer Funktionäre wird mindestens so viel berichtet wie über die Formkurven der teilnehmenden Mannschaften. 

Denn als Erfinder und alleiniger Copyrightinhaber von "Sommermärchen®" hat Deutschland nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, der brasilianischen Politik, der FIFA und der Weltöffentlichkeit zu erklären, wie das so geht mit einer WM. Und bei Markenverletzung gibt es - eine Abmahnung.

Neben den Medien wie ZEIT und taz, für die Sportberichterstattung sowieso nur eine Blaupause für politische Aussagen ist, sind gerade die demokratieabgabenfinanzierten Öffentlich-Rechtlichen in vorderster Front dabei, das Großereignis aus der Sicht der brasilianischen Wutbürger zu schildern, ja geradezu zu inszenieren. Gerade das ist recht absurd, weil die der Organisation, die sie als korrupt und ausbeuterisch schildern, vorher geschätzt 180 Millionen Euro Gebührengelder in den nimmersatten Rachen geschleudert haben.

Das Narrativ lautet: Brasilien steckt gegen den Willen der Bürger Unsummen in die WM und hat deshalb kein Geld mehr für Bildung und Soziales. Indianer (für die südlich des Äquators lebenden scheint der Begriff wohl politisch korrekt zu sein) und Favela-Bewohner werden für sündteure Stadienbauten umgesiedelt und die protestierende Mehrheit, die ihre eigentlich genetisch angelegte Fußballbegeisterung aufgrund des schreienden Unrechts völlig verloren hat, wird von einem entfesselten Polizeistaat niedergeknüppelt. 

Ein exemplarisches Beispiel ist der "Briefwechsel" zwischen Harald Martenstein (Pro) und Sabine Rückert (Contra) in der gedruckten ZEIT von heute. Kostprobe:
Sie reden wie ein begeisterter Fleischesser, der die Augen fest vor der Frage verschließt (oder verschließen will), auf welche Weise die Schweinshaxe auf seinen Teller gekommen ist. Wer seine Zähne lustvoll in ein Eisbein schlagen möchte, darf nicht an die Qual und Not der Schweine denken, nicht an Tiertransporte und Massenhaltung. Er muss ausblenden, dass sein Genuss sich aus der Not anderer Lebewesen speist. Andernfalls bliebe ihm der Bissen im Halse stecken. (...)  Sie, lieber Martenstein, kommen mir vor wie ein Fußballfundamentalist. Wahrscheinlich wären Sie auch in der Ära der Borgia-Päpste ein frommer Sohn der katholischen Kirche geblieben. Sie hätten wohl gesagt: »Shit happens. Trotzdem ist Gott doch eine sehr einfache, aber gute Idee. Jedes vierjährige Kind begreift sie.« Lieber Martenstein, nun doch noch was Versöhnliches zum Abschied: Mich rührt es, dass Sie den Fußball so schön finden. Richtig ist aber auch: Beim Fußball ist es besonders leicht, dessen Schattenseiten wegzuschwindeln. In meinen Augen lässt sich eine Idee – und mag sie noch so gut sein – nicht ganz von ihrer Ausführung rennen. Man kann nicht den Kommunismus gut finden und vor lauter Begeisterung Stalin vergessen. Oder denken Sie an Google: Der Konzern, der uns heute Angst einjagt, hat auch mal mit einer wunderbaren und für alle einleuchtenden Idee angefangen. Schon mancher gute Gedanke ging bei seiner Realisierung zugrunde. Fußball ist im Moment kontaminiert von denen, die ihn als Alibi verwenden.
Ich will die Probleme um die WM gar nicht schönreden, und die WM-Gegner haben sicher mehr Gründe zum Unmut als beispielsweise die Olympiagegner, die ihr beschauliches Garmisch auch schon zu einer Art Favela verkommen sehen, falls es noch einmal Austragungsort der Winterspiele wird. Was mich ärgert, ist eine überhebliche, einseitige Berichterstattung, die unter dem Vorwand sozialer Empathie nichts anderes bezweckt, als die Brasilianer in eine Opferrolle zu drängen und den deutschen Fußballfans ein schlechtes Gewissen zu bereiten.

