Aktuell können Sie in den deutschen Medien zwei Äußerungen über die deutschen Medien lesen; geschrieben von einem der einflußreichsten deutschen Journalisten, dem "Zeit"-Chef Giovanni di Lorenzo, und einer der besten deutschen politischen Publizistinnen, der Liberalen Cora Stephan. Zwei, von denen man nicht unbedingt übereinstimmende Meinungen erwarten würde.
Di Lorenzo sagte in einem in der aktuellen "Zeit" (22/2012 vom 24. 5. 2012) abgedruckten Gespräch mit Frank Schirrmacher, moderiert von Katrin Göring-Eckardt:
Als ich damals diesen Artikel schrieb, war ich optimistisch, daß die Epoche des Mehltaus sich ihren Ende näherte. Der Anlaß war die gewaltige Zustimmung in der Bevölkerung zu Thilo Sarrazin gewesen; gegen die nahezu geschlossene Front der Medien.
Heute bin ich nicht mehr ganz so zuversichtlich; aber auch nicht pessimistisch. Denn was seither deutlicher geworden ist als damals, das ist eine, sagen wir, Verflüssigung der politischen Debatte. Liquid feedback, flüssige Rückmeldung - ein Modewort inzwischen, seit die Piratenpartei mit ihrer gleichnamigen Abstimmungs-Software den Gedanken popularisiert hat, man könne und solle politische Entscheidungen in einer Art permanentem Abstimmungsverfahren treffen, in das sich jeder einklinken kann. So soll Schwarmintelligenz in die Politik hineinwirken.
Ich halte davon gar nichts; aber dazu gleich mehr. Zunächst einmal: Eine Art der politischen Verflüssigung ist auch das, was man beim Wahlverhalten manchmal Volatilität nennt: das schnelle Hin- und Herschwenken der Wähler, wie es zum Beispiel ausgeprägt bei den Vorwahlen der Republikanischen Partei in den USA zu sehen gewesen ist (Gingrichs Triumph. "Noch nie gab es ein solches Auf und Ab"; ZR vom 22. 1. 2012).
Wir können Ähnliches inzwischen auch in Deutschland beobachten. Die Wählergunst schwappt mal hierhin, mal dorthin.
Sehen Sie sich einmal diese Grafik bei "Sonntagsfrage aktuell" an. Sie zeigt die Umfragewerte der Parteien seit den Bundestagswahlen vom 27. 9. 2009. In diesen noch nicht einmal drei Jahren lagen die Grünen schon bei knapp 10 Prozent, aber kurzfristig auch bei 25 Prozent; die Liberalen sanken zeitweise auf ein Fünftel ihres Wahlergebnisses von 2009; die Kommunisten halbierten ihren Wert. Auch bei den großen Parteien gab es kräftige Bewegungen; vom steilen Aufstieg der "Piraten" gar nicht zu reden.
Früher einmal gab es die kleine, wenn auch oft wahlentscheidende Gruppe der Wechselwähler. Heute besteht ein großer Teil der Wählerschaft aus solchen Wechselwählern; bei der FDP beispielsweise alle bis auf einen Kern von vielleicht zwei Prozent (Die FDP, die Wahlen in NRW, die Wechselwähler; ZR vom 11. 5. 2012).
Einst hatten die Parteien ihre "Milieus", ihre feste Gefolgschaft. Heute sieht der Wähler sie als Anbieter, zwischen denen er sich als Konsument entscheidet; je nachdem, welches Angebot ihm gerade zusagt.
Das ist die eine Seite: Die "Parteienbindung" hat sich gelockert. Interessanter im jetzigen Kontext ist die Frage, welche anderen Faktoren denn an ihre Stelle getreten sind.
Warum wenden sich die Wähler in Scharen plötzlich einer Partei zu, wie vor einem Jahr den "Grünen" und jetzt den "Piraten"; warum kehren sie einer Partei wie der FDP, der sie gerade erst ihr bestes Wahlergebnis aller Zeiten beschert hatten, abrupt wieder den Rücken? Welche Faktoren sind da am Werk?
