26. Mai 2012

Eurovision Song Contest: Ein wenig Nostalgie und ein wenig Meckerei


Ein Musikblog ist ZR ja eigentlich nicht. Aber zu der Veranstaltung, die einmal Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß und die jetzt Eurovision Song Contest heißt, schreibe ich immer wieder einmal etwas.

Warum? Aus zwei Gründen:

Zum einen geht es mir mit dieser Show, diesem Event so wie anderen mit, sagen wir, dem ersten Ferienlager der FDJ oder dem ersten Theaterbesuch: Es hängen starke Erinnerungen daran. In meinem ersten Beitrag zu diesem Thema, vor fünf Jahren, habe ich das ein wenig erläutert: Ich war in elternhäuslich bedingter Fernseh-Abstinenz aufgewachsen und entwickelte, als ich mir mit über zwanzig den ersten Fernseher leisten konnte, eine Faszination für dieses Medium. Beispielsweise für den Grand Prix Eurovision de la Chanson.

Solche Prägungen begleiten einen durchs Leben. Da spielt dann ein ausgekochter Politiker im Keller Eisenbahn, wie Horst Seehofer. Ein Philosoph wie Ernst Bloch und ein Schriftsteller wie Arno Schmidt lassen sich von ihrer Karl-May-Begeisterung ins Erwachsenenalter begleiten. Und ich gucke eben Grand Prix, wie einst im Mai (denn schon damals fand das im Mai statt, seit der ersten Veranstaltung 1956).

Das zweite ist, daß ich solche Events gesellschaftlich, auch politisch, interessant finde. Fußball-Meisterschaften gehören auch dazu; wir werden das ja bald wieder erleben.

Da wachsen auf einmal die Deutschen zu einem Volk zusammen. Als vor zwei Jahren Lena Meyer-Landrut für uns antrat, fuhren tatsächlich "Deutschland-Autos" durch unsere Städte (Wird Lena unsere neue Nicole? Ich glaube das nicht. Die Wetten andererseits ...; ZR vom 29. 5. 2010). Als 1982 Nicole gewonnen hatte, dürfte das der "Friedensbewegung" mehr genutzt haben als alle ihre Demonstrationen.

Uns Deutschen fehlt es - Sie finden dieses Thema immer wieder in ZR - an der nationalen Identität, die in jedem funktionierenden Staat selbstverständlich ist. Deshalb nutzen wir dankbar jede Gelegenheit, wo wir im Wortsinn "Flagge zeigen" dürfen. Und sei es auch nur, weil jemand bei einem Sängerkrieg einmal ganz vorn landet.



Das scheint mir der politische Aspekt eines solchen Ereignisses zu sein. Mehr aber auch nicht.

Als Lena sich vor zwei Jahren als die Favoritin herausschälte, verfaßten zwei Redakteure des gedruckten "Spiegel", Thomas Tuma und Markus Brauck, einen langatmigen Artikel, in dem sie zu zeigen versuchten, daß Dieter Bohlen der Mann für die Prolls und (ausgerechnet) Stefan Raab mit seiner damaligen Casting-Show, aus der Lena als Siegerin hervorging, der Moderator für das Bildungsbürgertum sei:
Subkutan werden in den beiden Shows Gesellschafts­modelle inszeniert und verhandelt, die unterschiedlicher kaum sein könnten. (...)

Das von Oberjuror Stefan Raab präsentierte Format bildet die Illusion einer polyglott-sorgenfreien Mittelschicht ab. (...)

"DSDS" ist ein Alptraum. Es zeigt eine böse und erbarmungslose Realität zwischen Plattenbau und Plattenvertrag, Arbeitsamt, "Bravo"-Cover und Bewährungsstrafe (...)

So wird aus zwei TV-Shows allmählich ein Kampf Bürgertum gegen Prolls, Bildung gegen Breitreifen, Uni gegen Hauptschule, oben gegen unten.
Ich habe dieses soziologisierende Gerede damals ein wenig angemeckert (Zettels Meckerecke: Bohlens Show, Raabs Show. Prolls und Bildungsbürger. Soziologengewäsch, Dummschwätzerei; ZR vom 4. 3. 2010).

Und auch ein anderer Artikel zum Thema Eurovision Song Contest war eine Meckerecke: 2007 habe ich kräftig auf die nationalen Bündnisse und Kartelle, auf die Loyalitäten von Einwanderern zu ihrem Herkunftsland geschimpft, die für abstimmende Zuschauer augenscheinlich wichtiger sind als die Qualität dessen, was sie gehört und gesehen haben (Zettels Meckerecke: Ein Musik-Wettbewerb? Ein völkischer Zählappell; ZR vom 13. 5. 2007).

Wer viele völkische Freunde hat - die Bewohner des Balkan, die Osteuropäer, die Skandinavier -, der bekommt auch viele Punkte. Wer allein dasteht - wie Frankreich, England, Deutschland -, der hat das Nachsehen. Zumal, wenn die Österreicher sich gegenüber Deutschland keineswegs so großzügig zeigen wie die Norweger gegenüber den Schweden; oder die Zyprioten gegenüber den Griechen.

Und wer viele Auswanderer in Länder Europas geschickt hat, wie die Türkei, der bekommt das in Form von Stimmen zurück. Seit Jahren entwickeln so "die Deutschen" eine schier unbegreifliche Begeisterung für die türkische Musik - zwölf Punkte aus Deutschland für die Türkei sind nachgerade Standard.

Wie konnte dann aber Lena 2010 gewinnen? Weil seit 2009 neue Regeln gelten. Seither bestimmt nicht allein das anrufende Publikum die Punkte, sondern zur Hälfte auch in jedem Land eine fachkundige Jury. Eine, die offenkundig mehr auf die Musik und die Performance achtet als auf das Völkische.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Foto: Lena Meyer-Landrut 2010 in Oslo. Vom Autor Erik F. Brandsborg unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic-Lizenz freigegeben.