Vor der Debatte, die gestern Abend von neun Uhr bis fast Mitternacht andauerte, befand sich Nicolas Sarkozy ungefähr in der Lage eines Vereins in der Endrunde der Champions League, der sein Heimspiel hoch verloren hat. Jetzt im Rückspiel auswärts ein Unentschieden oder einen knappen Sieg zu schaffen, das reicht nicht; obwohl ein solches Ergebnis bei einem schweren Gegner, für sich genommen, ein schöner Erfolg wäre. Nur ein hoher Sieg kann noch retten.
Gegeben seine Situation, wie ich sie in der letzten und vorletzten Folge dieser Serie analysiert habe, hatte Sarkozy kaum Hoffnung, durch diese Debatte das Ergebnis des kommenden Sonntags noch drehen zu können. Gemäß dem alten Sponti-Spruch: "Du hast keine Chance, nutze sie!" mußte er also alles auf eine Karte setzen. Ein Unentschieden konnte nicht reichen. Er mußte versuchen, Hollande vorzuführen, ihn zu demontieren.
Hollande andererseits würde ein Unentschieden genügen; sogar eine knappe Niederlage konnte er hinnehmen. Damit stand die Dramaturgie dieses Duells fest: Sarkozy würde versuchen, Hollande zu provozieren, ihn in die Enge zu treiben. Alles, was Hollande tun mußte, bestand darin, das an sich abtropfen zu lassen.
Derart kam es zu einem Rollentausch. Wenn man nicht gewußt hätte, welcher der beiden Kontrahenten der Amtsinhaber und wer der Herausforderer war, hätte man Hollande für den bisherigen Präsdidenten gehalten und Sarkozy für denjenigen, der ihn attackierte, um selbst Präsident zu werden.
Die Debatte hatte ein hohes Niveau, und sie wurde von den beiden Moderatoren - Laurence Ferrari von TF1 and David Pujadas vom Sender France 2 - vorzüglich geleitet: Sie hielten sich im Hintergrund, hatten aber den Ablauf jederzeit im Griff.
Ferrari stellte vor allem die Fragen - sachlich, meist an beide gerichtet, gelegentlich auch zur Klärung nachfragend -, und Pujadas übernahm die Rolle des Schiedsrichters, der das Wort erteilte, der einschritt, wenn der eine Kontrahent dem anderen ins Wort fiel; der auch ein wenig auf den Zeitablauf achtete. (Nur ein wenig; denn am Ende hatte man sich so lange mit den Themen Wirtschaft und Einwanderung befaßt, daß für andere Politikbereiche nur noch wenig Zeit blieb).
In der anschließenden Diskussion beim Sender TV5 Monde sagte eine norwegische Journalistin, ein solches bescheidenes Auftreten der Moderatoren wäre in ihrem Land undenkbar. In Deutschland freilich auch. In der letzten Debatte zwischen zwei Kanzlerkandidaten haben wir im September 2009 erlebt, mit welcher nachgerade unverschämten Arroganz die gleich vier (!) Journalisten, die zum Moderieren aufgeboten worden waren, sich selbst in Szene setzten (Wozu in aller Welt braucht eine Debatte zwischen Merkel und Steinmeier eigentlich vier eitle Journalisten?; ZR vom 13. 9. 2009).
Gestern in Paris gehörte die Szene ganz den Duellanten. Beide hielten intellektuell das, was von ihnen zu erwarten gewesen war; mit einer nachgerade stupende Faktenkenntnis und stets rational argumentierend. Vor allem die ersten eineinhalb Stunden, in denen es um Wirtschaftspolitik ging, glichen streckenweise eher einem Universitätsseminar als einer Auseinandersetzung zwischen zwei Politikern. Manchmal nahm das freilich ein wenig komische Züge an, wenn jeder den anderen die Fakten abfragen wollte.
Vor allem Sarkozy versuchte das, so daß er zeitweilig wie ein Professor wirkte, der seinen Studenten prüft. Genüßlich merkte er an, daß Hollande ja bisher "fern der Akten" (éloigné des dossiers) gewesen sei (er hat noch nie ein Ministeramt bekleidet). Aber auch Hollande hatte seine Zahlen und Fakten gepaukt. Oft war man sich über diese nicht einig; wie auch anders.
In Deutschland käme niemand auf den Gedanken, eine derartige Debatte so zu führen. Schon die bescheidenen Versuche von Norbert Röttgen und Hannelore Kraft in NRW, ihre kürzliche TV-Diskussion mit einigen Zahlen anzureichern, wurde unter Überschriften wie "Qualen mit Zahlen" als ein "Verheddern in Fachsimpelei" getadelt.
In Frankreich weiß der Wähler hingegen Wissen und Intelligenz bei seinen Politikern zu schätzen. Beide Kontrahenten setzten ganz auf Kompetenz. Appelle an Emotionen, wie sie vor fünf Jahren die Sozialistin Ségolène Royal versucht hatte (Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Wer hat das Duell gewonnen?; ZR vom 2. 5. 2007), kamen nicht vor.
