6. Mai 2012

Frankreichs Wahljahr 2012 (8): Ist ein Sieg Sarkozys auf den letzten Metern doch noch möglich? Sarkozy ist jetzt der Favorit der Frauen. Eine Prognose












Wer in der vergangenen Nacht den Boxkampf Huck vs. Afolabi gesehen hat, der konnte wieder einmal erleben, wie jemand mit Willenskraft einen schon so gut wie verlorenen Kampf noch drehen kann. Huck ist ein Fighter; auch Sarkozy ist das. Kann auch er es am Ende doch noch schaffen?

Wenn Sie diese Serie und die Folgen 39 bis 42 der Serie "Gedanken zu Frankreich" verfolgt haben, dann wissen Sie, daß ich seit Anfang dieses Jahres einen Sieg Hollandes erwarte. Die Situation erschien mir vor einer Woche so eindeutig, daß ich sie zu der Aussage zugespitzt habe: Sarkozy kann nicht mehr gewinnen.

Eine Bestätigung schien mir der Ausgang der Debatte am Mittwoch zu liefern; denn die Reaktionen waren eindeutig: Sowohl die Kommentare in den Medien als auch die Ergebnisse von Umfragen zeigten, daß dem Präsidenten Sarkozy ein eindeutiger Sieg gegen Hollande nicht gelungen war. Die meisten konstatierten ein Unentschieden; etliche sahen Hollande als den Sieger. Angesichts der Ausgangslage - ein Vorsprung Hollandes von ungefähr 53 zu 47 Prozent - erschien das vernichtend für Sarkozy.

Zu allem Überfluß teilte am Donnerstag François Bayrou mit, er werde für Hollande stimmen. Wie schon Marine Le Pen, die erklärt hatte, sie werde einen leeren Stimmzettel abgeben, übte er heftigste Kritik an Nicolas Sarkozy.

Wenn Sarkozy überhaupt noch den Hauch einer Chance haben sollte, dann dadurch, daß zahlreiche Wähler Le Pens und Bayrous aus dem ersten Wahlgang sich entschließen, jetzt - wenn auch zähneknirschend - für ihn zu stimmen. Auch deshalb schien es mit diesen beiden Stellungnahmen definitiv vorbei zu sein.

In der Woche nach dem ersten Wahlgang hatte Sarkozy den Abstand zu Hollande nur geringfügig verringern können. Diese Ereignisse der zweiten Woche des entre-deux tours schienen sein K.O. zu bedeuten.



Ich kann mich nicht erinnern, daß demoskopische Zahlen mich jemals so überrascht hätten wie die vom Donnerstag und Freitag, bevor - pünktlich um Mitternacht zum Samstag - das Verbot in Kraft trat, noch Ergebnisse zu veröffentlichen:

Sämtliche Umfragen, deren Daten nach dem Duell am Mittwoch erhoben worden waren, zeigten für Sarkozy die besten überhaupt je in diesem Wahlkampf erhobenen Werte - Hollande führte nur noch mit zwischen 53,5 und 52,5 Prozent. Den Schlußpunkt setzte die am Freitag unmittelbar vor Ende der Sperrfrist publizierte Umfrage von Ifop: Nur noch 52 zu 48 Prozent zugunsten von Hollande! Einen so guten Wert hatte es für Sarkozy während des gesamten Wahlkampfs nicht gegeben.

Dieses Ergebnis ist besonders aussagekräftig, weil es genau in einen Trend paßt, den Ifop die ganze Woche über gefunden hat. Falls Sie sich das grafisch vor Augen führen wollen, dann gehen Sie bitte im aktuellen Bericht von Ifop auf Seite 4.

In diesem Bericht findet man auch die Erklärung für den verblüffenden Aufstieg Sarkozys: Am Freitag gaben mehr Wähler sowohl Bayrous (37 Prozent) als auch Le Pens (55 Prozent) an, sie würden heute für Sarkozy stimmen, als Ifop das bisher gemessen hatte.

Spiegelbildlich sank der Anteil derer in diesen Wählergruppen, die für Hollande stimmen wollen. Von den Wählern Bayrous hatten das beispielsweise am 23. April - dem Montag nach dem ersten Wahlgang - noch 44 Prozent gesagt; vorgestern waren es nur noch 31 Prozent. Von den Wählern Le Pens wollten unmittelbar nach dem ersten Wahlgang 22 Prozent für Hollande stimmen, jetzt nur noch 10 Prozent. Die Daten der anderen Institute zeigen denselben Trend.

Damit stellen sich zwei Fragen: Erstens, wie ist diese - angesichts der Ereignisse der vergangenen Woche - paradoxe Entwicklung zu erklären? Zweitens, könnte der plötzliche Aufstieg Sarkozys diesen heute am Ende doch noch zum Sieg tragen?



