11. Mai 2012

Die FDP, die Wahlen in NRW, die Wechselwähler. Eine Analyse und eine Art Wahlempfehlung

Als die FDP in den ersten Monaten des Jahres auf ihrem demo­skopischen Tiefpunkt angekommen war, lag sie bei knapp drei Prozent. Das ist also die Stammwählerschaft der FDP; genauer: Diese knapp drei Prozent sind ein oberer Schätzwert; denn auch unter denen, die sich damals bei der Sonntagsfrage für die FDP entschieden, könnten ja noch Wechselwähler gewesen sein.

Es handelt sich somit um die Stammwählerschaft einer Splitterpartei. Anders als die anderen großen politischen Strömungen - die christ- und die sozialdemokratische, die ökologische, seit der Wiedervereinigung auch die kommunistische - kann der Liberalismus in Deutschland nicht auf eine nennenswerte Zahl von Wählern zurückgreifen, die sich aufgrund ihrer politischen Grundüberzeugung für die liberale Partei entscheiden; egal, ob sie mit deren aktueller Politik, ob sie mit den momentanen Akteuren an der Spitze zufrieden sind oder nicht.

Die FDP lebt von Wechselwählern. Sie braucht sie wie die Luft zum Atmen. Sie braucht die Zustimmung derer, die nicht fest an sie gebunden sind, sondern die sich vorstellen können, ebenso eine andere Partei zu wählen. Und die das oft genug auch tun; mit Ergebnissen für die FDP wie bei den jüngsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin (1,8 Prozent) und dem Landtag des Saarlands (1,2 Prozent).

Die Ergebnisse der saarländischen Wahlen machen drastisch deutlich, wie sehr die FDP von Wechselwählern abhängig ist. Dort war zuvor am 30. August 2009 gewählt worden, und damals hatte die FDP 49.064 Stimmen bekommen. Bei den vorgezogenen Neuwahlen am 25. März 2012 waren es noch 5.871.



Diese Abhängigkeit von Wechselwählern ist für die FDP eine ständige Gefahr; sie ist eine Herausforderung, und sie ist allerdings auch eine Chance.

Sie ist eine Gefahr wegen der Fünf-Prozent-Klausel im deutschen Wahlrecht. Ohne sie könnte es bei dem Auf und Ab, das mit einer solchen Wählerstruktur zwangsläufig einhergeht, auch einmal ein Abrutschen wie jetzt geben, ohne daß dies die Partei gefährden würde. Man wäre dann eben nur mit einer kleinen Zahl von Abgeordneten in den Parlamenten vertreten, bis die Wanderungsbewegung der Wechselwähler der FDP wieder bessere Zeiten beschert.

Die Fünf-Prozent-Klausel aber hat eine ähnliche Wirkung wie, sagen wir, in der Fußball-Bundesliga die Abstiegsregelung. Würden ein- für allemal dieselben Vereine in der Ersten Liga spielen, dann könnte ein Verein schon einmal Letzter werden, oder Vorletzter. Man würde sich in der nächsten Spielzeit schon wieder berappeln. Der Abstieg aber bedeutet eine sofortige massive Verschlechterung der Bedingungen - die Einnahmen sinken, Spieler wandern ab. Über eine Spielzeit können das manche Vereine noch verkraften und den sofortigen Wiederaufstieg schaffen. Gelingt er nicht, dann sind sie in Gefahr, für längere Zeit zweitklassig zu bleiben.

So ist es bei der FDP. Ist sie erst einmal aus einem Parlament geflogen, dann verschlechtern sich ihre Chancen rapide, beim Hin und Her der Wählerwanderungen wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. Eine Nicht-Parlamentspartei hat es in der Öffentlichkeit schwer; sie hat es schwer im Wahlkampf.

Bisher konnte das noch immer aufgefangen werden, weil die FDP stets im Bundestag blieb und nie aus allen Landesparlamenten flog. In den Augen der Öffentlichkeit war sie nie eine unbedeutende Splitterpartei; auch wenn ihre Wahlergebnisse einmal in dieser Zone lagen. Jetzt aber besteht erstmals in der Geschichte der FDP die Gefahr, daß sie unbedeutend wird. Nicht wenige wünschen sich das und erwarten es auch (siehe Die Methode "Haltet den Dieb!" und die Notwendigkeit einer liberalen Partei in Deutschland; ZR vom 6. 1. 2012).



