12. Mai 2012

Marginalie: Die Kriegsgefahr im Nahen Osten wächst. Zwei amerikanische Analysen

Die explosive Situation im Nahen Osten ist in Deutschland vorübergehend zu einem Thema geworden, als vor einigen Wochen über das unsägliche Gedicht von Günter Grass debattiert wurde. Aber die Diskussion blieb seltsam abgehoben.

Man stritt darüber, ob Grass Antisemit sei; man versuchte sich im Psychologisieren (Setzt er sich unbewußt noch immer damit auseinander, bei der Waffen-SS gewesen zu sein?). Über Schuld wurde debattiert und über das, was man "sagen darf" und was angeblich nicht.

Über die militärische Situation Israels, über die Dynamik der gegenwärtigen politischen Entwicklung im Nahen Osten wurde kaum gesprochen und geschrieben; über die innenpolitischen Gegebenheiten Israels nur insofern, als Grass pflichtgemäß nachschob, er habe mit seinem Gedicht nicht Israel als solches gemeint, sondern die Regierung Netanyahu.

Dabei gäbe es allen Grund, sich mit diesen Themen zu befassen, vor allem ihren Zusammenhang zu analysieren. Ich habe darauf vor einem Monat aufmerksam gemacht (Günter Grass: Die falsche Diskussion; ZR vom 11. 4. 2012). Jetzt veranlassen mich zwei Texte aus der US-Presse, darauf zurückzukommen; eine schon etwas zurückliegende Analyse in Slate von Fred Kaplan, einem auf strategische Analysen spezialisierten Journalisten, und Charles Krauthammers aktuelle Kolumne, die gestern in der Washington Post erschien.

Die beiden Autoren analysieren unterschiedliche Aspekte der Lage, kommen aber zu einem ähnlichen Ergebnis: Die Gefahr eines Kriegs im Nahen Osten ist gewachsen. Krauthammer befaßt sich mit der innenpolitischen Situation in Israel, nachdem überraschend die größte Oppositionspartei, die Kadima, in die Regierung Netanyahu eingetreten ist. Kaplan untersucht, worin die eigentliche Gefahr der iranischen Atomrüstung besteht.



Kaplans Ausgangspunkt ist der machtpolitische Hintergrund der iranischen Atomrüstung: Der Iran will Nuklearmacht werden; nicht, um Israel mit Atomwaffen anzugreifen (das wäre selbstmörderisch), sondern weil es die künftige regionale Hegemonialmacht sein möchte. Dieses Bestreben geht noch auf die Zeit von Schah Reza Pahlewi zurück. Kaplan erzählt dazu die Geschichte, wie Henry Kissinger dem Schah zusicherte, die USA würden ihm jede gewünschte Waffe liefern - und dieser sich daraufhin ein Polaris-U-Boot erbat, komplett mit Atomraketen. Das nun doch nicht, bedeutete ihm damals Kissinger.

Hat also Israel gar keinen Grund zur Sorge? Doch, und aus drei Gründen, argumentiert Kaplan:
  • Israels Atombewaffnung schützt es bisher vor konventionellen Angriffen. Unter dem Schutz iranischer Atomwaffen wären konventionelle Angriffe auf Israel möglich, ohne daß es glaubwürdig mit nuklearer Vergeltung drohen könnte. Seine nukleare Abschreckung würde durch die iranische Atomwaffe neutralisiert werden.

  • Bei verfeindeten Atommächten kann es immer zu einem Atomkrieg "aus Versehen" kommen. Die USA und die UdSSR konnten das seinerzeit durch ausgeklügelte, miteinander abgestimmte Sicherheitsmaßnahmen vermeiden. Mit dem Iran würde es solche Absprachen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geben.