Damit nähern wir uns dem, was di Lorenzo "Gleichklang" nennt; dem Liquid Feedback auch, das ja längst am Werk ist, nicht nur bei den Piraten.
Eine politische Meinung "hatte" man früher, heute "bildet man sie sich". Mal so, mal anders. Als Resultante der Kräfte, die gerade wirken - dessen, was in den Medien berichtet und kommentiert wird, was getwittert wird und im Facebook geschrieben; natürlich auch dessen, was als Reaktion darauf im persönlichen Gespräch die Arbeitskollegen sagen, die Bekannten.
So zahlreich diese Informationsschnipsel sind - just wegen ihrer großen Zahl führen sie in der Regel zu übereinstimmenden Ergebnissen. Der schnelle Austausch zahlreicher Informationen hat zur Folge, daß sich das Abweichende statistisch nivelliert; übrig bleibt der Einheitsbrei, der Gleichklang.
Eine wesentliche Rolle spielt dabei Rückkopplung. Ein Ereignis wie der nukleare Unfall von Fukushima, das Angst auslöst, hatte natürlich auch früher schon seine politische Wirkung. Heute aber wird sie dadurch potenziert, daß die Medien auf diese Angst spekulieren, sie also schüren, um Auflage zu machen und Klicks zu ergattern; daß Politiker diese mediale Reaktion erwarten und sich auf sie einstellen; daß die Stellungnahmen der Politiker wiederum auf die Bürger einwirken; daß das alles durch Twitter und Facebook, auch durch Blogs und Foren in seiner Wirkung weiter verstärkt wird.
Ich habe zur Zeit des Unfalls von Fukushima versucht, sachlich über das Ausmaß der Schäden und die zu erwartenden Gefährdungen zu berichten (zusammenfassend siehe dazu den Rückblick nach einem Jahr: Die Katastrophe des 11. März 2011 in Japan. Eine vorläufige Bilanz; ZR vom 11. 3. 2012). Das Ausmaß an emotionaler Ablehnung, an unsachlicher Kritik, das ich damit (neben zustimmenden Kommentaren) auslöste, hat mich verblüfft. Damals entstand bei mir der Eindruck einer kollektiven Besoffenheit; das Wort verwende ich seither gern immer einmal wieder.
Viele, die von dieser Deutschland einigenden Überzeugung ergriffen waren, in Fukushima sei eine entsetzliche Katastrophe passiert, sahen in sachlichen Berichten wie denjenigen in ZR offenkundig Ketzerei am Werk. Ihre Schwarmdummheit verlangte es, daß alle in dieselbe Richtung fliegen. Wie die Bergfinken, die Sie auf dem Titelbild sehen.
Ja, Schwarmdummheit. Das Wort von der Schwarmintelligenz erfreut sich inzwischen wachsender Beliebtheit; die Idee des Liquid Feedback basiert ja darauf: Auf der Vorstellung, daß aus zahlreichen Beiträgen Einzelner - Gedankenschnipseln, Verhaltensschnipseln - etwas hervorgehe, das besser ist, intelligenter vor allem, als jeder dieser einzelnen Beiträge. Robotiker haben das einst analysiert, wenn miteinander kommunizierende Agenten in ihrem Gesamtverhalten mehr Intelligenz zeigten, als jedem einzelnen mitgegeben war.
Das kann so sein, und in der Künstlichen Intelligenz ist es natürlich das Ziel. Aber es ist ein naiver Irrglaube, kollektives Verhalten sei als solches intelligenter als das des Einzelnen. Meist ist es dümmer. Gustave Le Bon hat das schon im 19. Jahrhundert in seiner Psychologie des foules beschrieben, der Psychologie der Massen.
