23. Mai 2012

Zitat des Tages: "So kam Deutschland zum Euro". Erste Eindrücke von der Lektüre des neuen Sarrazin-Buchs

Die kühne Hoffnung war: Gerade weil eine Währungsunion ohne politische Union auf die Dauer nicht funktionieren könne, würden, wenn die Währungsunion einmal da ist, die Sachzwänge zur politischen Union diese quasi automatisch herbeizwingen. (...)

Die Skeptiker unter den Fachleuten waren damals in der Mehrheit. Ihre Argumente waren schlüssig, sie waren einleuchend, und sie behielten Recht. Weshalb hat man dann damals nicht auf sie gehört? Die Wahrheit ist, die Menschen denken nicht in Argumenten. Nur die Experten tun das, wenn sie unter sich sind. Menschen denken in Bildern, und das umso mehr, je weniger sie von einer Sache verstehen. (...)

Wie viele ältere Männer war Helmut Kohl von dem Gefühl getrieben, wichtige, langfristige Fragen, für die Weisheit und Macht seiner Nachfolger nicht ausreichen würden, möglichst zu seiner Zeit abschließend zu regeln, mochten ein paar technische Unterpunkte auch noch ungeklärt sein. So kam Deutschland zum Euro.
Thilo Sarrazin in seinem Buch "Europa braucht den Euro nicht" über die Motive der Entscheidung für den Euro.

Kommentar: Mein erster Eindruck, nachdem ich mich ein wenig eingelesen habe: Dies ist ein Buch, aus dem man lernen kann. Es ist das Buch eines Fachmanns, der seinen Stoff beherrscht und der auf der Basis dieses gründlichen Wissens eine Analyse vorlegt. Er drängt dem Leser seine Meinung nicht auf; er bietet sie an.

Auch wenn man seinen Beurteilungen nicht in allem folgt, wird man nach der Lektüre dieses Buchs als Nichtökonom die Zusammenhänge besser verstanden haben; die Wechsel­wirkungen zumal zwischen Ökonomie und Politik.

Denn es geht um ökonomische Zusammenhänge, und es geht um politische Entscheidungen. Das ist das Spannungsfeld; eines übrigens, für das sich Sarrazin lebenslang interessiert hat. Was ich nicht gewußt hatte und jetzt aus dem Buch erfuhr:

1973 gehörte der damalige Angestellte der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung Sarrazin zu denjenigen, die am Entwurf des "ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens" der SPD schrieben; bekannt wurde er als "Orientierungs­rahmen '85". Schon damals erlebte der junge, frisch promovierte Volkswirt, wie politische Wünsche und ökonomische Fakten sich im Raume stoßen.

Worum es Sarrazin (wenn ich das Buch nach der bisherigen Teillektüre richtig sehe) im Kern geht, das ist die Rekonstruktion einer Serie von Fehlern der maßgeblichen Politiker, die sich immer wieder auf dieselben Ursachen zurückführen lassen; diejenigen, die Sarrazin in dem Zitat nennt: Man entscheidet nicht nach ökonomischer Vernunft, sondern aufgrund von politischen Hoffnungen, Träumen, Bildern. Politische Ziele trüben den Blick für ökonomische Realitäten.

Das kritisiert der kompromißlose Aufklärer Sarrazin; so, wie er in "Deutschland schafft sich ab" im Kern kritisiert hatte, daß Deutschland sich weigert, sich den Problemen seiner Zukunft zu stellen.

Sarrazin sagt das, was die Experten wissen - damals die Demographen, jetzt die Ökonomen - einem breiten Publikum; er rekonstruiert Entwicklungen, weist auf Zusammenhänge hin, analyisiert künftige Tendenzen. Über weite Strecken ist das im Grunde Wissenschaftsjournalismus.



Warum sehen seine Gegner nicht diese Absicht der Aufklärung? Warum wird aus dem nüchternen, gelegentlich sarkastischen Analytiker ein "geistiger Brandstifter" gemacht? Wie kommt es zu diesem Haß, wie ihn am Sonntag die ARD in einem Einspieler zu Günter Jauchs Diskussionsrunde groß ins Bild rückte; in Gestalt eines Transparents mit einer Karikatur Sarrazins und der Aufschrift "Halt's Maul! oder wir schlagen zurück"?

Sarrazin, dieser ruhige, bedächtige Mann mit dem Temperament eines Nilpferds, der sich durch nichts aus der Contenance bringen läßt; der auch dann noch sachlich argumentiert, wenn er rüde angegangen wird - was macht ihn zu einem derartigen Haßobjekt?

Was bringt die Journalistin Mely Kiyak dazu, Sarrazins Einladung zu Jauch als "Verplemperung unserer Fernseh­gebühren für diese lispelnde, stotternde, zuckende Menschen­karikatur" zu bezeichnen; eine Sprache wie einst im "Stürmer", und die "Berliner Zeitung" druckt so etwas?

Ich fürchte, die Antwort ist trivial. Sarrazin erfährt das, was Aufklärern immer widerfahren ist: Sie ziehen den Haß derer auf sich, die nicht aufgeklärt werden wollen. Und die vor allem vermeiden wollen, daß andere aufgeklärt werden; deshalb, weil sie selbst von fehlender Aufklärung profitieren.

Sie persönlich, psychologisch, denn sie wollen sich ihren Träumen hingeben, ihren "Visionen, Visionen", wie eine Zwischenüberschrift bei Sarrazin heißt. Sie wollen sich einreden, beispielsweise, Deutschland habe eine problemlose demographische Zukunft vor sich; die Einwanderung habe nur Gutes; und auch mit dem Euro und mit Europa werde schon alles gut werden.

Und sie wollen vor allem verhindern, daß andere aufgeklärt werden und damit ihrer Dominanz im öffentlichen Diskurs gefährlich werden könnten. Diejenigen, die überzeugt sind, bestimmen zu können, was andere glauben, fühlen sich attackiert durch denjenigen, der dieses Monopol gefährdet.

Dagegen geht man vor, ging man zu allen Zeiten vor; einst mit dem Schierlingsbecher und mit dem Scheiterhaufen, heute mit den Mitteln einer diffamierenden Publizistik.

Haßjournalisten wie Kiyak mit ihrer Sprache des Unmenschen sind dabei von geringer Bedeutung; die beiden Zeitungen, die das gedruckt haben, werden hoffentlich ihre Rüge vom Presserat bekommen. Schlimmer sind die Attacken von denen, deren Wort zählt.

Lesen Sie beispielsweise einmal, was Christoph Schwennicke zu diesem Buch geschrieben hat; noch bevor es erschienen war. Kein kleiner Kolumnist, sondern demnächst Chefredakteur des "Cicero"; eines Magazins, in dem viele einmal eine Hoffnung für kritischen Journalismus gesehen haben, für Aufklärung.

Wenn man diese Tirade gelesen hat ("Wie die Brüllaffen"; "Verbreitung des großen Haufens Blödsinn"), dann darf man prophezeien, daß unter diesem neuen Chef der "Cicero" eher zu einer Speerspitze der Gegenaufklärung werden wird. Und sprachlich auf einem Niveau unterhalb von "Bild" seinen Platz finden dürfte.­
Zettel



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