2. Mai 2012

Frankreichs Wahljahr 2012 (6): Heute Abend findet die "große Debatte" statt. Zwischen dem amtierenden und dem künftigen Präsidenten












Heute Abend um 21.00 Uhr findet sie statt, die "große Debatte" zwischen dem amtierenden französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und dem künftigen Präsidenten François Hollande.

Ja, dem künftigen Präsidenten. Denn es gibt jetzt nur noch zwei Szenarien, unter denen ein Wahlsieg Sarkozys sich einstellen könnte:

Entweder ein GAU der Demoskopie, wie man ihn noch nicht gesehen hat, seit George Gallup 1936 mit der politischen Meinungsbefragung auf wissenschaftlicher Grundlage begann. Oder es müßte bis zum Sonntag etwas Sensationelles passieren - ein schwerer Anschlag in Frankreich, die Aufdeckung eines unerhörten Skandals in Hollandes Umfeld; dergleichen. Oder vielleicht - um auch das Abstruse zu nennen - dies, daß Hollande in der heutigen Debatte wirr redet oder Sarkozy an die Gurgel will.

Das wird wohl nicht Realität werden; nicht das eine und nicht das andere. Wenn ein Politiker skandalfest sein dürfte, dann ist das der biedere, ehrpusselige François Hollande; sozusagen das Gegenmodell zu seinem Parteifreund Dominique Strauss-Kahn. Ein Anschlag ist zwar nie ausgeschlossen, aber anders als in Madrid im März 2004 würde er nicht dem linken Kandidaten nutzen, ist also sehr unwahrscheinlich.

Was die Demoskopie angeht, so ist das Bild eindeutig: Die Umfragedaten lieferten, richtig aggregiert, für den ersten Wahlgang eine sehr genaue Prognose (siehe Frankreichs Wahljahr 2012 (4): Der Wahlabend der ersten Runde; ZR vom 23. 4. 2012). Das wird auch beim zweiten Wahlgang so sein (wenn eben nicht in letzter Minute ein sensationelles Ereignis passiert).

An der homogenen Datenlage, die ich am Sonntag genannt habe, hat sich substantiell nichts geändert (Frankreichs Wahljahr 2012 (5): Sarkozys Aussichten sind dahin; ZR vom 29. 4. 2012). Es sind jetzt lediglich zu den Umfragen, die Hollande mit zwischen 55 zu 45 Prozent und 54 zu 46 Prozent vorn sahen, drei mit den Werten 53 zu 47 Prozent, 54 zu 46 Prozent und 53,5 zu 46,5 Prozent hinzugetreten.

Das könnte eine minimale Verringerung des Vorsprungs von Hollande andeuten (natürlich aber auch eine Zufalls­schwankung sein). Wie wenig das jedenfalls für die Frage des Siegs bedeutet, wird klar, wenn man sich die Größen­ordnungen vergegenwärtigt:

Hier können Sie sich die Daten der acht Institute von Anfang Februar bis heute ansehen. In diesem Zeitraum hat sich der Vorsprung Hollandes mit kleinen Aufs und Abs verringert. Sein Wert sank innerhalb dieser zwölf Wochen von ungefähr 58 Prozent auf jetzt ungefähr 54 Prozent. Um denselben Betrag müßte er innerhalb der kommenden vier Tage fallen, damit es für Sarkozy noch ein Sieg wird!



Ja, aber kann denn die heutige Debatte nicht alles umwerfen? Hat es nicht in der Geschichte von Wahlen schon öfter ein plötzliches Umschwenken der Wähler in letzter Minute gegeben?

Es gibt einen berühmten Fall, den Sieg von Harry S. Truman über den Republikaner Thomas E. Dewey im Jahr 1948. Die Demoskopen hatten damals, wie fast alle politischen Beobachter, einen sicheren Sieg Deweys vorhergesagt. Aber damals steckte die Demoskopie methodisch noch in den Kinderschuhen; in den Tagen vor der Wahl waren überhaupt keine Daten mehr erhoben worden.