Dass Brasilien, ein Industrieland mit einem jährlichen Staatshaushalt von über 800 Milliarden USD, eine WM mit aktuell 12 Mrd. Investitionen durchaus stemmen kann, wird ausgeblendet. Genauso abwegig erscheint der Gedanke, dass neben den Protesten auch so etwas wie Stolz auf diese Leistung entstehen könnte. Ganz sicher ist aber, dass den Brasilianern diese Bevormundung mindestens so sehr auf den Wecker geht wie die Selbstbereicherung der FIFA. 
It’s as if they were both expecting a classical pianist and all they got was a punk rocker who knows only three-chord songs. Well, if they wanted punctuality, maybe they should have chosen the Germans or the Swiss to host their events. We Brazilians are slightly different. (...) So FIFA and the I.O.C. can scold all they like: We still won’t be finished until the last minute. And when it is finally done, there will be budget overruns and even a few workplace accidents. (...) We’ll do it our way. There’s no use giving us a time out. There’s no use calling Uncle Sam, either; he wants nothing more to do with this crazy family. 
Dieses Zitat entstammt einem großartigen Artikel einer brasilianischen Journalistin. Er zeigt, dass in der brasilianischen Debatte, so hitzig sie auch sein mag, nie ein so ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Bild gezeigt wird wie in den deutschen Medien. Und wenn ihre Landsfrau in der ZEIT folgendes schreibt, dann weiß sie garantiert warum:
Eigentlich haben wir Brasilianer überhaupt nichts gegen die WM. Wir haben nicht einmal etwas gegen die hohen Kosten der Stadien, weil wir sie problemlos bezahlen können, wir sind ja neuerdings ein reiches Land. Nein, uns beunruhigt das unbarmherzige Flutlicht, das die WM in den kommenden Wochen auf uns richten wird, der Blick der Welt auf unsere Schande, weil wir so viele Dinge notdürftig kaschiert haben. Man wird sehen, dass wir eigentlich doch kein ausreichend ehrgeiziges Modernisierungsprojekt haben, das die Missstände in Bildungs- und Gesundheitswesen beseitigen, die Korruption eindämmen und den Ausgleich zwischen Arm und Reich schaffen könnte. "Die Fifa warnt: Brasilien ist nicht Deutschland!", stand zum Wochenende auf der Titelseite der Tageszeitung O Globo. Das war eine dämliche Überschrift, aber solche Dinge treffen uns ins Herz. Wir haben Angst vor der WM. Sie wird ein Bild von uns zeigen, das wir nicht mögen. Deshalb wollen so viele Brasilianer in diesen Tagen nichts von der WM wissen. "Imagina na Copa?" Lieber nicht!
Diese Gleichzeitigkeit von Stolz und Selbstkritik, von Wut und Begeisterung, von glühendem Hass auf die WM und noch glühenderem Verlangen, sie zu gewinnen finde ich faszinierend. Traurig ist es, dass sie den deutschen Medien, die Vorlage gibt, die ewige Leier vom gespaltenen Land abzuspielen. Dieses Land braucht Hilfe. Von der Politik.
 
Fragen wir also jemanden, der sich damit auskennt. Der Bundesentwicklungsminister, von dessen Äußerung wir vermutlich nur erfahren, da sie den deutschen Onlineredaktionen die unbezahlbare Headline "Gerd Müller boykottiert Fußball-WM in Brasilien" beschert hat, und der doch gerade vor diesem Hintergrund vor Ort wichtige Aufgaben verfolgen müsste, kann eine Reise nach Brasilien nicht mit seinem Gewissen vereinbaren und beschränkt sich daher auf wohlmeinende Ratschläge:
"Ich befürchte ein ähnliches Desaster wie in Südafrika: Milliardeninvestitionen verkommen zu Ruinen, und daneben darbt die Bevölkerung im Elend." (…) Brasilien, wo die WM vom 12. Juni bis zum 13. Juli stattfindet, stehe für 'Straßenfußball'. Nicht aber für eine solche "Art von Großereignissen", von denen "ein Großteil der Bevölkerung überhaupt nichts" habe. "Das schmerzt mich und tut weh." (…) Er fürchte, "dass die WM kein Sommermärchen wird". Brasilien habe bei der Planung "offenbar jedes Maß und jede Vernunft verloren". Mitverantwortlich sei der Weltfußballverband Fifa. Die müsse "soziale und ökologische Standards berücksichtigen und einfordern, die auch eine spätere Nutzung einbeziehen".
Ein Sommermärchen® kann halt nicht jeder. Die Brasilianer und Südafrikaner sollen weiter in den Favelas und Townships mit Blechdosen kicken und die "Großereignisse" denen überlassen, die was von Organisation, Sozialstaat und Ökologie verstehen. 

Statt dessen sprechen sich deutsche Politiker dafür aus, dass Brasilien den Titel gewinnen soll. Nicht nur Thomas de Maizère, als für den Sport zuständiger Bundesinnenminister sozusagen oberster Dienstherr von Jogis Buben, auch Bundesaußenminister Steinmeier tippen auf SPON darauf. Und natürlich die unvermeidliche Claudia Roth, die auch eine Begründung liefert. Nämlich als soziale Ausgleichsmaßnahme:
Die Brasilianer spielen um ihr Leben. Sie haben den Sieg bitterer nötig als sonst jemand. Die Lage im Land ist sehr beunruhigend. Sollte die Mannschaft verlieren, dann wird es sehr viel Aufruhr geben, vom Fest bleibt dann nicht mehr viel.

Zum Glück sah der Schiedsrichter das im Eröffnungsspiel auch so und belohnte eine eindeutige Schwalbe eines Brasilianers mit einem spielentscheidenden Elfmeter. Das anschließende Tor von Justin Bieber Neymar bejubelten die Protestler genau so wie die WM-Begeisterten auf der Fanmeile.

Aber halt! Nicht dass dieses unorganisierte Ausbeuterspektakel am Ende noch zu einem ausgewachsenen Sommermärchenplagiat ausartet. Davor warnt ein Professor aus Regensburg:
In hundert Tagen wird sich zeigen, ob fußballerische Schönheit obsiegt – oder ob der lautstarke Protest gegen die brasilianische Misere die Schlagzeilen beherrscht. Gut möglich, dass der Fußball als Opium des Volkes in Brasilien nur den kleinen Rausch erlaubt.
Gut möglich. Der große Rausch befällt schließlich die selbstgerechten deutschen Kommentatoren.

Meister Petz

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