14. Mai 2012

Wie haben in NRW die kleinen Parteien abgeschnitten? Eine Auffälligkeit bei den Parteien "Die Piraten" und "Die Linke"

Wie eigentlich die kleinen Parteien abgeschnitten haben, erfährt der deutsche Zeitungsleser oft nicht; erst recht nicht der politisch Interessierte, der sich über Radio und Fernsehen informiert. Es gibt die Rubrik "Sonstige", und das muß - so denken offenbar viele Redaktionen - genügen. So ist es die Regel; so war es auch bei den gestrigen Wahlen in NRW.

Und so scheint man auch im Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen zu denken, dem der Landeswahlleiter untersteht. Sucht man nämlich dort nach der Pressemitteilung über den Ausgang der Wahlen, dann findet man dies: Die Zweitstimmen-Ergebnisse der Parteien, die in den Landtag gekommen sind, werden in absoluten Zahlen und in Prozentwerten mitgeteilt; ebenso die Ergebnisse der an der Fünf-Prozent-Hürde gescheiterten Parteien "Die Linke" und "pro NRW". Dann aber heißt es lapidar:
Alle übrigen angetretenen Parteien blieben unterhalb der 1 %-Marke. Dazu gehören in der Reihenfolge der errungenen Stimmenanteile (...)
Es folgt eine Liste von Parteinamen. Wieviel jede dieser Parteien bekommen hat, erfährt man ebensowenig wie die Ergebnisse aller Parteien bei den Erststimmen.

Am Ende der Pressemitteilung des Landeswahlleiters (der "Landeswahlleiterin" heißt es; als wenn die Behördenleiterin das persönlich verfaßt hätte) findet man immerhin diesen Hinweis:
Detaillierte Übersichten zu den vorläufigen Ergebnissen der Landtagswahl 2012 können unter www.wahlergebnisse.nrw.de abgerufen werden.
Rufen Sie einmal die verlinkte Seite auf. Sie müssen sich dann zuerst hierhin durchklicken und dann dorthin. Dann sind Sie bei den Ergebnissen angekommen. Und Sie sehen eine Datei im *.txt-Format. Hier ist ein Ausschnitt:
FDP;372693;4,8;669971;8,6;363895;4,7;522229;6,7;+1,9;
DIE LINKE;201782;2,6;194539;2,5;415241;5,4;435627;5,6;-3,1;
PIRATEN;617732;7,9;608957;7,8;70610;0,9;121046;1,6;+6,3;
pro NRW;-;-;118270;1,5;67310;0,9;107476;1,4;+0,1;
Nicht sehr leserfreundlich, nicht wahr?



Nach einigem Herumsuchen bin ich dann doch auf eine etwas übersichtlichere Darstellung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses gestoßen, nämlich hier. Einiges ist ganz interessant:
  • Die extreme Linke und die extreme Rechte sind nahezu gleich stark. "Die Linke" erhielt 194.539 Zweitstimmen; "pro NRW" 118.270 und die NPD 39.993, zusammen also 158.263 Stimmen. Auf alle drei extremistischen Parteien zusammen entfielen nur 4,53 Prozent. Paradiesische Zustände, wenn man das mit den Wahlergebnissen etwa in Frankreich vergleicht, wo Extremisten im ersten Wahlgang der Präsident­schafts­wahl ein knappes Drittel erreichten.

  • "pro NRW" hat sein Wahlziel erreicht, mehr als ein Prozent zu erhalten und damit in den Genuß der staatlichen Parteienfinanzierung nach Paragraph 18 des Parteiengesetzes zu kommen. Insofern waren die Provokationen mit Mohammed-Karikaturen in der Nähe von Moscheen erfolgreich.

  • Von den Kleinstparteien, die weniger als ein Prozent erhielten, ist die Tierschutzpartei mit Abstand die größte (58.089 Stimmen; 0,7 Prozent). Alle anderen liegen unter einem halben Prozent. Die Partei eines dubiosen Verschwörungstheoretikers namens "Partei der Vernunft", die offenbar eine Konkurrenz zur FDP bilden sollte, ist mit 6.348 Stimmen kläglich gescheitert; das sind genau 0,08 Prozent.



  • Instruktiv ist auch ein Vergleich der Erst- und Zweitstimmen. Wo es beide Stimmen gibt (nicht in allen Ländern ist das so), wählt ein Teil der Wähler traditionell taktisch: Mit der Erststimme wählt man den Kandidaten einer der beiden großen Parteien, die in der Regel allein eine Chance haben, den betreffenden Wahlkreis zu holen. Die Zweitstimme geben diese taktischen Wähler einer kleineren Partei.

    Dieses Verhalten läßt eine Koalitions-Präferenz, oft ein Lagerdenken erkennen. Man wählt beispielsweise mit der Erststimme die Union und mit der Zweitstimme die FDP; oder mit der Zweitstimme die Grünen und mit der Erststimme die SPD. Wie war es diesmal in NRW?
  • Die SPD erhielt bei den Zweitstimmen 39,1 Prozent und bei den Erststimmen 42,3 Prozent. Komplementär entfielen auf die Grünen 11,3 Prozent der Zweit­stimmen, aber nur 9,3 Prozent der Erststimmen.

