26. Januar 2010

"Die Staatssicherheit hat eine legitime und notwendige Rolle gehabt". Über die DDR, wie die RAF-Terroristin Inge Viett sie sieht

Die Terroristen der RAF waren Kommunisten. Sie waren nicht freischwebende Weltverbesserer oder gar Anarchisten, sondern jedenfalls ihre führenden Köpfe waren orthodoxe Marxisten- Leninisten, die mit der SED und der DKP lediglich die taktische Differenz hatten, daß sie in den siebziger Jahren die Zeit für den bewaffneten Aufstand bereits für gekommen hielten.

Ich habe darüber kürzlich im Zusammenhang mit der Kooperation zwischen dem RAF-Mörder Karl-Heinz Dellwo und der kommunistischen Tageszeitung "Junge Welt" berichtet (Karl-Heinz Dellwo, das "1000. Mitglied" der "LPG junge Welt". Ist das der RAF-Mörder Dellwo?; ZR vom 23. 1. 2010). Jetzt gibt es einen Anlaß, noch einmal auf dieses Thema zu kommen: Die "Junge Welt" druckt heute einen Text der RAF-Terroristin Inge Viett ab. Überschrift: "Was war die DDR?".

Viett war zunächst bei der "Bewegung 2. Juni" und trat nach deren Auflösung der RAF bei. Im Oktober 1981 schoß sie in Paris auf den Polizisten Francis Violleau und verletzte ihn schwer. Man muß sich die Umstände und Folgen dieser Tat vor Augen führen, um ein Bild von Inge Viett zu bekommen. Im "Spiegel" 37/1997 hat Bruno Schrep den Ablauf detailliert geschildert. Auf ihn stütze ich mich im folgenden hauptsächlich:

Francis Violleau war Verkehrspolizist. Am 4. August 1981 tat er im 6. Arrondissement Dienst; am linken Seineufer - dort, wo einmal Sartre und seine Existenzialisten residiert hatten. Die Südgrenze dieses Bezirks markiert der Boulevard Montparnasse, und an ihm liegt der Place du 18 juin 1940; benannt nach dem Tag, an dem Charles de Gaulle von London aus seine erste Rede an die Franzosen hielt.

Auf diesem Platz war Inge Viett mit ihrem Motorrad unterwegs. Violleau sah, daß sie keinen Helm trug. Dann überfuhr sie auch noch eine Ampel, die auf Rot stand. Auf ein Pfeifsignal des Polizisten reagierte Viett nicht; darauf fuhr er ihr auf seinem Motorrad hinterher.

Es entwickelte sich eine Verfolgung, die in einer Sackgasse endet. Viett zog eine Pistole und schoß den Polizisten aus vier Metern Entfernung nieder. Schrep:
Das Projektil trifft Violleau in den Hals, durchschlägt die Wirbelsäule in Schulterhöhe. Der Polizist wird sofort bewegungsunfähig. Die Terroristin kann fliehen.

"Wann darf ich endlich aufstehen?" fragt der Verletzte nach ein paar Wochen. Ein Krankenhausarzt nimmt Yolaine Violleau beiseite: "Sie müssen es ihm sagen."

Die Kinder, zwei Söhne von neun und zehn Jahren sowie eine kleine Tochter, können nicht akzeptieren, daß ihr Vater für immer gelähmt bleibt. "Mutter, das stimmt nicht!"

Nach Besuchen in der Rehaklinik, in der Violleau fast zwei Jahre lang liegt, sind die Kinder oft tagelang verstört. "Das ist nicht wie bei einem Todesfall, wo es einen klaren, sauberen Schnitt gibt", schildert die Ehefrau die Situation. "Bei uns lebt der Vater, ist aber nicht da."
Die Frau nahm Violleau dann wieder nach Hause und versucht ihn zu pflegen. Nachts mußte sie jede Stunde aufstehen, weil er nach ihr rief oder gedreht werden mußte. Nach drei Monaten wurde Yolaine Violleau mit Depressionen in eine Klinik eingeliefert.

Danach lebte Francis Violleau, vom siebten Halswirbel abwärts gelähmt,im "Foyer de l'Hospitalet", einem Heim für Schwerstbehinderte an der Loire. Im Jahr 2000 starb er im Alter von 54 Jahren an den Folgen seiner Verletzung.

Und wie hat Inge Viett diese Tat und ihre sonstigen Verbrechen verarbeitet? Dazu schrieb am 31. 10. 2007 Julian Schütt in der "Weltwoche":
Sie tingelt durch deutschsprachige Gegenden und verteidigt wie eh und je die "revolutionäre Gewalt". Ihre Taten bereut sie nicht. Stattdessen fragt sie sich in ihren Schriften, wieso nach 1968 nur so wenige zu den Waffen gegriffen haben. Ihr zufolge müsste wieder "von vorn mit dem ­Suchen nach ­adäquaten Strategien" begonnen werden, um dem imperialistisch- kapitalistischen System "beizukommen".


Nachdem es vorerst nichts damit geworden war, dem System mit den Methoden des politischen Verbrechens beizukommen, setzte sich Viett 1982 mit Hilfe des MfS in die DDR ab, wo sie von der Stasi zweimal eine neue Identität erhielt.

Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus wurde sie verhaftet und 1992 wegen des Tötungsversuchs an dem Polizisten Violleau zu dreizehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Aber bereits 1997 war sie wieder frei. Jetzt bezeichnet sie sich als "Schriftstellerin".

Der Text, den man heute in der "Jungen Welt" lesen kann, ist die schriftliche Version eines Vortrags, den Viett am 17. Januar auf einer Veranstaltung der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" gehalten hat; einer Gruppe, die laut Verfassungsschutzbericht "für die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaftsordnung" eintritt.

Viett beginnt mit ihrer Sicht des MfS. Die "besonderen Umstände meiner Übersiedlung als illegale Westdeutsche und international gesuchte Person" hätten sie "von vornherein mit dem staatlichen Sicherheitsapparat in Beziehung gesetzt". Nett formuliert. Das Ministerium für Staatssicherheit beurteilt Viett so:
Die DDR-Staatssicherheit hat nach meinem Verständnis von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen eine grundsätzlich legitime und notwendige Rolle gehabt. (...) Ihre Arbeit gegen den sogenannten inneren Feind war weit von flächendeckender Überwachung entfernt. Nicht zu vergleichen mit den subtilen und umfassenden Überwachungs-, Kontroll- und Foltersystemen kapitalistischer Demokratien und Diktaturen.
Die reine Idylle also. Wie überhaupt die ganze DDR aus Vietts Perspektive eine wunderbare Welt war:
Die Planung und Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts wurde nach den gesellschaftlichen Erfordernissen und nicht nach den Profitinteressen einer besitzenden Klasse durchgeführt. (...) Wer ... von einer Mangelwirtschaft in der DDR spricht, hat sich in der Welt nicht umgesehen und mißt mit der kapitalistischen Elle des Überflusses und der Verschwendung ...

Der Grundstein für die Entwicklung hin zu einer kommunistischen Gesellschaft war in der DDR also gelegt. Wie schön, wenn wir da erst mal wieder wären.
Ja, wie schön wäre es, wenn wir die paradiesischen Zustände hätten, die Viett weiter so schildert:
Ein hervorragendes Arbeitsrecht und eine komplexe Sozialgesetzgebung, einschließlich Gesundheits- versorgung und Erholungswesen, sicherten die Grundbedürfnisse der Bevölkerung auf hohem Niveau. Das sozialistische Bildungs- und Kulturwesen hat ganz allgemein eine gesamtgesellschaftliche, humanistische Grundhaltung begünstigt.
Wie kommt es nun aber, daß so viele Menschen einfach nicht erkennen wollen, was für ein wunderbarer Staat die DDR gewesen ist? Auch dafür hat Inge Viett eine Erklärung:
In der tiefen Krise organisiert sich die BRD-Elite auf allen Ebenen eine Geschichtspropaganda, die ihresgleichen nur im Faschismus kennt. Eine ausgehöhlte bürgerliche Demokratie baut sich ein Monstrum "Unrechtsstaat DDR", damit ihr eigenes im Verfall begriffenes System dagegen immer noch schick aussieht. Damit sich Krieg, Repression, Armut, Überwachung, geistiges und kulturelles Elend und eine diktatorische Profitökonomie hinter diesem konstruierten Monster verstecken können.


Als nach dem Ende der DDR publik wurde, daß Viett und GenossInnen ihre Zuflucht in der DDR gefunden hatten, haben sich viele gefragt, wie das denn zusammenpassen konnte - diese "anarchistischen" Revoluzzer, die man sich als eine Mischung aus Robin Hoood und dem "Kesselheizer der Revolution" Max Hölz vorstellte, und die dröge, bürokratisierte DDR, dieses Muster an kleinbürgerlicher Langeweile.

Wer das fragte, der hatte das Wesen der RAF völlig verkannt. Sie wollte Verhältnisse wie in der DDR herbeibomben.

Das verstand man damals in der Bundesrepublik nicht, wo nicht einmal bekannt war, daß Ulrike Meinhof bis zu ihrem Tod Mitglied der KPD bzw. der DKP war. Das MfS hatte es hingegen sofort verstanden.

Es half der RAF ja nicht nur damit, daß man Kadern nach ihrer Kampfzeit Aufnahme gewährte. Sondern ohne die ständige Unterstützung durch das MfS, beispielsweise die vom MfS organisierten Schleusungen von RAF-Mitgliedern über den Flughafen Schönefeld, hätte die RAF ihren "Kampf" kaum führen können.

Wenn Inge Viett jetzt ihre Begeisterung für die DDR zu Protokoll gibt, dann braucht sie dafür nichts von der Ideologie aufzugeben, die sie einst in den "bewaffneten Kampf" geführt hatte. Zu Recht macht sie in ihrem Vortrag darauf aufmerksam, daß die DDR ohne das Instrument des Zwangs nicht entstanden wäre:
Wenn wir uns heute die damaligen materiellen Bedingungen vergegenwärtigen, (...) dann scheint mir der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ein gigantischer Kraftakt gegen die objektiven Bedingungen gewesen zu sein. In diesem Kraftakt war auch der politische Zwang ein unbedingt notwendiges Instrument.


© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Fahndungsplakat aus dem Jahr 1972 mit Fotos von Mitgliedern der "ersten Generation" der RAF-Terroristen. Inge Viett gehörte der "zweiten Generation" an.