Das Thema "soziale Gerechtigkeit", das in Deutschland jede derartige Debatte dominiert hätte, spielte nicht einmal für den Sozialisten Hollande eine zentrale Rolle. Er trat für eine stärker staatlich gelenkte Wirtschaft ein; nicht um mehr Gerechtigkeit zu schaffen, sondern weil er das für effizienter hält als den Markt. Gegen innerbetrieblich ausgehandelte Arbeitszeiten ist Hollande, weil der Staat prinzipiell über die Arbeitszeit bestimmen müsse. Er ist Sozialist, weil er das für vernünftig hält; nicht, weil er "mitfühlend" wäre. In Deutschland hingegen ist ja inzwischen sogar der Liberalismus mitfühlend geworden.
Im Zentrum stand die Wirtschaftspolitik; und zu ihr warfen die Kandidaten sich wechselseitig Inkonsequenz vor. Beide zu Recht.
Hollande wurde nicht müde, schlechte Wirtschaftsdaten Frankreichs zu beklagen und sie den besseren Deutschlands gegenüberzustellen. Sarkozy hielt ihm sehr richtig vor, daß Hollande aber alle Vorschläge strikt ablehne, die französische Wirtschaft nach deutschem Vorbild zu reformieren; beispielsweise durch Senkung der Arbeitskosten und Flexibilisierung der Arbeitszeiten.
Das war ein Trumpf Sarkozys; und er trifft ja auch in der Sache eine Hauptschwäche Hollandes: Seinen ideologisch begründeten Glauben, man könne mit Steuererhöhungen, Ausweitung des staatlichen Sektors (allein 60.000 zusätzliche Stellen im Bildungsbereich) und mehr Dirigismus (beispielsweise via eine staatliche Investitionsbank Banque Publique d'Investissement) die Wirtschaftskraft Frankreichs stärken.
Hollande seinerseits konnte auf einen Widerspruch bei Sarkozy aufmerksam machen: Warum dieser denn nicht das, was er jetzt fordere, während seiner Amtszeit selbst umgesetzt habe? Und er verwies darauf, daß Sarkozy vor seiner Zeit als Staatspräsident bereits fünf Jahre lang als Minister für die französische Wirtschaftspolitik mit zuständig gewesen sei.
In der Tat schien Sarkozy manchmal nachgerade zu vergessen, daß er selbst für den Zustand Frankreichs verantwortlich ist; einen Zustand, den er kritisierte wie ein Oppositionspolitiker. Nicht nur, was die Wirtschaft angeht, sondern beispielsweise auch beim Schulsystem, das er in dunklen Farben malte.
Es war schon ein wenig verkehrte Welt: Der Amtsinhaber, der die herrschenden Verhältnisse beklagte und sie zu ändern versprach. Der linke Herausforderer, der im Grunde nichts anderes wollte, als die dirigistische Tradition Frankreichs fortzusetzen und die Macht des Staats weiter auszubauen. Der dort weitermachen will, wo diese Tradition unterbrochen wurde, als 2002 der Sozialist Jospin seit Amt als Ministerpräsident verlor und auch bei der Wahl zum Staatspräsidenten scheiterte.
Die meisten Beobachter sind sich einig, daß das Duell keinen klaren Sieg ergeben hat; manche - vor allem die linken, wie die Journalisten des Nouvel Observateur - sehen Vorteile bei Hollande.
Sarkozy hat sich bemüht, seine größere Sachkompetenz auszuspielen und, wie es Françoise Fressoz in Le Monde formulierte, Hollande zu stellen, ihn "aufzuscheuchen" (débusquer). Er hat versucht, ihn mit manchmal rüden Attacken in die Enge zu treiben; zum Beispiel warf er ihm immer wieder Lügen vor. Aber Hollande war darauf augenscheinlich trainiert; er ließ sich nicht aus der Reserve locken.
Sarkozy mußte, wenn er am Sonntag noch eine Chance haben wollte, aber nicht nur Hollande schlecht aussehen lassen; er mußte zweitens das Kunststück fertigbringen, sowohl Wähler François Bayrous als auch Wähler Marine Le Pens auf seine Seite zu ziehen. Es bestand für ihn dabei die Gefahr von einer Art Nullsummenspiel - jede Bewegung nach rechts würde ihn Stimmen aus der Mitte kosten und umgekehrt.
Er hat sich er zur Mitte hin orientiert; vielleicht, weil er nach Marine Le Pens Auftritt am 1. Mai nicht mehr damit rechnen konnte, noch weitere Wähler des FN zu gewinnen, die sich nicht ohnehin bereits "zähneknirschend" für ihn entschieden haben.
Viel geändert hat das alles wohl nicht; es konnte das nicht mehr. Les jeux sont faits. Noch nicht einmal meine Erwartung, jetzt einen besseren Eindruck von Hollande zu haben, hat sich erfüllt.