  • Viel massiver ist dieser Effekt im bürgerlichen Lager. Nur 26,3 Prozent der Zweitstimmen entfielen auf die CDU, aber mehr als sechs Prozentpunkte mehr (32,7 Prozent) der Erststimmen. Auch hier gibt es einen komplementären Unterschied bei den Liberalen: Sie erreichten sensationelle 8,6 Prozent bei den Zweit­stimmen, aber nur 4,8 Prozent bei den Erststimmen.
  • Derartige Differenzen werden von den betroffenen Parteien im allgemeinen unterschiedlich interpretiert:

    Die kleineren (die FDP, die Grünen) sehen die Zweitstimmen-Wähler als ihre "eigentlichen" Wähler und argumentieren, von diesen hätte ein Teil die Erststimme der größeren Partei (der CDU, der SPD) gegeben, weil der eigene Direktkandidat ohnehin keine Chance gehabt hätte.

    Die größeren Parteien weisen hingegen gern auf die Möglichkeit hin, daß die Erststimmen die eigentlichen Präferenzen anzeigen und lediglich einige Wähler die kleinere Partei mit einer "Leihstimme" bedenken; beispielsweise, um sie über die Fünf-Prozent-Hürde zu hieven und damit der großen Partei eine Koalitionsmehrheit zu sichern.

    Dieses zweite Motiv dürfte bei Wählern der Grünen keine Rolle gespielt haben, von denen ja klar war, daß diese Partei die Fünf-Prozent-Hürde überwinden würde. Die FDP, deren Wiedereinzug in den Landtag nach Umfragen auf der Kippe stand, könnte hingegen durchaus (auch) von derartigen "Leihstimmen" profitiert haben.

    Allerdings ist es fraglich, ob der Begriff "Leihstimmen" den Sachverhalt wirklich trifft. Eher dürfte es sich um Wechselwähler handeln, die sich für beide Parteien entscheiden könnten und die diesen Konflikt durch Stimmensplitting lösen (siehe Die FDP, die Wahlen in NRW, die Wechselwähler; ZR vom 11. 5. 2012, sowie Wahlen in NRW: Die große Überraschung wird ausbleiben; ZR vom 13. 5. 2012).

    Sowohl im schwarzgelben als auch im rotgrünen Lager war gestern die Differenz bei der großen Partei größer als die umgekehrte Differenz bei der kleinen Partei. Darin dürfte sich ausdrücken, daß auch Wähler der Kleinstparteien einer der beiden Großen ihre Stimme gegeben haben; sie hatten ja selbst oft gar keine Direktkandidaten aufgestellt. - Im Einzelfall ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß auch einmal ein Wähler der Grünen seine Erststimme dem Direktkandidaten der CDU gegeben hat, und ein Wähler der FDP demjenigen der SPD.



    Dem Stimmensplittung zwischen Erst- und Zweitstimme bei uns entspricht es in Frankreich, daß man im ersten Wahlgang die kleine und im zweiten Wahlgang die große Partei wählt. Dort findet eine solche Stimmenübertragung beispielsweise traditionell von der extremen Linken auf die Sozialistische Partei statt (siehe Frankreichs Wahljahr 2012 (10): Jetzt gibt es erste Umfragen zu den Parlamentswahlen in vier Wochen; ZR vom 10. 5. 2012).

    Wie sah es gestern in NRW aus? Gab es auch bei den Wählern der extremen Parteien ein Stimmensplitting? Auf der Rechten war das nicht möglich, weil diese beiden Parteien keine Direktkandidaten aufgestellt hatten. Bei der Partei "Die Linke" aber zeigt sich ein erstaunlicher Effekt: Sie erhielt 194.539 Zweitstimmen, aber sogar mehr Erststimmen, nämlich 201.782!

    Und dasselbe findet sich bei den Piraten: 608.957 Zweitstimmen und 617.732 Erststimmen. Was bedeutet das? Es dürfte sich darin der Charakter beider Parteien als Protestparteien ausdrücken: "Keine Stimme den etablierten Parteien!" Eher verzichtet man darauf, auf die Entscheidung im Wahlkreis Einfluß zu nehmen, als daß man einer "Altpartei" (prokapitalistischen Partei, Systempartei, wie immer) seine Stimme gibt.



    Und wer war gestern das Schlußlicht? Der BGD mit 83 Stimmen, alles in allem. Sie kennen diese Partei nicht? Ich kannte sie auch nicht, bis ich jetzt nachgesehen habe: Der Bund für Gesamtdeutschland ist die Partei von Horst Zaborowski. Im vergangenen Dezember feierte er seinen 85. Geburtstag.­
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Landtag in Düsseldorf, vom Rheinturm aus gesehen. Vom Autor Zairon unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz freigegeben.