17. Mai 2012

Frankreichs Wahljahr 2012 (11): Die Regierung ist ernannt, noch bevor die Nationalversammlung gewählt wurde. Das neue, sozialistische Frankreich

Aus deutscher Sicht ist das höchst seltsam: Das neue Parlament ist noch gar nicht gewählt, aber es gibt bereits die neue Regierung. Gewählt wird am 10. und 17. Juni. Seine Regierung hat Staatspräsident Hollande gestern vorgestellt.

In dieser Umkehrung der zeitlichen Reihenfolge, die man in einer parlamentarischen Demokratie sonst erwartet - der Reihenfolge, die für uns in Deutschland nachgerade selbstverständlich ist -, drückt sich der Umstand aus, daß Frankreichs Fünfte Republik eben keine parlamentarische Demokratie ist, sondern eine Präsidial­demokratie. Der Premierminister wird nicht vom Parlament gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt.

In der Verfassung heißt es lapidar (Artikel 8):
Le Président de la République nomme le Premier ministre. Il met fin à ses fonctions sur la présentation par celui-ci de la démission du Gouvernement. Sur la proposition du Premier ministre, il nomme les autres membres du Gouvernement et met fin à leurs fonctions.

Der Präsident der Republik ernennt den Premierminister. Er entläßt ihn, nachdem dieser den Rücktritt seiner Regierung eingereicht hat. Auf Vorschlag des Premier­ministers ernennt er die anderen Mitglieder der Regierung und entläßt sie.
Die Nationalversammlung kommt hier überhaupt nicht vor. Sie hat auf die Zusammensetzung der Regierung keinen Einfluß, sondern nur auf deren Fortbestand. Ihr einziges Recht in Bezug auf die Regierung ist in Artikel 50 der Verfassung geregelt: Wenn die Nationalversammlung der Regierung das Mißtrauen ausspricht oder ihr Programm oder ihre allgemeinen Erklärungen formal mißbilligt, dann ist der Premierminister verpflichtet, den Rücktritt seiner Regierung einzureichen.

Auch von sich aus kann ein Premierminister den Rücktritt seiner Regierung erklären. Das geschieht regelmäßig und bedeutet keineswegs sein Scheitern; oft findet eine solche Demission des gesamten Kabinetts lediglich statt, um eine Kabinettsumbildung zu ermöglichen (siehe Ende der Regierung Fillon? Nicht unbedingt. Anmerkungen zur Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Fünften Republik; ZR vom 14. 11. 2010).

Aber nun ist erst einmal ein Kabinett gebildet. Wie sieht es aus?



Der neue Premierminister, Jean-Marc Ayrault, ist in Deutschland bisher kaum bekannt. Umso besser kennt er selbst Deutschland; er war, bevor er Berufspolitiker wurde, Studienrat für Deutsch und hat ein Semester in Würzburg studiert.

Wenn er auch international bisher wenig hervorgetreten ist, so ist Ayrault doch in Frankreich seit Jahrzehnten einer der wichtigsten Politiker. Er wurde 1997 Fraktionsvorsitzender der Sozialisten in der Nationalversammlung und ist seither immer wieder in diese Funktion gewählt worden.

Er war also zehn Jahre lang - seit 2002 die Kohabitation endete und erst Chirac und dann Sarkozy mit einer Mehrheit der Rechten regierten - der Oppositionsführer Frankreichs. Daß man dennoch so wenig von ihm gehört hat, wirft ein Schlaglicht auf die Bedeutung der Nationalversammlung, was die internationale Politik angeht.

Ayrault ist typisch für einen Teil der Führungsschicht der französischen Sozialisten. Die Spitzenleute stammen meist entweder aus dem Bürgertum und haben eine Elite-Universität absolviert; wie François Hollande und die Präsidentschaftskandidatin von 2007, Ségolène Royal. Oder sie kommen aus kleinen Verhältnissen und haben sich über die Partei hochgearbeitet.

Zu dieser zweiten Gruppe gehört Ayrault. Sein Vater war erst Land- und dann Fabrikarbeiter, seine Mutter Schneiderin. Dies war ein fromm katholisches Elternhaus. Ayrault begann seine politische Karriere in der Christlichen Landjugend, die damals (in den Jahren vor dem Mai '68) aber den Schulterschluß mit dem Marxismus suchte. So kam Ayrault in eine sozialistische Gruppe, deren Chef François Mitterrand war und die 1971 in der neugegründeten Sozialistischen Partei aufging.

Ayrault ist in der Sozialistischen Partei ein unauffälliger Mann der Mitte; keiner der "Elefanten", die der Partei ihren Stempel aufdrücken. Mit der Entscheidung für ihn signalisiert Hollande, daß er selbst das Heft in der Hand behalten möchte; Ayrault soll ihm mit seiner stillen Effizienz und seinen exzellenten Kontakten zu Parlamentariern den Rücken freihalten und die Routinearbeit erledigen. Akzente wird er wohl kaum setzen.

Nicht nur die Entscheidung für Ayrault zeigt, daß Hollande von vornherein keinen Zweifel daran lassen will, wer Chef im Ring ist. Die meisten Granden der Partei gingen bei der Kabinettsbildung leer aus:

Allen voran die Frau, die fast selbst Präsidentin geworden wäre, Martine Aubry. Sie war als Vorsitzende der Sozialisten die schärfste Konkurrentin Hollandes bei der Nominierung für die Präsidentschafts­kandidatur gewesen und hat sofort nach Hollandes Wahl zu verstehen gegeben, daß sie nun gern dessen Premierministerin werden würde. Das war vermutlich eine sichere Methode, um nicht in dieses Amt zu gelangen.