Einen emotionsloseren, einen weniger Persönlichkeit ausstrahlenden Politiker kann man sich schwerlich vorstellen; einen perfekteren Technokraten. Ein geschulter Intellekt; das wußte man von dem Absolventen der Eliteuniversität ENA. Ein staatsgläubiger Sozialist. Mehr weiß ich nach dieser Sendung über François Hollande immer noch nicht.
Nachtrag am 4. 5., 5.30 Uhr: Nicht überraschend sahen gestern beide Lager ihren Kandidaten als den Sieger. Das ist nicht berichtens- oder kommentierenswert. Wichtig waren aber zwei Meldungen vom Donnerstag. Beide sind schlechte Nachrichten für Präsident Sarkozy.
Noch in der Nacht - vom Ende der Debatte bis Donnerstag Vormittag um 10 Uhr - führte das Institut LH2 ein Umfrage durch, wobei nur Personen einbezogen wurden, die das Duell im Fernsehen verfolgt hatten. Die Stichprobe betrug dadurch nur 498 Befragte; was bedeutet, daß man kleinen Unterschieden (von weniger als ungefähr 5 Prozentpunkten) keine Bedeutung zumessen sollte. Hier sind die wichtigen größeren Abstände zwischen den beiden Kandidaten:
Das letztgenannte Ergebnis mag überraschen, da genau diese Statur eines Präsidenten Sarkozy oft abgesprochen wurde. Aber die Frage bezog sich ja nur auf die Debatte; und dort wirkte er in der Tat souveräner und selbstsicherer als sein Kontrahent.Hollande erschien als sympathischer (48 zu 26 Prozent; Rest unentschieden) Hollande sah man als näher an den eigenen Sorgen als Sarkozy (47 zu 33) Hollande wurde als der seriösere (plus sincère) Kandidat wahrgenommen (46 zu 33) Sarkozy sahen die Zuschauer als den Dynamischeren (48 zu 38) Sarkozy wurde auch als kompetenter beurteilt als Hollande (47 zu 41) Bei der Frage, wer eher die Statur eines Präsidenten zeigte, lag Sarkozy ebenfalls vorn (50 zu 41).
Was bedeuten diese so wahrgenommenen Stärken und Schwächen für die Wahlentscheidung? "Überzeugender" (plus convaincant) fanden 45 Prozent Hollande, 41 Prozent Sarkozy; ein, statistisch gesehen, zu knapper Unterschied. Aber eine andere Umfrage, durchgeführt von Ipsos, zeigte denselben Trend: 42 Prozent gegen 34 Prozent fanden, daß Sarkozy die bessere Figur abgegeben, daß er die bessere Leistung (meilleure préstation) geboten hatte.
Im Fazit sind diese Umfragen eindeutig: Die Basis für einen Umschwung in letzter Minute hat Sarkozy in der Debatte nicht legen können.
Nicht weniger enttäuschend für Sarkozy ist die Stellungnahme, die François Bayrou für gestern angekündigt hatte. Sie fiel so aus, wie ich es befürchtet hatte: Der Hamlet unter den französischen Spitzenpolitikern konnte sich wieder einmal nicht entscheiden.
Er werde für Hollande stimmen, sagte er, aber nicht etwa, weil er mit dessen politischen Zielen als Präsident einverstanden sei. Er werde gegen einen Präsidenten Hollande in Opposition gehen, wenn dieser sein angekündigtes Programm realisiere. Was er von diesem Programm halte, habe er ja schon gesagt (nämlich nichts).
Was in aller Welt bringt diesen seltsamen Politiker Bayrou dann dazu, für denjenigen zu stimmen, dessen Politik er künftig bekämpfen will? Offenbar sein vernichtendes Urteil über Sarkozys Verhalten seit dem ersten Wahlgang, der mit seiner Annäherung an den FN einen "Bruch" mit den Werten nicht nur Bayrous selbst, sondern auch des Gaullismus vollzogen habe. Also bleibe ihm - ihm persönlich! - nur die Stimme für Hollande: "Ich werde keinen leeren Stimmzettel abgeben; das wäre Unschlüssigkeit".
Wenn Sie diese Serie verfolgt haben, dann wird Sie keine dieser Entwicklungen überraschen. Die Wahl am Sonntag ist abgehakt. Der Blick sollte sich jetzt auf die Entwicklung in einem Frankreich richten, das künftig ein Problemfall Europas sein wird.
Zettel
© Zettel. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Für Kommentare bitte hier klicken. Fotos vom Autor Guillaume Paumier unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic-Lizenz freigegeben. Beide Fotos wurden während des Wahlkampfs 2007 aufgenommen. Die Fassung ohne die Ergänzungen - bis zum Doppelstrich identisch mit der jetzigen Fassung - wurde am 3. 5. um 7.26 Uhr unter dem Titel "Frankreichs Wahljahr 2012 (7): Eine Debatte auf hohem Niveau, sehr anders als in Deutschland. Für Sarkozy ein vernichtendes Unentschieden" publiziert.