  • Diese Gefahr eines unbeabsichtigten Atomkriegs wird im Fall Iran-Israel durch ihre geringe geographische Entfernung potenziert. Fehlalarme kamen auch zur Zeit des Kalten Kriegs vor (der gefährlichste 1983), aber sie konnten beherrscht werden, weil es genügend Zeit für die Analyse und Bewertung von Informationen gab (1983 wäre es dennoch fast schiefgegangen). Diese Zeit gab es, weil Moskau und Washington fast 8000 Kilometer entfernt sind. Teheran und Jerusalem sind 1500 Kilometer voneinander entfernt; Flugzeit für eine Rakete fünf Minuten.
  • Aus diesen Gründen könnte Israel sich durch die iranische Atomrüstung so bedroht fühlen, daß die Regierung sich zu einem Angriff gegen die persischen Nuklearanlagen entschließt.

    Sollte sie diesen Entschluß fassen, dann - so Kaplan - wird sie ihn wahrscheinlich vor den Wahlen in den USA Anfang November ausführen. Denn ein Präsident, der um seine Wiederwahl kämpft, könnte Israel schwer die benötigte Unterstützung verweigern (siehe dazu Stratfors Analysen: "Ohne die Billigung der USA könnte Israel die iranische Atomrüstung nicht angreifen"; ZR vom 5. 4. 2012).



    Charles Krauthammer befaßt sich mit der innenpolitischen Lage Israels, die er ähnlich sieht wie die Situation im Vorfeld des Sechstagekriegs.

    Im Mai 1967 war Israel in einer ähnlichen Lage wie jetzt, schreibt Krauthammer: Ägypten hatte den Abzug der UN-Friedenstruppe aus dem Sinai durchgesetzt, eine Streitmacht von 120.000 Mann aufmarschieren lassen, einen Militärpakt mit Jordanien geschlossen und die Straße von Tiran blockiert, Israels Zugang zu den Weltmeeren. Ob die Westmächte Israel gegen den drohenden Angriff beistehen würden, war ungewiß. Israel entschloß sich zu einem Präventivschlag am 5. Juni, mit dem es dem ägyptischen Angriff zuvorkam.

    Vier Tage zuvor war etwas bis dahin in der Geschichte Israels Einmaliges geschehen: Die von der Arbeiterpartei geführte Regierung war um den rechten Oppositionsblock Likud erweitert worden, zu einer Regierung der nationalen Einheit.

    Jetzt ist dasselbe geschehen; nur daß nun, in der Nacht vom 6. zum 7. Mai, die rechte Regierung Netanyahu um die größte Oppositionspartei Kadima erweitert worden ist. Zur allgemeinen Verwunderung, denn es waren bereits Neuwahlen für den September angesetzt gewesen, die Netanyahu wahrscheinlich hoch gewonnen hätte.

    Aus Krauthammers Sicht hat sich damit das wiederholt, was 1967 geschehen war: Das Land bereitet sich auf einen Krieg vor. Die Situation sei zwar nicht so drängend wie damals - ein Krieg sei nicht wenige Tage entfernt, sondern er drohe nur in unbestimmter Zeit. Die Stimmung sei nicht Verzweiflung, sondern nur eine bange Erwartung. Die Zeit verrinne nicht rasend schnell, aber sie verrinne eben doch.

    Gewiß gebe es auch weitere Motive für diese Große Koalition, meint Krauthammer. Aber entscheidend sei, daß man damit signalisiere: Israel ist nicht nur militärisch, sondern nunmehr auch politisch für einen Krieg gerüstet.

    Militärisch ist man es ohnehin. Krauthammer verweist auf ein Interview des israelischen Oberbefehlshabers Benny Gantz vom 22. April. Darin sagte Gantz, daß die israelischen Streitkräfte "im Prinzip zum Handeln bereit" seien.



    Ich halte die Analysen sowohl Kaplans als auch Krauthammers für wert, daß man über sie diskutiert. Ob sie zutreffen, ist schwer zu beurteilen. Ich mache auf sie aufmerksam, weil - gerade im Gefolge der Diskussion über das Grass-Gedicht - in Deutschland die Neigung besteht, die Situation im Nahen Osten plakativ zu sehen. Sie ist aber kompliziert, und die künftige Entwicklung gibt jedenfalls zur Sorge Anlaß. Zur Sorge, nicht zu Prognosen; die ja auch Krauthammer und Kaplan sich nicht zutrauen.­
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.