Schwarmverhalten bedeutet zunächst einmal nur Homogenität des Verhaltens. Man kann das schön an einem Schwarm Strandläufer sehen: Wenn eine Welle verebbt ist, laufen sie kollektiv nach vorn, um Nahrhaftes aus dem Sand zu ziehen. Rollt die nächste Welle heran, dann kommt der Punkt, an dem sie kehrtmachen und zurücklaufen. Sie tun das (fast) stets kollektiv. Wie auf ein Kommando. Aber keiner gibt ein Kommando. Mit herannahender Welle wächst die Bereitschaft zu dem Verhalten "Kehrtmachen", wird zwischen den Individuen kommuniziert und führt, wenn eine Schwelle erreicht ist, zu einer einheitlichen Reaktion.
Wenn man das beobachtet, dann findet man auch hier manchmal Ketzer. Einzelne Vögel, die nicht mitmachen; die beispielsweise stehenbleiben und weiter gründeln, während der Schwarm schon auf dem Rückzug ist. Ich habe auch schon beobachtet, wie ein Schwarm Strandläufer sich gewissermaßen in zwei Fraktionen teilte: Die einen ziehen sich früh zurück, die anderen halten ein wenig länger durch. Es ist ein Optimierungsproblem: Wer länger wartet, kann mehr picken, ist aber auch in größerer Gefahr, von der Welle erfaßt zu werden, bevor er sich in Sicherheit bringen kann.
Nein, kein "Biologismus". Nur eine Parallele: Die wechselseitige Kommunikation, die zu Schwarmverhalten führt, muß nicht unbedingt in einem durchweg einheitlichen Verhalten resultieren. Es können sich auch Teilschwärme herausbilden; mit unterschiedlichen Verhaltensmustern.
Die Analogie liegt auf der Hand: Ein gewisser "Gleichklang" ist in unserer Kommunikationsgesellschaft unvermeidlich. Aber eine Einheitsmeinung muß daraus nicht folgen. In den USA beispielsweise sind dieselben Mechanismen am Werk. Aber das Ergebnis besteht in - um in der Analogie zu bleiben - zwei großen "Schwärmen" - einem konservativem und einem linken.
Politische Ketzer gibt es deshalb in den USA kaum. Wer radikal von der Weltsicht Obamas abweicht, der ist deshalb kein Ketzer, sondern ein Konservativer. Man bekämpft sich politisch, aber der Andersdenkende wird nicht exorziert, nicht - so, wie es Cora Stephan in dem Zitat beschreibt - gewissermaßen aus der Gemeinschaft ausgestoßen.
Daß es dies bei uns gibt, ist ein spezifisch deutsches Phänomen. Es liegt daran, daß wir keine starke liberalkonservative Stömung haben, wie es diese überall in funktionierenden Demokratien gibt.
Es liegt an der international einmaligen Absurdität, daß in Deutschland "rechts" ständig mit "rechtsextrem" gleichgesetzt wird. Das Ansinnen, daß in den USA, in Frankreich oder in England der Staat - der oft genug eine rechte Regierung hat - Geld für einen "Kampf gegen Rechts" bereitstellen soll, würde man dort als einen Witz betrachten.
Giovanni di Lorenzo beklagt sich in dem Zitat über einen wachsenden Konformitätsdruck. Warum leistet er nicht seinen Beitrag dagegen, indem er als Chefredakteur in die leitenden Positionen der "Zeit" liberale und konservative Journalisten beruft, bis dort wieder die Meinungsvielfalt herrscht wie einst, zur Zeit von Gerd Bucerius und der "Gräfin", Marion Dönhoff?