Offensichtlich ist, daß alle drei Ereignisse dieser Woche - die Stellungnahme Marine Le Pens am Dienstag, die Debatte am Mittwoch, die Stellungnahme Bayrous am Donnerstag - nicht den eigentlich zu erwartenden (und in den Medien durchgängig konstatierten) Effekt hatten, Sarkozys Chancen zu mindern.

Die Stellungnahmen von Le Pen und Bayrou sind offenkundig verpufft. Warum?

Bei Le Pen vielleicht, weil ihre schroffe Ablehnung beider Kandidaten und der brachiale Stil, in dem sie das tat, manchem Wähler die Augen dafür öffnete, daß der FN unverändert eine Partei ist, die "das ganze System" bekämpft und abschaffen will. Die meisten Wähler des FN wollen das augenscheinlich nicht; jedenfalls nicht die 55 Prozent, die nach der letzten Umfrage Sarkozy wählen werden. Sie wollen eine bessere Republik, aber keine andere.

Und Bayrou? Seine Stellungnahme konnte vermutlich kaum einer seiner Wähler nachvollziehen. Wie kann man einen Kandidaten wählen, dessen Programm man für eine Katastrophe hält?

Was die Debatte am Mittwoch angeht, ist es stets schwierig, aus den Urteilen der Befragten auf deren Wahlverhalten zu schließen. Es wird ja vieles abgefragt - wer sympathischer wirkte, wer den eigenen Sorgen näher ist, wer dynamischer war, wer kompetenter wirkte usw. Was davon ist aber überhaupt für die Wahlentscheidung des Einzelnen relevant?

Jemand mag, wenn er eine solche Debatte zu werten hat, einen Kandidaten sympathischer, kompetenter, dynamischer usw. finden - und dennoch für dessen Kontrahenten stimmen, weil für diesen Wähler ein einziger Punkt entscheidend ist: Wie würde sich, sagen wir, die Wirtschaftspolitik Hollandes auf mein Geschäft auswirken? Oder: Wem traue ich es eher zu, zu erreichen, daß in meinem Wohnviertel die Kriminalität sinkt? Wer wird eher dazu beitragen, daß ich meinen Arbeitsplatz nicht verliere?

Es scheint derartige Aspekte dieser Debatte gegeben zu haben, die sich auf das Entscheidungsverhalten der Zuschauer anders auswirkten, als es in ihren Urteilen über die Leistung der beiden Kontrahenten zum Ausdruck kommt. Darüber, welche das sind, könnte man nur spekulieren. Ich möchte aber auf ein überraschendes Ergebnis aufmerksam machen, das vielleicht einen Schlüssel liefert: Nur bei den Frauen hat es seit der Debatte einen Umschwung zugunsten von Sarkozy gegeben.

Um das zu sehen, muß man die Ifop-Erhebung vom Mittwoch, dem Tag der Debatte, mit den Daten vom Freitag vergleichen. Am Mittwoch lag Hollande noch einhellig bei Männern und Frauen vorn (Männer: 54 zu 46; Frauen: 52 zu 48). Die Daten vom Freitag aber lauten: Männer 56 zu 44, Frauen 48 zu 52 - dies also zugunsten von Sarkozy!

Cherchez la femme. Was immer da passiert ist - offenbar haben Frauen (statistisch gesehen) auf das Duell anders reagiert als Männer. Vielleicht ist ein kritischer Punkt die Antwort auf die Frage, wer in der Debatte eher die Statur eines Präsidenten gezeigt habe. Hier hatte Sarkozy mit 50 zu 41 deutlich vorn gelegen.

Man könnte das so interpretieren, daß (was auch meinem Eindruck entsprechen würde) Sarkozy als derjenige wahrgenommen wurde, dem man es eher zutraut, Frankreich durch die kommende schwere Zeit zu steuern. Er versprach nicht das Blaue vom Himmel; anders als Hollande, der mit seinem (man hat es inzwischen gezählt) sechzehnmaligen "Moi, Président ..." ("Ich als Präsident ...") den Eindruck erweckte, er wollte Frankreich einem Goldenen Zeitalter entgegenführen.

Mag sein, daß Frauen so etwas eher wahrnehmen und/oder höher gewichten als Männer; dergleichen Spekulationen könnte man anstellen. Wie auch immer - jedenfalls wird Sarkozy, sollte er es doch noch schaffen, dies den Frauen zu verdanken haben.



Aber kann er es denn, wider alle Chancen, doch noch schaffen? Gegen alle (auch meine) Erwartungen hat er innerhalb einer Woche den Vorsprung Hollandes von acht bis zehn auf jetzt vier Prozentpunkte verringert; könnte er ihn nicht seit Freitag auf null reduziert und in einen hauchdünnen Vorsprung verwandelt haben? Es würde genügen, daß gut zwei Prozent der Wähler ihre Meinung ändern.

