20. Januar 2010

Zettels Meckerecke: "Betriebsratsverseucht". Die skandalöse Entscheidung einer selbsternannten Jury

Damit hatte ich nicht gerechnet, daß ich bereits zwei Tage nach meinem Artikel vom Montag zum "Unwort des Jahres" einen weiteren Beitrag zu diesem Thema schreiben würde.

Aber ich hatte ja auch nicht mit dem gestrigen Skandal gerechnet; nur mit der üblichen Politisierung der Entscheidungen jener selbsternannten Jury, die sich aus vier ständigen Mitgliedern (gegenwärtig den Germanisten Margot Heinemann, Nina Janich, Horst Dieter Schlosser und Martin Wengeler) und jährlich wechselnden kooptierten Mitgliedern (für 2009 der Journalist der "Frankfurter Rundschau" Stephan Hebel und der Jesuit und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach) zusammensetzt.

Denn was ist geschehen? Die selbsternannte Jury hat, Sie wissen es, das Wort "betriebsratsverseucht" zum "Unwort des Jahres" gekürt. Die Begründung konnten Sie gestern beispielsweise bei "FAZ.Net" lesen:
19. Januar 2010 Das Unwort das Jahres 2009 heißt "betriebsratsverseucht". Der Sieger wurde aus 982 Vorschlägen ausgewählt, teilte die Jury um Sprachwissenschaftler Horst Dieter Schlosser am Dienstag in Frankfurt am Main mit. Die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen störe zwar viele Unternehmen, sie als Seuche zu bezeichnen sei indes "ein sprachlicher Tiefpunkt im Umgang mit Lohnabhängigen", sagte Schlosser zur Begründung. Die Formulierung war in der ARD-Sendung "Monitor" im Mai von dem Mitarbeiter einer Baumarktkette gebraucht worden. Darin berichtete der Mitarbeiter, der Begriff werde von Abteilungsleitern benutzt, wenn ein Mitarbeiter zwischen einer Filiale mit Betriebsrat und einer ohne Betriebsrat wechseln wolle.
Lesen wir das genau. Die Formulierung war "von dem Mitarbeiter einer Baumarktkette gebraucht worden". Aber dieser Mitarbeiter "gebrauchte" sie keineswegs als seine eigene Aussage, sondern - so erfahren wir es im nächsten Satz - er zitierte diesen Begriff lediglich. Er "werde von Abteilungsleitern benutzt, wenn ein Mitarbeiter zwischen einer Filiale mit Betriebsrat und einer ohne Betriebsrat wechseln wolle", behaupten laut der Meldung die Mitglieder der Jury.

Es handelt sich also um eine Zeugenaussage. Daß jemals Abteilungsleiter diesen Begriff gebraucht haben, ist nicht für diese selbst dokumentiert, sondern ein anderer Mitarbeiter benutzte das Wort, als er sich an eine Betriebsversammlung erinnerte.

Germanisten, die doch auf Quellenkritik trainiert sind, sollten da eigentlich hellhörig werden. Man hätte erwarten können, daß sie zumindest die Quelle, die ihnen das "Unwort des Jahres 2009" geliefert hat, kritisch in Augenschein nahmen.



Diese Quelle ist die Ausgabe der WDR-Sendung "Monitor" vom 14. 5. 2009. Sie ist als Video und als Transkript verfügbar.

Sehen Sie sich bitte, wenn Sie die Zeit erübrigen können, das Video ab 5:17 an. Sie werden dann feststellen, daß der Zeuge nicht nur anonym ist, sondern daß er noch nicht einmal selbst, wenn auch verdeckt und mit verfremdeter Stimme, zu Wort kommt. Es wird vielmehr ein Text verlesen, mit der Information im TV-Bild: "Szene nachgestellt". Zu hören ist ein Sprecher des WDR.

Das ist wichtig, denn der nachgesprochen Text lautet so:
Verschiedene Redner, insbesondere Abteilungsleiter, kamen dann zur Sache. Betriebsrat. Wir brauchen keinen Betriebsrat, wir können alles selbst klären. Betriebsrat kostet nur Geld, was wir für anderes gebrauchen könnten, zum Beispiel Lohnerhöhungen. Und möchte ein Kollege in eine andere Niederlassung versetzt werden, würde ihn niemand mehr nehmen, da er betriebsratsverseucht ist.
Aus dem Zitat - wenn wir einmal voraussetzen, daß es den anonymen Zeugen gibt und daß seine Aussage wörtlich nachgesprochen wurde - geht überhaupt nicht hervor, was die eigenen Worte des Zeugen und was wörtliche Zitate sind. Es ist nicht ersichtlich, daß er überhaupt irgendwo wörtlich zitiert. Es scheint vielmehr, daß er das, woran er sich zu erinnern meint, auf seine eigene Art paraphrasiert.

Das gilt auch für das Wort "betriebsratsverseucht". Der Zeuge schreibt es weder "Abteilungsleitern" zu, noch einem einzelnen Abteilungsleiter, noch überhaupt irgend jemandem Bestimmten. Er beginnt ja seine Aussage mit "Verschiedene Redner, insbesondere Abteilungsleiter, kamen dann zur Sache". Ob einer dieser Redner - ein Abteilungsleiter oder sonstwer - das ominöse Wort "betriebsratsverseucht" benutzt hat, geht aus der Aussage nicht hervor.

Wahrscheinlich ist das eher nicht, denn es gibt in dem Text - Germanisten sollten das eigentlich merken - keinen Anhaltspunkt für ein wörtliches Zitat an irgendeiner Stelle. Der Zeuge schildert das, woran er sich erinnert, mit eigenen Worten. "Betriebsratsverseucht" mag ihm als eine griffige Zusammenfassung des Eindrucks eingefallen sein, den er von den einschlägigen Äußerungen des einen oder anderen Sprechers auf dieser Betriebsversammlung hatte. Er sagt folglich nicht "würde ihn niemand mehr nehmen, da er betriebsratsverseucht sei", sondern "würde ihn niemand mehr nehmen, da er betriebsratsverseucht ist".

Das ist die Folgerung, die man vernünftigerweise aus dem Transkript der Sendung ziehen sollte. Hört man sich freilich an, wie die Passage vom WDR-Sprecher nachgesprochen wird (ab 5:50 auf dem Video), dann entsteht ein anderer Eindruck: Der Sprecher betont das Wort "betriebsratsverseucht" so, als sei es ein wörtliches Zitat. So kennen wir die Sendung "Monitor".



Mit dem Wort "Skandal" sollte man vorsichtig sein. Wenn aber sechs Juroren, darunter vier Fachleute für germanistische Linguistik, allein auf der Basis einer derart wackligen Quellenlage eine Entscheidung treffen, von der sie wissen, welchen Widerhall sie finden würde (im Augenblick liefert Google zu "betriebsratsverseucht" 23.000 Fundstellen; alle zurückgehend auf diese einzige Quelle), dann ist das skandalös.

Es ist nicht nur - wie fast durchweg die Entscheidung für das "Unwort des Jahres" - der Versuch, unter dem Deckmantel der Sprachwissenschaft linke Politik zu machen; sondern in diesem Jahr wird dieser Versuch auch noch aufgrund einer derart unkritischen Haltung zu der einzigen Quelle unternommen, daß sich dafür jeder Wissenschaftler schämen sollte.



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