Di Lorenzo sagte in einem in der aktuellen "Zeit" (22/2012 vom 24. 5. 2012) abgedruckten Gespräch mit Frank Schirrmacher, moderiert von Katrin Göring-Eckardt:
Mir macht die Frage, wie heute öffentliche Diskurse organisiert werden, Sorgen. Ich beobachte in den deutschen Medien seit einiger Zeit einen besorgniserregenden Hang zum Gleichklang. Das Merkwürdige dabei ist, dass der Konformitätsdruck nicht von bösen Regierungen oder finsteren Wirtschaftsmächten ausgeübt wird. Vielmehr kommt er aus unserer eigenen Mitte, er geht von den Journalisten, Lesern und Zuschauern aus.Und Cora Stephan schrieb gestern in "Welt-Online":
Verblüffend, wie viele der Vokabeln, mit denen heute die Meinungsschlachten geschlagen werden, an Ketzerverfolgung und Religionskrieg erinnern (...) Das ist dann kein Streit mehr. Das drückt Vernichtungswillen aus. Es unterstellt, der Gegner habe weder das Recht noch ein Argument auf seiner Seite. Er hat den falschen Glauben und selbst konvertieren hilft ihm nicht mehr.Eine treffende Bestandsaufnahme, wie Sie sie auch in diesem Blog immer wieder lesen konnten; ich verwende dafür gern die Metapher des Mehltaus, der sich über unser Land gelegt hat (zum Beispiel Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010).
Als ich damals diesen Artikel schrieb, war ich optimistisch, daß die Epoche des Mehltaus sich ihren Ende näherte. Der Anlaß war die gewaltige Zustimmung in der Bevölkerung zu Thilo Sarrazin gewesen; gegen die nahezu geschlossene Front der Medien.
Heute bin ich nicht mehr ganz so zuversichtlich; aber auch nicht pessimistisch. Denn was seither deutlicher geworden ist als damals, das ist eine, sagen wir, Verflüssigung der politischen Debatte. Liquid feedback, flüssige Rückmeldung - ein Modewort inzwischen, seit die Piratenpartei mit ihrer gleichnamigen Abstimmungs-Software den Gedanken popularisiert hat, man könne und solle politische Entscheidungen in einer Art permanentem Abstimmungsverfahren treffen, in das sich jeder einklinken kann. So soll Schwarmintelligenz in die Politik hineinwirken.
Ich halte davon gar nichts; aber dazu gleich mehr. Zunächst einmal: Eine Art der politischen Verflüssigung ist auch das, was man beim Wahlverhalten manchmal Volatilität nennt: das schnelle Hin- und Herschwenken der Wähler, wie es zum Beispiel ausgeprägt bei den Vorwahlen der Republikanischen Partei in den USA zu sehen gewesen ist (Gingrichs Triumph. "Noch nie gab es ein solches Auf und Ab"; ZR vom 22. 1. 2012).
Wir können Ähnliches inzwischen auch in Deutschland beobachten. Die Wählergunst schwappt mal hierhin, mal dorthin.
Sehen Sie sich einmal diese Grafik bei "Sonntagsfrage aktuell" an. Sie zeigt die Umfragewerte der Parteien seit den Bundestagswahlen vom 27. 9. 2009. In diesen noch nicht einmal drei Jahren lagen die Grünen schon bei knapp 10 Prozent, aber kurzfristig auch bei 25 Prozent; die Liberalen sanken zeitweise auf ein Fünftel ihres Wahlergebnisses von 2009; die Kommunisten halbierten ihren Wert. Auch bei den großen Parteien gab es kräftige Bewegungen; vom steilen Aufstieg der "Piraten" gar nicht zu reden.
Früher einmal gab es die kleine, wenn auch oft wahlentscheidende Gruppe der Wechselwähler. Heute besteht ein großer Teil der Wählerschaft aus solchen Wechselwählern; bei der FDP beispielsweise alle bis auf einen Kern von vielleicht zwei Prozent (Die FDP, die Wahlen in NRW, die Wechselwähler; ZR vom 11. 5. 2012).
Einst hatten die Parteien ihre "Milieus", ihre feste Gefolgschaft. Heute sieht der Wähler sie als Anbieter, zwischen denen er sich als Konsument entscheidet; je nachdem, welches Angebot ihm gerade zusagt.
Das ist die eine Seite: Die "Parteienbindung" hat sich gelockert. Interessanter im jetzigen Kontext ist die Frage, welche anderen Faktoren denn an ihre Stelle getreten sind.