Ausgeschlossen ist das nicht. Aber es bleibt aus meiner Sicht weiter sehr, sehr unwahrscheinlich.

Die französische Tageszeitung Le Figaro hat ein hübsches kleines Programm schreiben lassen, mit dem sich das Ergebnis in Abhängigkeit davon berechnen läßt, wie sich die Wähler verhalten werden, die im ersten Wahlgang Mélenchon, Bayrou, Le Pen oder einen der kleinen Kandidaten gewählt haben.

Für die Wähler der drei Genannten liegen die aktuellen Umfragedaten vom Freitag vor; also diejenigen Daten, die den Aufwärtstrend Sarkozys zeigen. Ich habe sie einmal in das Modell eingegeben und vorausgesetzt, daß die Wähler aller kleinen Kandidaten zu Hause bleiben; ebenso diejenigen, die bereits vor zwei Wochen nicht gewählt haben. Das Ergebnis: Hollande gewinnt mit 51,88 Prozent.

Was müßte geschehen, damit sein Anteil auf 50 Prozent sinkt? Bezieht man die kleineren Kandidaten ein, dann wird Hollandes Ergebnis eher noch besser; denn nach früheren Umfragen werden 80 bis 90 Prozent der Wähler der Grünen Eva Joly jetzt Hollande wählen. Setzt man den Wert 85 ein, dann steigt der Anteil Hollandes auf 52,76 Prozent. Die ganz kleinen Kandidaten dürften daran wenig ändern, weil zwei zur Linken und zwei zur konservativen Rechten gehören.

Wenn Sarkozy es auf mindestens 50 Prozent bringen soll, dann müssen also zahlreiche Nichtwähler (einschließlich Wählern mit weißen Stimmzetteln) des ersten Wahlgangs jetzt zur Wahl gehen und überwiegend für ihn stimmen.

Zusammen waren es vor zwei Wochen 22,05 Prozent Nichtwähler. Nehmen wir an, die Hälfte davon ginge heute zur Wahl. Dann müßten von diesen Wählern genau 68 Prozent für Sarkozy stimmen, damit er exakt 50 Prozent erreicht. Kaum möglich.

Bliebe also nur noch, daß Sarkozy noch mehr Wähler von Le Pen und Bayrou auf seine Seite zieht, als das die Umfrage vom Freitag gezeigt hat.

Nehmen wir an, die Nichtwähler des 22. April gehen auch heute nicht zur Wahl. Wieviele Prozent der Wähler von Le Pen und Bayrou müßte Sarkozy dann gewinnen, um 50 Prozent zu erreichen? Beispielsweise 75 Prozent aller Wähler von Le Pen und 65 Prozent aller Wähler von Bayrou. Oder 70 Prozent von Le Pen und 75 Prozent von Bayrou. Oder 62 Prozent von Le Pen und 92 Prozent von Bayrou. Prozente, wohlgemerkt, aller Wähler dieser beider Kandidaten; von denen nach den Umfragen aber jeweils ein Drittel heute gar nicht wählen wird.

Das sind Zahlen jenseits der Realität. Man kann natürlich nicht völlig ausschließen, das alles zusammenkommt - von den bisherigen Nichtwählern geht eine große Zahl heute zur Wahl und von diesen stimmt eine starke Mehrheit für Sarkozy; und zugleich wandern noch erheblich mehr Wähler von Le Pen und von Barou ebenfalls zu Sarkozy. Möglich, aber nur eben sehr unwahrscheinlich.

Andererseits ist es gut möglich, daß der Trend der Tage vom Montag bis zum Freitag sich auch noch bis heute fortgesetzt hat. Nimmt man beispielsweise an, daß 60 Prozent der Wähler Le Pens und 40 Prozent der Wähler Bayrous Sarkozy wählen, dann würde Hollandes Vorsprung auf 51 zu 49 Prozent schrumpfen.

In dieser Gegend - ein ganz knapper Sieg Hollandes mit zwischen 50 und 52 Prozent - würde ich, sollte ich eine Prognose abgeben, das Ergebnis vermuten.

Aber vielleicht irre ich mich ja. Ein Analyse-Institut, ElectionScope, das mit speziellen statistischen Methoden arbeitet, sagt einen Sieg Sarkozys mit 50,2 Prozent vorher.­
Zettel



© Zettel. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Für Kommentare bitte hier klicken. Fotos vom Autor Guillaume Paumier unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic-Lizenz freigegeben. Beide Fotos wurden während des Wahlkampfs 2007 aufgenommen.