Daß damals Truman gegen Dewey aufholte, hatte freilich nicht an einem Rededuell gelegen. Die erste TV-Debatte zwischen zwei Präsidentschaftskandidaten fand erst 1960 zwischen Richard M. Nixon und John F. Kennedy statt. Ihr (dem ersten von vier Duellen zwischen diesen beiden Kandidaten) wurde große Bedeutung für den (äußerst knappen) Wahlausgang beigemessen - ein Lieblingsthema der Politologen, die sich mit Wahlforschung befassen.

Nixon war schlecht vorbereitet aufgetreten; er hatte bis fast zur letzten Minute Wahlkampf gemacht und war kurz zuvor wegen einer Operation zwei Wochen im Krankenhaus gewesen. Er erschien in einem zerknitterten Hemd, wirkte bleich und müde, ja sogar unrasiert. Ein Makeup vor der Sendung hatte er abgelehnt.

Von den 70 Millionen der Amerikaner, die diese Debatte im TV verfolgt hatten, sah eine große Mehrheit Kennedy als den Sieger. Diejenigen hingegen, die sie im Radio gehört hatten, entschieden sich mehrheitlich für Nixon.

Seither hat es keinen dokumentierten Fall mehr gegeben, in dem eine einzige Debatte kurz vor einer Wahl einen starken, langanhaltenden Trend noch hätte drehen können. Alle Kandidaten bereiten sich inzwischen sorgfältig vor; oft üben sie sogar mit einem "Sparringpartner", der das voraus­sicht­liche Verhalten des Gegners simuliert. Zu jedem Thema haben sie ihre Argumente abrufbereit im Kopf. Rhetorisch geübt sind heute ohnehin alle Spitzenpolitiker.

Die Folge ist, daß in der Regel die Zuschauer denjenigen als den "Sieger" wahrnehmen, den sie selbst bevorzugen. Beim letzten deutschen Duell dieser Art - am 13. September 2009 zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier - sahen von allen Zuschauern etwa gleich viele (je etwas mehr als 40 Prozent) die Kanzlerin und den Herausforderer als den Sieger. Aber, schrieb Infratest dimap:
Entscheidender für die Beurteilung der beiden Kandidaten war allerdings die parteipolitische Orientierung der Zuschauer. Unionsanhänger sahen am Ende Merkel klar vorne, SPD-Wähler dagegen Steinmeier. Entsprechend fühlten sie sich durch den Diskussionsverlauf in ihrer Wahlentscheidung bestärkt
Wie sehr sie sich allesamt bestärkt sahen, können Sie sich in dieser Grafik anschauen.

So dürfte es auch heute werden. In Frankreich finden zwar solche Debatten seit 1974 statt; sie hatten aber kaum je einen meßbaren Einfluß auf das Ergebnis.

Das war noch nicht einmal vor fünf Jahren so, als Ségolène Royal deutlich weniger kompetent wirkte als Sarkozy (Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Wer hat das Duell gewonnen?; ZR vom 2. 5. 2007). Zwischen Hollande und Sarkozy wird diesmal der rhetorische und der Kompetenz-Unterschied geringer sein. Auch Hollande hat seine Daten und Fakten im Kopf und vermag mit der Klarheit und Stringenz zu argumentieren, die seine damalige Lebensgefährtin vor fünf Jahren oft hatte vermissen lassen.



Dennoch wird das eine spannende Sendung werden. Zum einen eben deshalb, weil die beiden Duellanten einander intellektuell und rhetorisch gewachsen sind; auf hohem Niveau. Zweitens kann man - so ist zu vermuten - heute Abend einen besseren Eindruck von Frankreichs künftigem Präsidenten bekommen als aus seinen Reden und Interviews.

In Deutschland sind über Astra zwei Sender zu empfangen, die das Duell live übertragen werden: France24 und TV5 Monde (vermutlich auch TV5 Europe).­
Zettel



© Zettel. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Für Kommentare bitte hier klicken. Fotos vom Autor Guillaume Paumier unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic-Lizenz freigegeben. Beide Fotos wurden während des Wahlkampfs 2007 aufgenommen.