Ebenso wird der auch in Deutschland bekannte, populäre Bürgermeister von Paris, Bertrand Delanoë, nicht am Kabinettstisch sitzen, dessen Amtszeit in Paris demnächst abläuft; auch nicht Robert Hue, einst als Vorsitzender der Kommunistischen Partei Frankreichs Nachfolger des legendären Georges Marchais. Er hat inzwischen die KPF verlassen und eine sozialistische Mini-Partei, das MUP, gegründet. Bei der jetzigen Wahl unterstützte er nicht den kommunistischen Kandidaten Mélenchon, sondern Hollande. Honoriert wurde ihm das offenbar nicht.

Diese und andere, die sich Hoffnungen gemacht hatten, gingen auch deshalb leer aus, weil Hollande bei der Zusammensetzung seines Kabinetts strikt auf Proporz geachtet hat: Die Hälfte der Minister ist weiblich; mancher prominente Mann kam deshalb gegen eine kaum bekannte Frau nicht zum Zug.

Auch der Multikulti-Proporz wollte berücksichtigt werden. Die Justizministerin Christiane Taubira ist Nachfahrin schwarzer Sklaven und stammt aus Französisch-Guyana. Die Frauenministerin und Sprecherin der Regierung Najat Vallaud-Belkacem wurde in Marokko geboren und zog zu ihrem Vater nach Frankeich, der dorthin als Bauarbeiter ausgewandert war. Sie hat sowohl die marokkanische als auch die französische Staatsbürgerschaft



Der mit Abstand prominenteste Mann in Ayraults Kabinett ist der Außenminister Laurent Fabius. Der Multimillionär gehört, wie Hollande selbst, zu den Sozialisten mit bürgerlichem Hintergrund und einer Ausbildung an der Elite-Universität ENA. Er war eine Art Wunderkind der Sozialisten; schon im Alter von 33 Jahren war er der Stabschef von François Mitterrand, mit 35 Jahren dessen Minister, mit 38 Jahren sein Premierminister. Seither hatte er zahlreiche Ämter, darunter zweimal dasjenige des Präsidenten der Nationalversammlung.

Was von Fabius in seinem neuen Amt als Außenminister zu erwarten ist, erhellt daraus, daß er zu den Anführern desjenigen Teils der Sozialisten gehörte, die 2005 für die Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrags eintraten. Mit der Entscheidung für Fabius unterstreicht Präsident Hollande, daß er entschlossen ist, den proeuropäischen Kurs Sarkozys nicht fortzusetzen. Nicht nur aus dem Élysée, dem Sitz des Präsidenten, sondern auch vom Quai d'Orsay, an dem Fabius residieren wird, dürfte von nun an ein anderer europapolitischer Wind wehen.

Bemerkenswert an den weiteren Ressorts sind nicht nur einige der Personen, sondern auch die Ressortbezeichnungen. Im Nachrichtenmagazin Le Point schreibt Marie-Sandrine Sgherri von ministères aux intitulés les plus farfelus, von Ministerien mit den schrägsten Amtsbezeichnungen.

Ein Beispiel ist das Ministère du Redressement productif. "Zeit-Online" hat das mit "Ministerium für Reindustrialisierung" übersetzt, was natürlich Kokolores ist. Deindustrialisiert ist das High-Tech-Land Frankreich nun doch nicht. Eine richtige Übersetzung ist zum Beispiel "Ministerium für Ankurbelung der Produktion".

Arnaud Montebourg, der dieses Ministerium leiten wird, ist ein ausgewiesener Staatssozialist, ein Globalisierungsgegner; ein Linksaußen der Sozialisten, der ausdrücklich eine andere Republik will (siehe Frankreich hat einen neuen Politstar. Einige Informationen über das Weltbild des Arnaud Montebourg; ZR vom 11. 10. 2011).

Hollande steht in seiner Schuld, denn Montebourg war der dritte erfolgreiche Kandidat bei den parteiinternen Vorwahlen zur Präsidentschaftskandidatur gewesen und hatte sich für die Stichwahl zur allgemeinen Überraschung auf die Seite Hollandes geschlagen, gegen Martine Aubry. Dieser Parteinahme hat Hollande es zu verdanken, daß er jetzt Präsident ist (siehe Morgen wird François Hollande sehr wahrscheinlich zum Herausforderer Sarkozys gewählt. Montebourgs Strategie; ZR vom 15. 10. 2011).

Montebourg hat die Aufgabe, die staatssozialistischen Pläne Hollandes in die Tat umzusetzen. Denn mit "Ankurbelung der Produktion" sind nicht etwa Maßnahmen wie Steuer- und Abgabensenkungen oder eine wettbewerbs­fähigere gesetz­liche Arbeitszeit in Frankreich gemeint (derzeit ist sie bei 35 Stunden die Woche festgelegt), sondern beispiels­weise die Schaffung einer staatlichen Investitions­bank zur Steuerung der Wirtschaft.

Und so hat Hollande noch manches Ressort mit einer schrägen Aufgabe geschaffen; zum Beispiel für "Schulerfolg" (Réussite educative), für den "gesellschaftlichen Dialog" (Dialogue social) und für die "Gleichheit der Territorien" (Égalité des territoires).

Freilich hat Hollande damit noch nicht seinen Vorgänger, den ersten sozialistischen Präsidenten Mitterrand, erreicht. Dieser hat 1981, wie Marie-Sandrine Sgherri belustigt anmerkt, ein Ministère du Temps libre geschaffen, ein Ministerium für die freie Zeit, oder Freizeitministerium.

Wie sollten sie auch ohne den fürsorglichen Staat etwas mit ihrer Freizeit anfangen können, die Franzosen? In Frankreich hat jetzt nach 1981 der zweite (oder, rechnet man die Volksfront von 1936 ein, der dritte) Versuch begonnen, das Land in den Sozialismus zu führen.­­
Zettel



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