10. Mai 2012

Frankreichs Wahljahr 2012 (10): Jetzt gibt es erste Umfragen zu den Parlamentswahlen in vier Wochen. Die Schlüsselrolle des Front National

Seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2001 wird die französische National­versammlung wenige Wochen nach dem Präsidenten gewählt; mit einer fünfjährigen Legislaturperiode, die der Amtszeit des Präsidenten entspricht. Diese hatte ursprünglich sieben Jahre betragen und war durch ein Referendum im Jahr 2000 auf fünf Jahre herabgesetzt worden.

Hintergrund dieser beider Neuerungen waren unter anderem die Zeiten der "Kohabitation", in denen ein Präsident der Linken mit einer rechten Mehrheit im Parlament regieren mußte; oder umgekehrt ein rechter Präsident mit einer linken Mehrheit. So war es Jacques Chirac ergangen, der zuletzt mit dem Sozialisten Lionel Jospin als Ministerpräsident hatte zusammenarbeiten müssen.

Solche Konstellationen waren durch Parlamentswahlen inmitten der Amtszeit des Präsidenten zustandekommen. Diese gibt es nun nicht mehr. Die Franzosen haben auf diese Neuerung bisher so reagiert, daß sie einem gewählten Präsidenten bei den anschließenden législatives auch seine Mehrheit gegeben haben; 2002 Jacques Chirac und 2007 Nicolas Sarkozy jeweils eine Mehrheit der Parteien der rechten Mitte.



In vier Wochen finden die Wahlen zur Nationalversammlung statt; mit dem ersten Wahlgang am 10. Juni und dem zweiten am 17. Juni. Wird François Hollande wie seine beiden Vorgänger mit einer parlamentarischen Mehrheit regieren können?

Es sieht ganz danach aus. Dabei spielt nicht nur eine gewisse Bereitschaft der Franzosen eine Rolle, dem nun einmal gewählten Präsidenten auch das Regieren zu ermöglichen und ihm nicht sofort einen Klotz zwischen die Beine zu werfen. Ein zweiter, vielleicht wichtigerer Faktor ist, daß die gegenwärtige politische Konstellation die Linke begünstigt.

Um das zu verstehen, muß man sich das Wahlrecht für die Wahlen zur Nationalversammlung klarmachen, wie es seit 1988 gilt:
  • Es handelt sich um ein Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen. Im ersten ist gewählt, wer in seinem Wahlkreis die absolute Mehrheit erhält; vorausgesetzt, er hat mehr als 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten bekommen. Im zweiten genügt die relative Mehrheit.

  • Zum zweiten Wahlgang dürfen alle Kandidaten antreten, die im ersten mindestens 12,5 Prozent der Stimmen erhalten haben. Es steht jedem Kandidaten aber frei, von diesem Recht keinen Gebrauch zu machen und für den zweiten Wahlgang zurückzutreten (se désister).
  • Der Sinn dieser Regelung ist es, Wahlbündnisse zwischen den beiden Wahlgängen zu ermöglichen. Solche Bündnissse werden beispielsweise traditionell zwischen den Sozialisten und den Kommunisten geschlossen: Im zweiten Wahlgang treten Kommunisten und Sozialisten nicht mehr gegeneinander an, sondern einer zieht sich zugunsten des anderen zurück; desjenigen, der jeweils in dem betreffenden Wahlkreis der aussichtsreichere (mieux placé) ist.

    Auch auf der Rechten gab es solche Bündnisse, wenn mehrere bürgerliche und konservative Parteien existierten; lange Zeit zum Beispiel die gaullistische RPR und die liberale UDF. Inzwischen gibt es dort nur noch die UMP, die Partei Sarkozys, und einige kleinere Gruppierungen und Einzel­kandidaten (divers droite).

    Weitere Partner gibt es nicht mehr. Denn das MoDem Bayrous, das aus einer Spaltung der UDF hervorgegangen ist, versteht sich nicht mehr als diesem bürgerlich-rechten Lager zugehörig, sondern möchte eine Dritte Kraft der "Mitte" zwischen Links und Rechts sein. François Bayrou hat sich, wie erinnerlich, dazu bekannt, Hollande seine Stimme zu geben (siehe Ist ein Sieg Sarkozys auf den letzten Metern doch noch möglich?; ZR vom 6. 5. 2012).