Warum wenden sich die Wähler in Scharen plötzlich einer Partei zu, wie vor einem Jahr den "Grünen" und jetzt den "Piraten"; warum kehren sie einer Partei wie der FDP, der sie gerade erst ihr bestes Wahlergebnis aller Zeiten beschert hatten, abrupt wieder den Rücken? Welche Faktoren sind da am Werk?
Damit nähern wir uns dem, was di Lorenzo "Gleichklang" nennt; dem Liquid Feedback auch, das ja längst am Werk ist, nicht nur bei den Piraten.
Eine politische Meinung "hatte" man früher, heute "bildet man sie sich". Mal so, mal anders. Als Resultante der Kräfte, die gerade wirken - dessen, was in den Medien berichtet und kommentiert wird, was getwittert wird und im Facebook geschrieben; natürlich auch dessen, was als Reaktion darauf im persönlichen Gespräch die Arbeitskollegen sagen, die Bekannten.
So zahlreich diese Informationsschnipsel sind - just wegen ihrer großen Zahl führen sie in der Regel zu übereinstimmenden Ergebnissen. Der schnelle Austausch zahlreicher Informationen hat zur Folge, daß sich das Abweichende statistisch nivelliert; übrig bleibt der Einheitsbrei, der Gleichklang.
Eine wesentliche Rolle spielt dabei Rückkopplung. Ein Ereignis wie der nukleare Unfall von Fukushima, das Angst auslöst, hatte natürlich auch früher schon seine politische Wirkung. Heute aber wird sie dadurch potenziert, daß die Medien auf diese Angst spekulieren, sie also schüren, um Auflage zu machen und Klicks zu ergattern; daß Politiker diese mediale Reaktion erwarten und sich auf sie einstellen; daß die Stellungnahmen der Politiker wiederum auf die Bürger einwirken; daß das alles durch Twitter und Facebook, auch durch Blogs und Foren in seiner Wirkung weiter verstärkt wird.
Ich habe zur Zeit des Unfalls von Fukushima versucht, sachlich über das Ausmaß der Schäden und die zu erwartenden Gefährdungen zu berichten (zusammenfassend siehe dazu den Rückblick nach einem Jahr: Die Katastrophe des 11. März 2011 in Japan. Eine vorläufige Bilanz; ZR vom 11. 3. 2012). Das Ausmaß an emotionaler Ablehnung, an unsachlicher Kritik, das ich damit (neben zustimmenden Kommentaren) auslöste, hat mich verblüfft. Damals entstand bei mir der Eindruck einer kollektiven Besoffenheit; das Wort verwende ich seither gern immer einmal wieder.
Viele, die von dieser Deutschland einigenden Überzeugung ergriffen waren, in Fukushima sei eine entsetzliche Katastrophe passiert, sahen in sachlichen Berichten wie denjenigen in ZR offenkundig Ketzerei am Werk. Ihre Schwarmdummheit verlangte es, daß alle in dieselbe Richtung fliegen. Wie die Bergfinken, die Sie auf dem Titelbild sehen.
Ja, Schwarmdummheit. Das Wort von der Schwarmintelligenz erfreut sich inzwischen wachsender Beliebtheit; die Idee des Liquid Feedback basiert ja darauf: Auf der Vorstellung, daß aus zahlreichen Beiträgen Einzelner - Gedankenschnipseln, Verhaltensschnipseln - etwas hervorgehe, das besser ist, intelligenter vor allem, als jeder dieser einzelnen Beiträge. Robotiker haben das einst analysiert, wenn miteinander kommunizierende Agenten in ihrem Gesamtverhalten mehr Intelligenz zeigten, als jedem einzelnen mitgegeben war.
Das kann so sein, und in der Künstlichen Intelligenz ist es natürlich das Ziel. Aber es ist ein naiver Irrglaube, kollektives Verhalten sei als solches intelligenter als das des Einzelnen. Meist ist es dümmer. Gustave Le Bon hat das schon im 19. Jahrhundert in seiner Psychologie des foules beschrieben, der Psychologie der Massen.