Aus allen Landesparlamenten verschwinden wird die FDP vorerst nicht. Das steht seit den Wahlen in Schleswig-Holstein vor einer Woche fest. Dort hat der Landesverband Wolfgang Kubickis einen Überraschungserfolg errungen. Für sich genommen besagt das aber noch wenig. Es kann eine Eintagsfliege sein; ein Stück Nordlichter-Folklore.

Wenn die FDP es am Sonntag auch in NRW erneut in den Landtag schafft, dann hat das eine andere Qualität. Einmal ist keinmal, sagt der Volksmund. Aber zwei Erfolge so kurz hintereinander; noch dazu einer davon im bevölkerungs­reichsten Bundesland - das zählt.

Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Die Rück­kopp­lungs­prozesse, die seit den Bundestagswahlen 2009 zu dem beispiellosen Niedergang der FDP geführt haben, können sich dann auch wieder zu ihren Gunsten auswirken (siehe zu solchen Rückkopplungsschleifen Gingrichs Aufstieg, Wulffs Affäre, der Niedergang der FDP - drei Beispiele für rückgekoppelte Prozesse. Was folgt für das Los der FDP? Gutes! ; ZR vom 26. 1. 2012).

Eine Partei mit einer kleinen Stammwählerschaft, aber einem vergleichsweise großen Potential an Wechselwählern kann so schnell wieder nach oben kommen, wie sie abgerutscht war. Das ist die Herausforderung und die Chance; das Gegenstück zu der Gefahr, in der sich die FDP befindet. Es ist die andere Seite der Medaille.

Es ist deshalb für das Schicksal der FDP von immenser Bedeutung, ob sie am Sonntag in NRW die Fünf-Prozent-Hürde überspringt. Scheitert sie, dann wird der Erfolg vor einer Woche in Schleswig-Holstein als eine regionale Marginalie wahrgenommen werden. Schafft sie es, dann gibt es einen Trend. Auch wenn zwischen diesen beiden Fällen möglicherweise nur ein paar Tausend Wählerstimmen liegen - so funktioniert nun einmal die Mediendemokratie.

Ich gehöre nicht zu den Wechselwählern, sondern zu der kleinen Schar derer, die aus politischer Grundüberzeugung die FDP wählen. Aber wenn ich mich in die Lage eines Wechselwählers versetze, dann würde ich als ein solcher diesmal der FDP meine Stimme geben. Aus diesem Grund:

Es gibt, grob gesprochen, zwei Arten von Wechselwählern: Diejenigen, die gewissermaßen nach Bauchgefühl wechseln - je nachdem, ob ihnen einen Spitzenkandidat sympathisch ist oder nicht, ob sie sich gerade über eine Entscheidung der betreffenden Partei geärgert oder gefreut haben. Und es gibt die rational abwägenden, die taktisch entscheidenden Wechselwähler. Zu ihnen dürfte die Mehrzahl derer gehören, die zwischen der FDP und einer anderen Partei wechseln.

Wer taktisch wählt und rational entscheidet, der muß, soweit ich sehe, diesmal zu dem Ergebnis kommen, daß es vernünftig ist, die FDP zu wählen.

Nicht aus Sympathie für den Spitzenkandidaten Christian Lindner und seine politische Linie (die beispielsweise mir durchaus abgeht). Auch nicht in der Erwartung, damit wieder einer schwarzgelben Regierung an die Macht zu verhelfen (das ist illusorisch). Sondern schlicht deshalb, weil jemand, der gern zwischen der FDP und anderen Parteien seine Auswahl treffen möchte, zuvorderst daran interessiert sein muß, daß ihm diese Auswahlmöglichkeit - mit einer sinnvollen Verwendung seiner Stimme - auch künftig bleibt.

Ein Wechselwähler, der diesmal die FDP nicht wählt, käme mir vor wie ein Gourmet, der dem Küchenchef seines Stammlokals empfiehlt, einen Teil der Gerichte, zwischen denen er gern seine Auswahl trifft, von der Speisekarte zu streichen.­
Zettel



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