    Und dann gibt es natürlich noch den rechtsextremen Front National von Marine Le Pen; eine Partei, mit der bisher die bürgerliche Rechte jede Zusammenarbeit vermieden hat. Sie war bei den Parlamentswahlen vor fünf Jahren schwach (4,3 Prozent im ersten Wahlgang). Diesmal aber kann sie das mindestens Vierfache an Stimmen erwarten. Und damit ist der Wahlsieg Hollandes so gut wie gesichert.



    Bisher liegen für diesen ersten Wahlgang Umfragen von vier Instituten vor. Die Sozialisten können auf ungefähr 30 Prozent rechnen, die kommunistische Linksfront auf knapp 10 Prozent. Zusammen mit den Grünen, die bereits ein Bündnis mit den Sozialisten geschlossen haben, ergibt das für den zweiten Wahlgang zwischen 40 und 45 Prozent im nationalen Durchschnitt; in den einzelnen Wahlkreisen kann es natürlich sehr verschieden aussehen.

    Die UMP liegt hingegen nur bei etwas über 30 Prozent - mit keinem potentiellen Bündnispartner. Das MoDem hat nach dem Linksschwenk Bayrous die verdiente Quittung zu erwarten und dürfte nur noch um die 5 Prozent bekommen. Ohne Bündnispartner wird es damit in der National­versammlung allenfalls mit einigen Mandaten vertreten sein; wahrscheinlich mit gar keinem.

    Für den Front National könnte das anders aussehen. Der Blog RegardsCitoyens hat ausgerechnet, in wievielen Wahlkreisen der Kandidat des FN in den zweiten Wahlgang kommen könnte, wenn man die Ergebnisse des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahl auf die législatives überträgt. Es sind nicht weniger als 353 der 577 Wahlkreise. In fast allen würde auch ein Sozialist und der Kandidat der UMP in den zweiten Wahlgang kommen, so daß es dann zu einer sogenannten triangulaire käme, einer Dreiecks-Konstellation.

    Das gibt dem FN die Chance, erstmals seit 1986 (als das Verhältniswahlrecht galt) wieder in nennenswerter Zahl Abgeordnete in die Nationalsversammlung zu entsenden. Sie können sich das ansehen, wenn Sie auf diese Seite des Nouvel Observateur gehen und auf das Porträt von Marine Le Pen klicken. Sie erhalten dann einen Überblick über ihr Abschneiden in den einzelnen Départements.

    Man sieht, daß ihr Ergebnis von 17,9 Prozent sich auf sehr unterschiedliche Resultate in den einzelnen Regionen Frankreichs gründet. Im Westen und der Mitte ist der FN schwach. Seine Hochburgen sind der Nordosten Frankreichs und der Süden; der Küstenstreifen von der spanischen bis zur italienischen Grenze.

    Wenn Sie auf eines der Départements klicken, erhalten Sie den Prozentwert von Marine Le Pen. Im Gard hat sie mit 25,5 Prozent gesiegt; aber im benachbarten Département Vaucluse hat sie sogar, ohne die Siegerin zu sein, 27,0 Prozent erreicht, und auch in den umliegenden Départements zwischen 20 und 25 Prozent. Im Nordosten liegen ihre Ergebnisse im selben Bereich; meist näher an 25 als an 20 Prozent.

    Beim Klicken auf ein Département erscheint unten links eine Liste der Orte dieses Départements, in denen Le Pen am besten abgeschnitten hat. Das reicht bis über 40 Prozent. Es wird also viele triangulaires geben, und in vielen von ihnen wird der Kandidat der UMP dem Einheitskandidaten von Linken und Linksextremen unterliegen; in einigen vielleicht sogar dem Kandidaten des FN.



    Einen Sieg der Linken in vier Wochen könnte somit nur ein Bündnis der UMP mit dem FN verhindern. Nach einer Umfrage noch vor dem 6. Mai wollen das 64 Prozent der Wähler der UMP; vermutlich, weil es eben deren einzige Chance auf einen Sieg wäre. Aber für die Parteiführung würde es einen Bruch mit allen bisherigen Prinzipien bedeuten; es würde die UMP natürlich auch dem Vorwurf der Linken aussetzen, daß sie damit die extreme Rechte fördere.

    Wie sich die UMP am Ende verhalten wird, nachdem sie ihren Chef Sarkozy verloren hat, ist derzeit ungewiß; auch, ob der FN überhaupt ein solches Bündnis wollen würde. Sehr viel spricht dafür, daß es dazu nicht kommen wird. Sehr wahrscheinlich wird der Präsident Hollande, wie sein Vorgänger Sarkozy, also mit einer deutlichen Mehrheit in der Nationalversammlung regieren können.­
    Zettel



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