Schwarmverhalten bedeutet zunächst einmal nur Homogenität des Verhaltens. Man kann das schön an einem Schwarm Strandläufer sehen: Wenn eine Welle verebbt ist, laufen sie kollektiv nach vorn, um Nahrhaftes aus dem Sand zu ziehen. Rollt die nächste Welle heran, dann kommt der Punkt, an dem sie kehrtmachen und zurücklaufen. Sie tun das (fast) stets kollektiv. Wie auf ein Kommando. Aber keiner gibt ein Kommando. Mit herannahender Welle wächst die Bereitschaft zu dem Verhalten "Kehrtmachen", wird zwischen den Individuen kommuniziert und führt, wenn eine Schwelle erreicht ist, zu einer einheitlichen Reaktion.
Wenn man das beobachtet, dann findet man auch hier manchmal Ketzer. Einzelne Vögel, die nicht mitmachen; die beispielsweise stehenbleiben und weiter gründeln, während der Schwarm schon auf dem Rückzug ist. Ich habe auch schon beobachtet, wie ein Schwarm Strandläufer sich gewissermaßen in zwei Fraktionen teilte: Die einen ziehen sich früh zurück, die anderen halten ein wenig länger durch. Es ist ein Optimierungsproblem: Wer länger wartet, kann mehr picken, ist aber auch in größerer Gefahr, von der Welle erfaßt zu werden, bevor er sich in Sicherheit bringen kann.
Nein, kein "Biologismus". Nur eine Parallele: Die wechselseitige Kommunikation, die zu Schwarmverhalten führt, muß nicht unbedingt in einem durchweg einheitlichen Verhalten resultieren. Es können sich auch Teilschwärme herausbilden; mit unterschiedlichen Verhaltensmustern.
Die Analogie liegt auf der Hand: Ein gewisser "Gleichklang" ist in unserer Kommunikationsgesellschaft unvermeidlich. Aber eine Einheitsmeinung muß daraus nicht folgen. In den USA beispielsweise sind dieselben Mechanismen am Werk. Aber das Ergebnis besteht in - um in der Analogie zu bleiben - zwei großen "Schwärmen" - einem konservativem und einem linken.
Politische Ketzer gibt es deshalb in den USA kaum. Wer radikal von der Weltsicht Obamas abweicht, der ist deshalb kein Ketzer, sondern ein Konservativer. Man bekämpft sich politisch, aber der Andersdenkende wird nicht exorziert, nicht - so, wie es Cora Stephan in dem Zitat beschreibt - gewissermaßen aus der Gemeinschaft ausgestoßen.
Daß es dies bei uns gibt, ist ein spezifisch deutsches Phänomen. Es liegt daran, daß wir keine starke liberalkonservative Stömung haben, wie es diese überall in funktionierenden Demokratien gibt.
Es liegt an der international einmaligen Absurdität, daß in Deutschland "rechts" ständig mit "rechtsextrem" gleichgesetzt wird. Das Ansinnen, daß in den USA, in Frankreich oder in England der Staat - der oft genug eine rechte Regierung hat - Geld für einen "Kampf gegen Rechts" bereitstellen soll, würde man dort als einen Witz betrachten.
Giovanni di Lorenzo beklagt sich in dem Zitat über einen wachsenden Konformitätsdruck. Warum leistet er nicht seinen Beitrag dagegen, indem er als Chefredakteur in die leitenden Positionen der "Zeit" liberale und konservative Journalisten beruft, bis dort wieder die Meinungsvielfalt herrscht wie einst, zur Zeit von Gerd Bucerius und der "Gräfin", Marion Dönhoff?
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Ein Schwarm Bergfinken im Januar 2009 in der Steiermark. Von den Autoren Marion Schneider & Christoph Aistleitner als gemeinfrei veröffentlicht.