16. Januar 2013

Zettels Meckerecke: Mißbrauchte Sprachwissenschaft. Das "Unwort des Jahres" ist ein Ärgernis

"Sprachwissenschaft - 'Opfer-Abo' ist Unwort des Jahres" titelt derzeit "Zeit-Online". Kannten Sie dieses Wort bis heute? Ich nicht. Fast alle Deutsch­sprechenden kannten es nicht. Es ist kein Wort der deutschen Sprache; es war das bis 2012 nicht und ist es auch nicht im Jahr 2012 geworden. Es ist ein sogenannter Neologismus, eine Sprachneuschöpfung.

Ein sprachlicher Schnörkel, der jemandem einmal eingefallen ist. Manchmal setzen sich solche Neologismen durch und werden tatsächlich Bestandteil der Sprache. Aber nicht alles, was jemand irgendwann einmal als Neologismus verwendet hat, gehört deshalb schon zur deutschen Sprache. Es gehört erst dann dazu, wenn es von anderen aufgegriffen wird, sich ausbreitet, wenn sein Gebrauch in einem bestimmten Sprachraum nachweisbar ist.

In diesem Fall fiel Jörg Kachelmann diese Wortneuschöpfung in einem "Spiegel"-Gespräch mit ihm und seiner Frau Miriam ein:
SPIEGEL: Es ist doch sinnvoll, sich und sein Tun mitunter zu hinterfragen.

Miriam Kachelmann: Natürlich. Aber man muss doch die Verhältnismäßigkeit sehen. Diese Frau hat versucht, Jörg mit falschen Beschuldigungen zu vernichten.

Jörg Kachelmann: Das ist das Opfer-Abo, das Frauen haben. Frauen sind immer Opfer, selbst wenn sie Täterinnen wurden. Menschen können aber auch genuin böse sein, auch wenn sie weiblich sind.
Kachelmann hat den Neologismus "Opfer-Abo" aus zwei Wörtern zusammengefügt, um auf griffige Weise das zu etikettieren, was er im nächsten Satz behauptet.

Man kann darüber streiten, ob das zutrifft, was er behauptet. Aber was in aller Welt ist daran zu beanstanden, daß er seine Meinung in dieser Wortneuschöpfung zusammengefaßt hat?

Was geht dieser Neologismus, der einmal ausgesprochen wurde und danach schnell wieder verweht war, diejenigen an, die sich von Berufs wegen mit dem zu befassen haben, was zur gesprochenen, zur geschriebenen deutschen Sprache gehört?

Wenn diese Wahl und ihre Verkündung eine Wirkung haben, dann diejenige, das überhaupt erst zu schaffen, was kritisiert wird: Von heute an gehört dieses Wort in der Tat zur deutschen Sprache.

Bis zur Verkündung des "Unworts des Jahres" kam das Wort in der deutschen Sprache nicht vor. Googelt man nach "opfer abo -unwort", dann findet man ausschließlich Berichte und Kommentare zu dem Kachelmann-Interview. Nur Kachelmann hat es ein einziges Mal verwendet und diejenigen, die ihn zitieren.

Den Mitgliedern der selbsternannten Jury - von niemanden gewählt oder ernannt, durch nichts legitimiert, als "Jury" keiner Institution angehörig; eine private Gruppe - gefällt das politisch nicht, was Kachelmann gesagt hat.

Das ist ihr gutes Recht. Mögen sie es also politisch kritisieren. Das als Sprachwissenschaft auszugeben ist ein Mißbrauch der Sprachwissenschaft. Es ist der Versuch, der politischen Meinung der "Juroren" Geltung zu verschaffen und dabei die Autorität mißbräuchlich einzusetzen, die sie als Wissenschaftler genießen.



Auch in früheren Jahren habe ich mich schon mit diesem Unfug des Unworts befaßt und dort auch darauf aufmerksam gemacht, wie diese "Jury" immer wieder zu Unrecht mit der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) und deren Wahl des Worts des Jahres in Zusammenhang gebracht wird.

Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun; weder institutionell noch inhaltlich.

Das Wort des Jahres wird nach sprachwissenschaftlichen Kriterien ausgewählt ("Wörter und Ausdrücke, die die öffentliche Diskussion des betreffenden Jahres besonders bestimmt haben, die für wichtige Themen stehen oder sonst als charakteristisch erscheinen (»verbale Leitfossilien« eines Jahres)"). Das Unwort des Jahres hingegen hat mit Sprachwissenschaft nichts zu tun und dient allein als Mittel politischer Agitation.

Siehe:
Das "Unwort des Jahres" - politische Agitation unter dem Deckmantel der Sprachkritik. Nun gut - hier sind meine drei Unwörter des Jahres 2009; ZR vom 18. 1. 2010

Zettels Meckerecke: "Betriebsratsverseucht". Die skandalöse Entscheidung einer selbsternannten Jury; ZR vom 20. 1. 2010

Zettels Meckerecke: "Döner-Morde". Der Unfug des Unworts. Und Prantl hebt den Zeigefinger, sich mit der anderen Hand an die Brust klopfend; ZR vom 8.1.12
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette gemeinfrei.